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11 2006

Die allgemeine Desemantisierung: Globale Sprache und Hegemonie

Das Schweigen der Plebs übersetzen

Rada Iveković

Übersetzt von Hito Steyerl

Als ich gestern Boris Buden[1] zuhörte, kam mir ein anderer möglicher Titel für meinen Vortrag in den Sinn: „Wie unübersetzen?“ Ich würde das Programm der Untreue in der Übersetzung gern fortsetzen. Ich dachte an all die kulturellen und sozialen malentendus, Missverständnisse, die passieren, wenn man von einem Code aus den anderen konfrontiert. Wir wissen alle, dass dies auch innerhalb ein und derselben Kultur passiert. Ich habe in meiner Arbeit über Übersetzung in Transeuropéennes (n° 22, „Traduire, entre les cultures“) und anderswo behauptet, dass Sprache von Anfang an Übersetzung ist, eine Übersetzung, die von innen nach außen und umgekehrt verläuft, und dass meine Muttersprache Übersetzung ist. Wir haben das Konzept der Übersetzung in einem kontextuellen Sinn dem Konzept des „Dialogs der Kulturen“ gegenübergestellt, das „Kulturen“ als geschlossene und naturalisierte Gemeinschaften versteht, möglicherweise vom Standpunkt der Frankophonie aus (dem ich kritisch gegenüberstehe, obgleich ich auch frankophon bin, aber dies ist heute nicht mein Thema). Aber ich werde mich auch unvermeidlich auf textuelle Übersetzung beziehen. Ich habe meine Laufbahn als Übersetzerin aus dem Sanskrit, Pali und anderen lebenden Sprachen begonnen. Ich wurde an einen halbrassistischen Witz erinnert, der, wie ich denke, auch selbstironisch war und der im früheren Jugoslawien die Runde machte, wo es viele Studierende aus blockfreien und Dritte-Welt-Ländern gab, vor allem aus Afrika. Ich hatte an der Universität solche Freunde. Einige waren wegen Stipendien oder Austauschprogrammen gekommen, andere (Algerier) oft als Kriegsverwundete, andere (Chilenen) als Flüchtlinge. Der Witz, der vorgibt, vom Standpunkt eines Afrikaners aus erzählt zu werden, geht ungefähr so: „Europäer sind die Leute, die zählen (die gezählt werden können, möglicherweise auch die, die zählen, die etwas zu sagen haben, das heißt, deren Aussagen zählen). Dazu muss man eine europäische Erziehung haben. Ich habe also meiner Tochter eine gute Ausbildung gegeben, sie kann sehr gutes ‚Europa‘ sprechen.“ Es kann sein, dass dieser Witz nicht sehr lustig ist, aber er sagt etwas darüber aus, in der „Übersetzung verloren zu gehen“ („lost in translation“).

Salman Rushdie erinnert uns in Shame, einem Werk, in dem er sehr gute Beobachtungen über Sprache und Übersetzung anstellt, daran, dass Übersetzung bedeutet, „hinübergetragen“ („borne across“; trans-latio) zu werden. Transportiert oder transferiert. So ein Begriff wird natürlich auf Menschen in ihren Kontexten angewendet, nicht auf bloße Texte, obwohl Texte eine wichtige Metapher (wiederum – „hinübertragen“) für die Bedeutung darstellen, in der wir Übersetzung hier verstehen. Im Hinübergetragen-Werden gibt es ein unwillkürlich behauptetes Element der Passivität, auf das ich irgendwann zurückkommen möchte. In dieser ersten Runde hier möchte ich „Passivität“ als etwas begreifen, das sowohl die Grenzen der Souveränität als auch jene der Autonomie umfasst; oder ich begreife es als Interdependenz. Es ist auch karma. Karma ist nicht Schicksal oder eine Bestimmung, wie es gewöhnlich im Englischen verstanden wird. Es ist im Gegenteil ein reicher philosophischer Begriff, der auf geteilte Verantwortlichkeit in einem zwischenmenschlichen, sozialen, generationellen und sogar gattungsübergreifenden Sinn verweist – die Solidarität aller Lebensformen. In diesem Sinne klebt das Karma nicht nur an einem selbst, sondern auch an allen anderen um uns herum, und es ist in einem tiefen und komplexen Sinn ansteckend. Was passiert, wenn die Umstände, von denen aus, mit denen, du übersetzt wirst, eine Tragödie sind, ein Kontext des Elends und der Niederlage, oder wenn die Bedingungen, unter denen deine Nachbarn leben, die der Verzweiflung sind, obgleich du dich selbst glücklich fühlst? Es gibt hier einen komplexen Dominoeffekt. Schleppen wir die Gegebenheiten der Katastrophe und des Unglücks, in die wir hineingeboren oder hinübergetragen werden, mit uns mit, oder können wir sie loswerden? Ich würde sagen, dass dies manchmal in meisterlicher Weise von Schriftstellern in der Literatur dargestellt wird. Es gibt viele Beispiele, ich könnte Gabriel Garcia Marquez für Cien años de solitud nennen, oder Orhan Pamuk für Schnee, oder J. M. Coetzee für viele seiner Bücher, zum Beispiel Boyhood, Youth oder vor allem Schande, und andere. Ich schlage hier keinen Fatalismus vor: Wir werden natürlich niedergedrückt, wir werden zu Boden gestoßen, wir werden mitsamt den anderen um uns herum beschämt, wenn sie erniedrigt werden. Wir können durch die Geschichte oder eine politische Niederlage erniedrigt werden, und dies gilt für ganze Bevölkerungen, nicht nur für Individuen. Gayatri Chakravorty Spivak betrachtet dieses Phänomen – „was wir aus einem Sturz lernen können“ – in Bezug auf den Kolonialismus. Ich glaube trotzdem, dass sich diese allgemeine Frage nicht nur auf den Kolonialismus beziehen lässt, wo sie sich offensichtlich stellt, sondern dass sie auch in allen anderen zwischenmenschlichen, sozialen und politischen Situationen wahr ist. Sie bezieht sich auf die Art, wie wir den Tod ansehen und unfähig sind, ihm ins Auge zu sehen.

Semantische Schwierigkeiten erscheinen, sobald von Wörtern erwartet wird, das Symbolische auszudrücken, und auch sobald diese ein nicht anerkanntes Leiden vermitteln sollen. Wörter bedeuten nicht immer das, was sie bedeuten sollen oder was von ihnen erwartet wird. Eine generelle Desemantisierung ist nicht nur Bestandteil einer neuen internationalen politischen Situation allgemeinen Terrors und bislang unbekannter Gewalt, sondern befindet sich in ihrem Kern und Ursprung. Die Desemantisierung ist das Zeichen oder Symptom des Politischen und der Heterogenität – zum Schweigen gebracht und unterdrückt. Der Staat, um dieses Beispiel aufzugreifen, wird gewaltsam durchsetzen, dass seine Statuten und sein Status von anderen anerkannt werden, und wird die Bedürfnisse des Volkes nicht übersetzen oder berücksichtigen. Der Gegner wird ethnisiert, als Terrorist bezeichnet, was exzessive Gewalt gegen ihn legitimiert. Desemantisierung ist eine Bedingung und Technologie der Macht in der neuen Topografie des deterritorialisierten Terrors (d. h. jenes Terrors, der uns überall erreichen kann), aber auch vieler territorialisierter Zustände. Wir müssen uns des gefährlichen und sorgfältig inszenierten Prozesses der Desemantisierung bewusst sein, der mit der Depolitisierung einhergeht. Es gibt keine alternativen oder konkurrierenden staatlichen Souveränitäten mehr, und daher keine alternativen Bedeutungen. Diktierte Bedeutungen und monosemische „Signifikationen“ sind ein Zeichen einer Welt mit einem absoluten Sinn. Damit verbunden ist ein neuer Typus des planetaren Totalitarismus, der von der Sprache ausgeht oder tief in ihr verankert ist. Die Opfer müssen zuerst wortlos – und somit inexistent – gemacht werden, um dann getötet zu werden. Sprache (oder ihre Behinderung) ist der Schlüssel zur Gewalt. Dies ist der Grund, warum Gewalt, leider, nicht das Gegenteil von Kultur ist. Aber etwas in Worte zu fassen, einen öffentlichen Raum verbalen Austauschs und einer Verhandlung von Übersetzung herzustellen, hilft dabei, physische Gewalt zu neutralisieren oder zu verringern, wie fragil und inkonsistent das Konzept des öffentlichen Raums selbst auch sein mag. Bedeutungen flüssig zu halten, sie nicht zu fixieren und die Sprache polysemisch zu belassen – hilft dabei, Gewalt zu entschärfen. Es ist wichtig, gegen den Strom eines konventionellen und vorausgesetzten Verständnisses des Establishments zu schwimmen. Oder eine Form der politischen Imagination zu entwickeln, wiederum dadurch, dass sie in Worte gefasst wird.


Politische Imagination

Das Bewusstsein kommt oft zu spät und die Geschichte, wie sie uns überliefert wird, kann wohl die vielen alternativen Geschichten maskieren. Die Verschiebung / das Entortetsein oder die (E-)Migration, staatenlos zu sein, allgemein menschliche Zustände, aber so greifbar in Situationen der Teilung und des Krieges, wurden auf dem Balkan erst anerkannt, als sie dort passierten – d. h. 50 Jahre nach dem südasiatischen Beispiel der berühmten Teilung Indiens, trotz der früheren blockfreien Ideologie. Niemandes anderen Leben fühlt sich so real an wie das eigene. Aber verschiedene zeitgenössische Nationalismen, Fundamentalismen stützen sich auf (post-)koloniale Diskurse anderer Zeiten und täuschen ihr Publikum. Eine Erzählung ist mit einem Raum verknüpft oder „übersetzt einen Raum in einen Ort“, Utopie in einen Topos. Blockfreie BürgerInnen hatten kein narratives Feld für den Begriff der „Teilung“, bis seine Bedeutung als eigene Erfahrung durch „ihre“ eigenen Körper, Territorien auf sie fiel, übersetzt in Kultur und Identität. Auf gewisse Weise erlangte die nichtnationalistische Opposition erst ein narratives Feld für die postkoloniale Imagination, als sie ein Territorium verlor (den jugoslawischen Raum) und den darauf bezogenen Anderen, ihren „guten“ Anderen, den „blockfreien“. Dies ist das „Dazwischen“, das es da gibt. Es ist eine Spreizung (écart) zwischen einer Situation und ihrer Übersetzung. In anderen Worten wird die Frage der Zeit eingeführt. Wenn wir die zeitliche Dimension visualisieren, können wir umgehend sehen, wie Übersetzung Verhandlung ist, politische Gespräche, pourparlers, deren Zweck es ist, Gewalt zu entschärfen (désamorcer; zu dekonstruieren), die keinen Nullpunkt kennt (da, wie Balibar sagt, Gewalt bestenfalls zivilisiert werden kann).

Ich war vor zwei Jahren zu einer Konferenz in Wien zum Thema Postcolonial Studies und Cultural Studies im Allgemeinen, bezogen auf Zentral- und Osteuropa, eingeladen. An vielen Orten im früheren Jugoslawien, vor allem in feministischen Zirkeln, sind Postcolonial Studies jetzt der konzeptuelle Rahmen, um Geschlecht und andere soziale und politische Plastizitäten zu denken. Ich habe andernorts über die Wanderungen der Postcolonial und Subaltern Studies um die Welt geschrieben sowie über die Arten, in denen Sprachen in sie involviert sind und in ihnen performativ werden. Ich habe auch über den Unterschied zwischen einer globalen Sprache (die eine spezifische Hegemonie mit sich führt) wie etwa dem Englischen und einer nicht-globalen Sprache wie dem Französischen innerhalb des kolonialen und postkolonialen Kontexts geschrieben. Es gibt aus offensichtlichen Gründen kein semantisches Feld dafür in Frankreich, oder es wird gerade erst auf schmerzliche Weise eröffnet. Ich habe also keinerlei Antwort auf diese Ausführungen erhalten, sogar wenn sie nahe Freunde und Kollegen, mit denen ich gearbeitet habe, betrifft. Aber ich bin hier an der Verschiebung eines narrativen, imaginativen und semantischen Feldes interessiert, die in solchen Fällen bewirkt wird. Plötzlich werden wir global durch und mit Cultural und Postcolonial Studies und wenden diese auf den Balkan oder Zentraleuropa an, oder auch auf die französische Gesellschaft usw. Wir erkennen oder glauben Muster zu erkennen, während wir zugleich das gleiche Lesemuster auf vergleichbare, aber dennoch unterschiedliche Situationen anwenden. Was in solchen Fällen passiert, ist eine doppelseitige und doppelschneidige Unternehmung im Verlaufe der Übersetzung von Theorie. Ich könnte diesen Vortrag auch „übersetzte Theorien“ nennen. Es gibt eine Auslöschung und es gibt auch eine Rekonfiguration oder Rekonstruktion des kulturellen Gedächtnisses mit dieser Verschiebung. In dieser doppelten Bewegung des Exports oder des Transports von Theorie gibt es eine doppelte Depolitisierung und De-/Resemantisierung, die eine davor, die andere danach. Ich glaube, dass dies Versuche sind, mit der Schande, oder dem karma, umzugehen, die uns niederdrückt.

Der postkoloniale Text, der sogar auf dem Balkan von aktuell informierten KulturwissenschaftlerInnen verwendet wird, ist jetzt die „Umleitung“ unseres „eigenen“ Unbewussten. Es gibt hier ein Paradox, da die Strategie des antikolonialen und antiimperialistischen Widerstands durch den Wunsch strukturiert wird, die Beziehung zum anderen durch eine Übersetzung der Vergangenheit oder des Unbewussten in ein neues gemeinsames narratives Feld umzuordnen und trotzdem Binarismen zu vermeiden; was auch bedeutet, die Hegemonie zu rekonstruieren, da alle Spieler im Spiel ausgetauscht werden. Aber mit wessen Vergangenheit beschäftigen wir uns überhaupt in diesen Verschiebungen? In dem Maße, wie postkoloniale Theorie zur Schablone wird, um etwa die Gesellschaft auf dem Balkan zu verstehen, und ich gebe zu, dass sie nützlich ist, frage ich mich, wohin all das blockfreie Wissen und sein Raster verschwunden sind, die Disposition des Staates (des früheren Jugoslawien), die auch in soziale, erzieherische und kulturelle Realitäten übersetzt wurde, die mich dazu brachten, Indologie zu studieren; jene Disposition, durch die die erste Gesamtausgabe von El Moujahid (der Zeitung des algerischen Widerstands) 1961 in Jugoslawien publiziert wurde, die uns Frantz Fanon in Echtzeit übersetzt zu lesen gab, in der die AutorInnen der négritude in der Schule und an den Universitäten gelehrt sowie alle politischen Bücher der afrikanischen Anführer übersetzt wurden und die in Jugoslawien eine Generation von Mädchen hervorbrachte, die Indira hießen (nicht zu der Zeit, als Indira Gandhi an der Macht war und den Notstand ausgerufen hatte, sondern vorher, als ihr Vater Jawaharlal Nehru der geliebte Anführer der Blockfreien war und seine Discovery of India veröffentlicht wurde). Ich erinnere mich daran, dass wir in den frühen Siebzigern, als uns eine bekannte deutsche feministische Wissenschaftlerin um Beiträge für eine Anthologie gebeten hatte und uns vorschlug, unsere Beiträge in der osteuropäischen Sektion zu bündeln, darum ersuchten, in den Teil des Buches, in dem es um die Dritte Welt ging, aufgenommen zu werden. Das ist es, wo wir uns damals sahen. Ja, das karma von jemandem anderen kann in verschiedener Weise an einer/m kleben bleiben. Ich sage nicht, dass die Blockfreiheit wiederhergestellt werden kann oder dass es darum geht, sie zu betrauern. Ich sage nur, dass wir vielleicht aus dieser Erfahrung ebenso etwas lernen können, da sie über einen langen Zeitraum in soziale Praxis übersetzt wurde, wie aus ihrem Scheitern und ihrer Niederlage.



[1] Boris Buden, „Translation: The Mother Tongue of a Future Society?“, Maison de l’Europe de Paris, 12. Oktober 2006