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04 2005

Prekarnost. Russland im Zeitalter der Unsicherheit

Oleg Kireev

Übersetzt von Therese Kaufmann

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precariat

Das neue Jahr begann in Russland mit Massenprotesten, die unvergleichlich stärker waren als alles, was wir seit 1993 gesehen hatten. Ein unmittelbarer Grund dafür war eine Entscheidung der Duma im vergangenen Sommer. Diese Entscheidung betraf das, was als "Monetarisierung von Vergünstigungen" (bzw. von Sozialleistungen) bezeichnet wurde, d.h. die Umwandlung von Unterstützungsleistungen wie freien Medikamenten oder im öffentlichen Verkehr in Geld. In der ehemaligen Sowjetordnung hatten viele soziale Gruppen bestimmte Vergünstigungen, aber nun ging es vor allem um die PensionistInnen, also einer im extremem Ausmaß vernachlässigten und von der Gesellschaft ausgeschlossenen Gruppe. Der Trick mit den Vergünstigungen bestand darin, dass diese monetarisiert wurden (ein Wort, das alle seither gelernt haben), also in einer Weise in Geld umgewandelt wurden, die einer Abschaffung sehr nahe kam. Zum Beispiel wurde ein Gratis-Medikament mit ungefähr 1.000 Rubel (ca. 28 Euro) monatlich gleichgesetzt. Als das Gesetz beschlossen wurde, gab es bereits einige Proteste. Solange es aber nur auf dem Papier existierte, warteten die Leute ab. Aber als ab dem 1. Jänner von älteren Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln Bezahlung verlangt wurde, wuchs der Zorn. Außerdem stand im Kleingedruckten des Gesetzes, dass die Lokalverwaltungen für die Zahlungen verantwortlich waren, was die totale Verunmöglichung bedeutet, denn bis auf wenige Ausnahmen (wie Moskau) sind die lokalen Verwaltungen vollkommen verarmt. In der Realität bedeutete dies alles: erstens die Abschaffung der Vergünstigungen für das ganze Land, und zweitens die Bewahrung einiger Restprivilegien für Moskau, die reichste und explosivste Stadt, was eine Verschärfung der Kluft zwischen Hauptstadt und Provinz bedeutet. Die Erniedrigung wird noch dadurch verschärft, dass viele der PensionistInnen VeteranInnen des Zweiten Weltkriegs in ihren letzten Lebensjahren sind. Andererseits sind diese PensionistInnen eher sozial engagiert, weil sie sich den gesellschaftlich konstruktiven Geist des Sozialismus  erhalten haben (was auch immer davon zu denken ist), und das wurde durch ihre Teilnahme an der Roten Opposition oft unter Beweis gestellt.

Diese zwei Eigenschaften ergaben eine explosive Synthese. Am 11. Jänner begann eine Menge alter Menschen in den entfernten Moskauer Vororten mit der Blockade einer in die Hauptstraße mündenden Autobahn. Die Miliz traute sich nicht, sie zu aggressiv anzugreifen, und eine Kettenreaktion wurde losgetreten. Auf der Website http://www.skaji.net/ ("Sag Nein!") sieht man eine Landkarte von Russland mit Fähnchen, die die Vielzahl von Punkten der Proteste gegen die "Monetarisierung" markieren. Andere marginalisierte Gruppen, darunter StudentInnen, ProfessorInnen, Profi-DemonstrantInnen kamen dazu. Solidarität lag in der Luft, besonders nachdem einige mit orangefarbenen Fahnen auftauchten. So zeigten die PensionistInnen und VeteranInnen der restlichen Gesellschaft den Weg: Am bemerkenswertesten war für mich ein Bild im Internet, das eine alte Frau mit einem Transparent mit dem Text: "Putin ist ein schlimmerer Feind als Hitler!" zeigte.

Wie Manuel Castells feststellt, tendiert die Struktur der Gesellschaft unter dem Informationsparadigma zur Individualisierung: individuelle Arbeitsverträge, individuelle Arbeitszeiten, etc. Dies ist eine der Ausschlag gebenden Bedingungen für das Phänomen der Prekarisierung. Solidarität gibt es hier nicht, da alles "dein eigenes Problem" ist. Als Arena einer Sturminvasion des Kapitalismus hat Russland dieses Phänomen möglicher Weise noch härter erlebt als die westlichen Länder. Die Zersplitterung wird stärker und verstärkt die Entfremdung. Es gibt keine klaren Klassenschichtungen, es werden keine Gruppeninteressen ausgedrückt, es gibt keine Stabilität, sondern nur Unsicherheit - auf persönlicher ebenso wie auf gesellschaftlicher Ebene. Boris Kagarlitsky hat einmal festgestellt, dass zu Beginn der 1990er Jahre die gesamte postsowjetische Gesellschaft ihren ehemals sicheren Status gegen einen unsicheren tauschte: Viele Fabriken bezahlten ihre ArbeiterInnen mit Waren anstelle von Geld, zwangen sie, diese zu verkaufen und machten sie so an einem Tag von ArbeiterInnen zu VerkäuferInnen.

Zusammen mit dem Einmarsch der Konsumgesellschaft trug dies zu einer Unausgewogenheit im Denken bei. Während die glücklicheren der höheren Angestellten in den großen Städten Jobs fanden und einem Leben im Kapitalismus zustimmten, konnten Millionen von Menschen in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken nur schweigen, weil sie nicht erklären konnten, was stattfand.

Und nun lösten ausgrechnet die PensionistInnen, die zumindest das gemeinsame Alter sowie die sowjetische Vergangenheit als Basis für ihre Solidarität hatten, zusammen mit der ernstlichen Gefahr, ohne irgendetwas auf der Strecke zu bleiben, eine Welle von Protesten aus. Die Regierung leugnete dies, gab eine Menge von Erklärungen ab und schuf ein extrem kompliziertes und eigenartiges Modell für die Kompensation der "monetarisierten" Vergünstigungen aus dem föderalen Budget.

Der nächste Schritt muss gemacht werden. Die nächste Zielgruppe sind die Studierenden. Unter den gemeinsamen Angriffen von Polizei und Militär wurde 2004 eine weitere räuberische Maßnahme umgesetzt: die Abschaffung der Aufschiebungen des Militärdienstes. Der Logik der Militärs zufolge gehen die Studenten ausschließlich mit dem Ziel zur Universität, den Militärdienst zu umgehen. Der Armee fehlt es an jungen Menschen, die bereit sind, den Dienst zu leisten. Niemand möchte nach Tschetschenien geschickt werden oder angesichts regelmäßiger Meldungen über Todesfälle, Sadismus älterer Soldaten gegenüber jüngeren, etc. die Grausamkeiten der Armeebefehle erleben. Armeesprecher sagen, dass im vergangenen Jahr nicht mehr als 14% der notwendigen Anzahl den Militärdienst angetreten haben, und dass die jungen Menschen diesen vermieden, indem sie zur Universität gingen. Deshalb entschieden sie, alle Ausweichmöglichkeiten zu streichen und die Studenten zu den Waffen zu bringen.

Die Studierenden sind aber nicht in dem Maße geeint wie die PensionistInnen. Eigentlich weiß niemand, was die russische "Jugend" heute ist. Sind es Teenage-Ravers oder Hip-Hopper, die erste Generation, die mit MTV aufgewachsen ist? Geblendet von Technologiefieber, medialer Gehirnwäsche und kapitalistischer Hysterie? Oder nicht? Das ist die Frage. Wenn es Quellen sozialen Bewusstseins bei den Jugendlichen gibt, sind diese jedenfalls an den Universitäten zu suchen. Während der Frühjahrsaktionen 2004 gegen die Straßenmilizen etwa, als AutofahrerInnen als Zeichen des Protests weiße Tücher auf ihren Autos anbrachten, fielen diese Autos im Moskauer Straßenverkehr kaum auf, aber auf den Parkplätzen der Staatlichen Universität Moskau waren sie in der Mehrheit.

Es schien eine Reihe von Mythen über die "Logik des Kapitalismus" zu geben, zum Beispiel der Mythos, dass die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte (wie Kinderarbeit) nur in einer Frühphase des Kapitalismus möglich war, in einer so genannten "primären Kapitalakkumulationsphase". Aber heute, in einer postindustriellen Gesellschaft, sehen wir wieder Sweatshops, Kinder- und Frauenarbeit, schwindende Sozialleistungen und wachsende Unterdrückung. Und die Tatsache, dass vieles davon weit weg von Europa stattfindet, macht es nicht leichter, im Gegenteil, dies kommt alles als Prekarität nach Europa zurück.

Die Aufhebung von sozialen Rechten und Arbeitsrechten, die Auflösung aller ehemaliger Verteidigungsmechanismen der Menschen ist Teil der alltäglichen russischen Prekarität. Die Steuern werden erhöht. Die Preise für Wohnungen, Wasser und Gas steigen ebenso. Es mag komisch erscheinen, dass ein Autor und Aktivist aus Tomsk unlängst beschloss, das Wort ins Russische zu übertragen und die jämmerlichen Arbeitsbedingungen in Russland als "prekarnost" bezeichnete. "Prekarnost" betrifft im russischen Kontext die Arbeit ebenso wie alles andere, also die sehr grundlegenden Bedingungen des Lebens. Der zentrale Slogan des ersten russischen Sozialforums von 16. bis 17. April 2005 lautet "Nein zur Abschaffung sozialer Rechte!", obwohl auch alle anderen Schlüsselthemen wie Krieg, Privatisierung, Massenmedien etc. präsent sind. Darunter versammeln sich SozialistInnen, AnarchistInnen, TrotzkistInnen, die Umwelt-, und Menschrechtsbewegungen sowie Arbeitergewerkschaften.

Für die ältere Generation kommen die Proteste parallel zu einer gewissen Nostalgie für die guten alten, sicheren Sowjetzeiten. Natürlich, ebenso unsicher wie die heutige kapitalistische Gesellschaft ist, so sicher war die ehemalige Sowjetgesellschaft. Aber ich würde sagen, sie war zu sicher. Wie bekannt ist, war der Sowjetstaat ein Staat sozialer Garantien und der Wohlfahrt. Sogar in der Erinnerung meiner Generation, die nur das Ende miterlebte, war er sicher wie das alte Ägypten. Es gab eine klare Klassenschichtung, alles war eindeutig definiert; für die späten SowjetdissidentInnen bot dies eine gute Gelegenheit für die so genannte "innere Emigration": mit einem einfachen Handwerk und einem regelmäßigen Einkommen konnte man ohne Probleme über die Ewigkeit nachdenken.

Vor einiger Zeit wurde in der Moskauer Zeitschrift "CompuTerra" ein Trialog zwischen Graham Seaman, Richard Barbrook und dem Herausgeber Leonid Levkovich veröffentlicht (weshalb der Text nur auf Russisch existiert). Darin zeichnen die prominenten Theoretiker des Informationszeitalters die Ursprünge der Utopien des 20. Jahrhunderts nach und meinen, dass die RussInnen zwar schlechter lebten, aber eine besser Zukunft hatten: den Kommunismus innerhalb von zwanzig Jahren! Deshalb mussten die westlichen PolitikerInnen ihren BürgerInnen erklären, dass auch sie eine gute Zukunft hatten, weshalb der CIA Daniel Bell aufforderte, seine post-industrielle Utopie zu erfinden. Die Russen hatten Sozialprogramme und garantiertes Einkommen, deshalb mussten auch die westlichen PolitikerInnen den Wohlfahrtsstaat proklamieren. Sobald die Sowjetunion zerstört war, gab es keine Notwendigkeit mehr, dies zu tun und der wilde Kapitalismus kehrte zurück.

Was Russland anbelangt, gab es nie irgendwelche falschen Vorstellungen darüber, dass der Kapitalismus irgendwelche sozialen Garantien bringen würde. Einige Illusionen hinsichtlich der Demokratie gab es, das ist wahr, aber keine über den Kapitalismus. Eine liberale Ideologie (und besonders die beliebteste von Friedrich von Hayek) verhieß nie soziale Wohlfahrt oder Garantien, sondern trat stattdessen für kapitalistische Effektivität ein. Zur Zeit der Perestrojka befand sich Russland in einer tiefen Depression über seine frühere ökonomische Ineffizienz, seinen technologischen Rückstand, sein sozialistisches Missmanagement, vielfältige Störungen, einzigartige Verschwendung von Energie etc. Die Sowjetunion war stabil, aber nicht effektiv. Deshalb war Gorbatschows Nummer 3 nach "Glasnost" und "Perestroika": "Uskorenje", also Beschleunigung. Und deshalb begannen die Post-Sowjet-ReformerInnen auch, ihre Forderungen nach Unterstützung durch den IMF durch eine Rhetorik zu rechtfertigen, die die RussInnen lehren sollte, wie Ökonomie effektiv werden kann.

Doch die Menschen erwarteten nie irgendwelche sozialen oder humanitären Garantien vom Kapitalismus und hatten auch nie irgendwelche Illusionen über seine räuberische Natur. Ganz von Beginn der Privatisierung, von der allerersten Pleite an wussten sie, dass der Kapitalismus prekär ist.

 
Der Text wurde auch publiziert in: Kulturrisse 02/05.