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09 2010

Den Produktionsapparat verändern

Anti-universalistische Intellektuellen-Konzepte in der frühen Sowjetunion

Gerald Raunig

In seinem Aufsatz „Der Autor als Produzent“ zieht Walter Benjamin eine klare Trennlinie zwischen der inhaltistisch motivierten Frage, wie ein Werk zu den Produktionsverhältnissen seiner Epoche steht, und deren – Technik, Funktion und Produktionsapparat in den Vordergrund hebenden – Variation zur Frage: Wie steht ein Werk in den Produktionsverhältnissen seiner Epoche?[1] Benjamin skizziert hier einen Unterschied, der überall dort zentral wird, wo Haltung, Positionierung und Subjektivierungsweisen von Intellektuellen in politischen Kämpfen beleuchtet werden, und schreibt in bezug auf seinen eigenen Kontext im Deutschland der Weimarer Republik: „Es gehört zu den entscheidenden Vorgängen der letzten zehn Jahre in Deutschland, dass ein beträchtlicher Teil seiner produktiven Köpfe unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse gesinnungsmäßig eine revolutionäre Entwicklung durchgemacht hat, ohne gleichzeitig imstande zu sein, seine eigene Arbeit, ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, ihre Technik wirklich revolutionär zu durchdenken.“[2]


Die „Bolschewiken-Spezialisten“

Benjamins Essay ist der Entwurf eines Pariser Vortrags im April 1934, der aus ungeklärten Gründen nie stattgefunden hat. Benjamin verwendet die negative Folie verschiedener  inhaltistischer Beispiele der Kunst- und Wissensproduktion in Deutschland („Aktivismus“, Neue Sachlichkeit) hauptsächlich, um in einem kommunistischen Kontext anerkannt linke, aber rein inhaltistisch-agi­ta­tori­sche Strategien, das heißt implizit vor allem die Spielarten des sozialistischen Realismus zu kritisieren. Im „Institut zum Studium des Faschismus“ in Paris, das von der Komintern kontrolliert wurde, hätte er sich mit seinem derart ausgerichteten Vortrag auf Glatteis befunden, das wusste er gut. Denn nicht erst die Kulturpolitik Stalins, sondern auch die unterschiedlichen Positionen Lenins, Bogdanovs und Lunatscharskis waren trotz äußerst unterschiedlicher Vorstellungen von proletarischer Kultur alle auf die Produktion und Präsentation von proletarischen Inhalten gerichtet gewesen, und auch in Deutschland gab es in den 1920er und 1930er Jahren in kommunistischen Kreisen eine Linie der Forcierung des revolutionären Inhalts zu Lasten der Form. Benjamin, der vor allem Technik und organisierende Funktion der Kunstpraxis im Auge hatte, vertrat eindeutig eine minoritäre Position. Reaktionäre deutsche Positionen eigneten sich gerade vor einem Publikum, das formalen Überlegungen skeptisch gegenüber stand, als negativer Annäherungspunkt und Substitut für einen Angriff auf den sozialistischen Realismus. Zugleich waren sie ein geeigneter Hintergrund für Benjamin, um die Praxis Sergej Tretjakovs als positives Gegenbeispiel der Organisierung und der Veränderung des Produktionsapparats herauszustellen.

Wozu aber die „Veränderung des Produktionsapparats“? Für Benjamin ist die schriftstellerische Arbeit in der Position der TrägerInnen des Gesetzes und KämpferInnen für die Gerechtigkeit, für das Proletariat eine Anmaßung, der Ort der universalen Intellektuellen ein unmöglicher. Wenn die Solidarität der Intellektuellen mit dem Proletariat immer nur eine vermittelte sein kann, müssen aufgrund sozialer und Bildungsprivilegien dazu gewordene bürgerliche Intellektuelle nach Benjamin „Verräter an ihrer Ursprungsklasse“ werden.[3] Dieser notwendige Verrat besteht in der Verwandlung von Intellektuellen, die den Produktionsapparat mit noch so revolutionären Inhalten lediglich beliefern, in IngenieurInnen, die den Produktionsapparat verändern, die in Benjamins Formulierung ihre Aufgabe darin erblicken, „diesen den Zwecken der proletarischen Revolution anzupassen“[4].

Der Verrat der Intellektuellen muss aber über die einfache Zurückweisung ihrer Rolle als universelle BeraterInnen und spektakuläre LieferantInnen von Begriffen hinausgehen. Benjamins Forderung ist zweiteilig, es geht darum, den Produktionsapparat nicht nur nicht zu beliefern, sondern ihn auch zu verändern. In der Debatte um die Haltung der russischen Intellektuellen nach der Oktoberrevolution sei entscheidende Klärung durch den Begriff des „Spezialisten“ erreicht worden, schreibt Benjamin. Der Begriff bleibt vorerst dunkel, ja er scheint auf den ersten Blick nicht gerade hilfreich für das Vorhaben, ein revolutionäres Bündnis von Proletariat und Intellektuellen zu organisieren. Benjamin bezieht sich hier auf die Figur des „Bolschewiken-Spezialisten“ bei Sergej Tretjakov, und diese Figur durchkreuzt den Dualismus von Universalität und Partikularität. Die Aufgabe von KünstlerInnen und Intellektuellen als SpezialistInnen besteht vorerst darin, ihre Stellung im Produktionsprozess zu vergegenwärtigen, damit nicht auf den Gedanken zu kommen, sich selbst als universelle Intellektuelle auszugeben. Statt sich als „Katalysator“ oder „Transmissionsriemen“ auf Universalität und Autonomie zu berufen, geht es darum, die zentrale Position zu verlassen und als SpezialistInnen, als spezifische Intellektuelle, mit spezifischen Kompetenzen, von spezifischen Positionen aus „Verräter zu werden an der [bürgerlichen] Ursprungsklasse“. SpezialistInnen maßen sich nicht mehr die Trägerschaft universeller Werte an, sondern führen lokale und spezifische Kämpfe und bringen in diese ihr spezifisches Wissen ein. Es geht nicht darum, „den Massen“ (die richtigen) revolutionäre Inhalte zu vermitteln, es existiert gar keine derartige Wahrheit, die das Privileg einer gewissen Klasse wäre.

 
Der Aufbau des Sozialismus auf dem Land

Sergej Tretjakov und Gustav Klucis wurden beide am Beginn/zur Mitte der 1890er Jahre in Lettland geboren, und sie beeinflussten beide die linksradikalen Strömungen des Moskauer Proletkult der frühen 1920er. Während Tretjakov gemeinsam mit Eisenstein und Arvatov in den experimentellen Labors des Moskauer Theaters arbeitete, brachte Klucis seine Agit-Prop-Kiosks schon 1922 auf die Strassen. In seinen frühen medienkünstlerischen Arbeiten verband er verschiedene Medien, um möglichst funktionale, revolutionäre Apparate zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt war Klucis sogar Tretjakov und Eisenstein voraus, die in ihren Theateraufführungen zu Beginn der 1920er Jahre gerade die ersten Kurzfilme integrierten. Doch in den folgenden Jahren wurde es für alle AkteurInnen der Produktionskunst klar, dass sie in ihrer Politik der Veränderung des Produktionsapparats noch einen Schritt weiter gehen mussten: Die Massen selbst mussten AutorInnen als ProduzentInnen werden.

Für Tretjakov lag die Zukunft der sowjetischen Produktionskunst bei den „Faktographen“, bei der Masse der ArbeiterkorrespondentInnen, der ReporterInnen und AmateurfotografInnen, der Zeitungs- und RadiomacherInnen. In den späten 1920er Jahren kam es ihm daher gerade recht, einen breiten Aufruf der staatlichen Kulturpolitik in diesem Sinn umzufunktionieren: „Schriftsteller in die Kolchose!“ Selbst in der Sowjetunion von 1928 befremdete die Formel. Als flankierende Maßnahme des ersten Fünfjahresplans sollten auch die KunstarbeiterInnen ihren Teil beitragen zur Kollektivierung, Maschinisierung und Effektivierung der landwirtschaftlichen Produktion. Während Klucis 1930 Posters wie „Der Aufbau der Sowchosen und Kolchosen ist der Aufbau des Sozialismus auf dem Land“ produzierte, kämpfte Tretjakov um die Entwicklung der organisierenden Funktion der Kunst in noch konkreterer Form.

Tretjakov beschreibt die Unklarheit und Verschwommenheit der Aufforderung „Schriftsteller in die Kolchose!“ und seine eigene Konfusion sowie die differierenden Ratschläge von allen Seiten in seinem Buch Feld-Herren: Die einen meinten, eine genaue Beobachtung der Art und Weise, wie die Kolchose wirtschaften, die Zweckmäßigkeit und Rentabilität der Kollektivbetriebe zu beschreiben, wäre die Aufgabe der zum Auszug aus ihren städtischen Kontexten aufgerufenen SchriftstellerInnen. Die anderen behaupteten im Gegenteil, dass sie davon viel zu wenig verstünden und sich daher lieber auf die Beschreibung des Alltags und der „lebendigen Menschen“ beschränken sollten. Wieder andere flüsterten: „Prüft, ob sie Silos bauen, prüft das unbedingt.“[5]

Die Kampagne dürfte insgesamt strategisch nicht allzu genau geplant worden sein: Die Zuständigen in Moskau bestachen wohl vor allem durch den pathetischen Beschwörungston ihrer Verhandlungen, der das Fehlen sachlicher Instruktionen kaschierte, aber auch die ProtagonistInnen auf beiden Seiten scheinen nicht allzu erfreut gewesen zu sein: Die SchriftstellerInnen waren nach wie vor nicht mehrheitlich interessiert an Produktionskunst – und schon gar nicht daran, für längere Zeit aufs Land zu gehen –, die AgronomInnen und ArbeiterInnen in den Kolchosen keineswegs erfreut über die „Touristen“, „Ausflügler“ und „Ehrengäste“[6]. Allein, Tretjakov beschreibt die Arbeit als weitere Etappe am langen und vielfach gebrochenen Fluss, der ihn und die Sowjetunion nie ins Meer der Massen führte. In dieser Etappe ging es vor dem Hintergrund seiner Erkenntnisse im vergangenen ersten Jahrzehnt des Proletkult allerdings nicht mehr um das vom Titel des Aufrufs suggerierte „Ins-Volk-Gehen“ der Kunst. Es ging um eine weitere Facette und Verfeinerung der Erfahrungen mit spezifischen Öffentlichkeiten und kollektiven Subjektivierungsweisen, konkret um einen organisatorischen Prozess im beschränkten Raum eines ländlichen Kollektivs.

 
Tretjakovs Kompetenzenkatalog

Tretjakov folgte also dem Aufruf und ging im Juli 1928 zum ersten Mal in die nordkaukasische Kolchos-Kommune „Kommunistischer Leuchtturm“. Benjamin hat Tretjakovs Kompetenzenkatalog ausschnittweise zusammengefasst[7] und als Beispiel seiner Thesen zur Veränderung des Produktionsapparats und zur „organisierenden Funktion“ der Kunst[8] verwendet. Im Folgenden die extensive Version in Tretjakovs Selbstdarstellung in den Feld-Herren:

„Was habe ich im Kolchos geleistet?

Ich nahm teil an den Sitzungen der Direktion, auf denen alle Lebensfragen der Kolchose zur Sprache kamen: angefangen mit dem Einkauf von Zündkerzen für die Traktoren und dem Flicken der Persennings und endend mit der Aufstellung der Dreschmaschinen und der Hilfe für die Einzelwirt­schaften.

Ich hielt Massenversammlungen in den Kolchosen ab und sammelte Gelder für die Anzahlung von Traktoren und für den Staatsfond. Erläuterte die Thesen Jakowlews (des Volkskommissars für Landwirtschaft). Erstattete den Kollektivisten Rechenschaft über die vom Kombinat geleistete Arbeit. Überredete die Einzelbauern, dem Kolchos beizutreten. Stiftete Frieden zwischen streitenden Müttern in den Kinderkrippen. Beriet mit, wie die Ernte aufzuteilen sei. Plagte mich mit allzu tüchtigen Wirtschaftern, die den Bildungsfunktionären keine Pferde geben wollten. Presste aus Intellektuellen Material für die Zeitung heraus. Half Teilnehmern an Radiokursen, sich in schwerverständlichen Stellen der Vorlesungen zurechtzufinden. Untersuchte die Klagen der Bauern nach jeder Richtung hin auf ihre Berechtigung.

Ich sprach in Versammlungen, wo die Säuberung der Kolchose von Kulaken und antikollektivistischen Elementen erfolgte.

Ich war Mitglied der Musterungskommission und hatte die Bereitschaft der Kolchose zur Frühjahrsbestellung zu prüfen. Das fiel mir übrigens recht schwer, weil ich in der ersten Zeit nicht herausfinden konnte, welches Kummet gut und welches schlecht war, und ob an den Pflügen Teile fehlten. Es gibt Leute, die das nebensächlich finden. Für die Pflüge sei doch ein Schmied da, dazu brauche man nicht den Schriftsteller zu bemühen. Das ist falsch: Ohne die Pflüge genau zu kennen, konnte man auch über die Stimmungen der Kollektivisten keine Klarheit gewinnen, konnte man folglich auch nicht mit einer Rede, einer Skizze, also einer rein schriftstellerischen Arbeit hervortreten.

Ich inspizierte Lesehütten, Klubs und hatte ein Auge auf die Kinder, für die ich im kommenden Sommer Krippen einrichten wollte. Ich führte Delegationen, Besucher und Stoßbrigaden in die Betriebsarbeit ein. Ich rief Wandzeitungen ins Leben und half bei ihrer Zusammenstellung. Ich arbeitete an Methoden für eine klare und gemeinverständliche Kontrolle des sozialistischen Wettbewerbs in der Steppe.

Ich entwarf einen Plan für die kulturelle Versorgung des Kombinats mittels Standkinos und Wanderklubs. Ich suchte hierfür geeignete Leute, Apparate, Hilfsmittel und Gelder zusammen. Holte aus Moskau Wanderradios und eine ausreichende Bibliothek, aus Georgjewsk ein Wanderkino. Das wurde die Grundlage unserer Bildungsarbeit, bei der mir Genosse Schimann von der Stoßbrigade der ›Fünfundzwanzigtausend‹ zur Seite stand.

Ich leitete Kongresse der Bildungsfunktionäre, Konferenzen der Dorfkorrespondenten und veranstaltete eine Ausstellung von Wandzeitungen. Ich berichtete fortwährend von der Kolchose-Front an Moskauer Zeitungen, hauptsächlich an die ›Prawda‹ und die ›Sozialistische Landwirtschaft‹, sowie an Zeitschriften.

Ich organisierte und leitete die Kolchos-Zeitung. Ursprünglich war es nur eine Beilage der Zeitung ›Terek‹, die über die Vorbereitungen zur Feldbestellung informierte. Später erkämpfte, ja: erkämpfte ich nach vielen Besprechungen, Telefongesprächen, Briefen, Telegrammen, Mahnungen, Depressio­nen und Vertröstungen, dass Moskauer Zeitungen (›Der Landarbeiter‹ und die ›Bauernzeitung‹) das Patronat übernahmen. Moskau stellte den Setzer, das Papier und das Satzmaterial. Und unsere Zeitung ›Die Herausforderung‹, die bereits in mehr als sechzig Nummern erschienen ist, hat sich als sehr fühlbarer Hebel der Kollektivierung erwiesen, ohne den wir es kaum geschafft hätten. Dem Setzer gab ich einen Lehrling bei, einen früheren Hirten, einen Künstler aus eigener Kraft. Außer durch Notizen, Protokolle, Dokumente und Skizzen führte und führe ich Buch über das Leben auf dem Kolchos mittels der Kamera. Gegenwärtig besitze ich an zweitausend Negative. Um nun noch vollständiger und eindrucksvoller die in der Geschichte noch nicht da gewesene Umwälzung auf dem Lande im Film festhalten zu können, habe ich ein System permanenter Verfilmung vorgeschlagen, dergestalt, dass eine Kinotruppe die in langen Zeiträumen vor sich gehenden Veränderungen auf einem Kolchos aufzunehmen hätte. Eine solche Kinotruppe wurde mir von der Filmgesellschaft ›Meschrabpom‹ gestellt. Allerdings wies ihre Arbeit beträchtliche Lücken auf, immerhin sammelte sich eine gewisse Menge wertvollen Materials an.“[9]

Der schier unendlich wirkende Tätigkeitsbericht Tretjakovs riecht vielleicht aufs erste nach der Bürokratie eines Organisators und Kontrolleurs aus Moskau, der eher zum universellen Intellektuellen und zum eingreifenden Verwalter tendiert als zum transversalen Spezialisten. Der Gestus des Rechenschaftsberichts allerdings ist wohl auch dessen Funktion geschuldet. Tretjakov – und das lässt sich auch aus den vorsichtigen Berichten über seine erste Zeit im Kolchos lernen – verstand sich als behutsam Teilnehmender an einem kollektiven Prozess. Während er seinen eigenen Begriff des „Spezialisten-Bolschewiken“, den Benjamin noch Jahre später affirmativ übernehmen sollte, immer kritischer beurteilte, zugleich als Zuspitzung auf eine Erretterfigur und als völlige Überforderung für die Realität, als viel zu komplex und exzeptionell, um ihn in Massenproduktion zu geben, bemerkte er im Kolchos, dass einer allein diese Eigenschaften gar nicht zu vereinen brauche. Seine Erfahrungen im „Aktiv“ des Kolchos führten ihn sogar so weit zu sehen, dass „gewöhnlich verworfene Haltungen wie spezialistische Verbohrtheit, Neuerungswahn oder konservatives Zögern nützlich werden, wenn sie sich gegenseitig kritisieren“; ein Wechsel der Positionen fördere dabei „die nötige Beweglichkeit des Aktivs“[10]. Aus den Arbeiten in den trotz Proletkult immer noch klassisch hierarchischen Produktions- und Rezeptionsstrukturen der Institutionen Theater und Film hatte Tretjakov die Thesenfigur des Spezialisten-Bolschewiken abstrakt entwickelt. In der Praxis der Organisationsarbeit im Kolchos avancierte dieses Konzept zum „beweglichen sozialistischen Aktiv höchst unterschiedlicher Persönlichkeiten“[11], in dem gerade die unterschiedlichen spezifischen Kompetenzen der einzelnen im Kollektiv Beteiligten produktiv wirken. Die Verknüpfung dieser Kompetenzen hieß hier, ein spezifisches Wissen mit anderen spezifischen Wissen zu verknüpfen, in einem Stückwerk, das als Ziel nicht das Ganzsein hat, sondern eine transversale Beziehung des Austausches.

 
Ein Laboratorium, das noch immer seiner Verkettung harrt

Parallel dazu zeigt sich die noch ein weiteres Mal radikalisierte Abwendung Tretjakovs von den traditionellen Medien und Genres des bürgerlichen Kunstbegriffs in der Nachfolge der medialen Arbeiten von Klucis sechs Jahre davor. Statt der experimentellen Ausweitung des Theater- oder Literaturbegriffs geht es jetzt um die Medien einer organisierenden Produktionskunst: Klub, Demonstration, Film, Foto, Radio und vor allem um die Zeitung. Die Kompetenz des Kunstarbeiters wendet sich weg von den bemühten Versuchen der Transformation des bürgerlichen Theaters hin zu einer Effektivierung neuer oder neu zu erfindender Medien und zu deren je neuen Formen, sowie zu organisierenden Tätigkeiten, die an Tretjakovs frühere Proletkult-Erfahrungen in der experimentellen Organisierung von Kollektiven anschließen. Mit Eisenstein und Arvatov hatte er auch am „Experimentellen Laboratorium kinetischer Konstruktionen“ des Moskauer Proletkult gearbeitet. Im Rahmen der Ausbildung sollten in den Werkstätten alle möglichen Formen sozialer Versammlung experimentell erprobt werden: „Sitzung, Bankett, Tribunal, Versammlung, Meeting, Zuschauerraum, sportliche Veranstaltungen und Wettkämpfe, Klubabende, Foyers, öffentliche Kantinen, öffentliche Feste, Umzüge, Karneval, Beerdigungen, Paraden, Demonstrationen, fliegende Versammlungen, Betriebsarbeit, Wahlkampagnen, usw., usf.“[12]. Es sieht fast so aus, als hätte Tretjakov mit seinem Engagement im Kolchos fast ein Jahrzehnt später eine lang gesuchte Gelegenheit ergriffen, nämlich die Erprobung derselben Arbeit an den Formen der Organisation, die er im geschlossenen Laboratorium des Proletkult betrieben hatte, nur jetzt endgültig jenseits der Kunstinstitution. „Er machte sein literarisches Thema zum Ort seiner gesellschaftlichen Tätigkeit“, heißt das im Jargon der sozialistischen Kunsttheorie.

Tretjakovs Kunstarbeit bestand in der kontinuierlichen Veränderung des Produktionsapparats, aber auch in der des Kunstbegriffs: Nach dem Zurechtstutzen der großen Ideen vom Aufgehen der Kunst im Leben, nach den ersten Spezifizierungen der Theaterarbeit mit Eisenstein in der Fabrik, nach der neuerlichen Abwendung vom Theater fand Tretjakov zu seiner radikalsten Strategie, fast schon jenseits der Kunst. Im Setting einer breiten Kampagne in der sozialistischen Gesellschaft, an der potenziell Tausende solcher Versuche parallel stattfinden hätten können, fungierte Tretjakovs Mikropolitik als Laboratorium, das seiner Verkettung harrte. Dann wird er wie auch Klucis und so viele andere – von den Mechanismen des molaren Apparats Stalins eingeholt, zunehmend am Arbeiten gehindert, 1937 verhaftet, 1939 erschossen, 1956 rehabilitiert, wie das so schön heißt in der Geschichtsschreibung der Sowjetunion.


Der vorliegende Text ist eine Montage und Weiterführung früherer Texte:

 „Anstelle einer Einleitung: Spacing the Line. ‚Grenzüberschreitung’ als Dilatation der Grenzlinie“, in: Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien: Passagen 1999, 11-15.

„Großeltern der Interventionskunst, oder Intervention in die Form. Rewriting Walter Benjamin's ‚Der Autor als Produzent’“, in: Context XXI, 3/2001, 4-6, online unter http://eipcp.net/transversal/0601/raunig/de.

Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien: Turia+Kant 2005, 109-124, 147-153.

„Transformar el aparato de produccion“, in: Gustav Klucis. En el frente del arte constructivista, Sevilla: Cajasol Obra Social 2009, 52-59.

 



[1] Walter Benjamin, „Der Autor als Produzent“, in: ders., Gesammelte Schriften, Band II 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, 683–701, hier 685f.; vgl. schon hier die inhaltliche Nähe zu den Überlegungen Sergej Tretjakovs („Woher und wohin? Perspektiven des Futurismus“, in: ders., Gesichter der Avantgarde. Porträts – Essays – Briefe, Berlin/Weimar: Aufbau 1985, 38–53, hier 47): „Die Unterscheidung von ›Form‹ und ›Inhalt‹ muss in eine Lehre von den Verfahren münden, die die Bearbeitung von Material zur Herstellung des erforderlichen Dings, die Funktion und die Art und Weise der Aneignung dieses Dings umfasst.“

[2] Benjamin, „Der Autor als Produzent“, 689.

[3] ebd., 700 f.

[4] ebd., 701.

[5] vgl. Sergej Tretjakov, Feld-Herren. Der Kampf um eine Kollektiv-Wirtschaft, Berlin: Malik 1931, 32 f.

[6] ebd., 34–36.

[7] Benjamin, „Der Autor als Produzent“, 686 f.

[8] ebd., 696.

[9] Tretjakov, Feld-Herren, 20–22.

[10] zu Tretjakovs Abschied vom Typ des Spezialisten-Bolschewiken vgl. die Zusamenfassung in Fritz Mierau, Erfindung und Korrektur. Tretjakows Ästhetik der Operativität, Berlin: Akademie 1976, 110 f.

[11] ebd., 112.

[12] Boris Arvatov, „Theater als Produktion“, in: ders., Kunst und Produktion, München: Hanser 1972, 92.