01 2012
Wie viele Geschichten der Arbeit?
Für eine Theorie des postkolonialen Kapitalismus
Übersetzt von Therese Kaufmann und Tom Waibel
„Kognitiver Kapitalismus“ und „kognitive Arbeit“ sind zu zentralen Begriffen in den jüngsten kritischen Debatten um den gegenwärtigen Kapitalismus geworden. Mit Hilfe dieser Begriffe wurde der Versuch unternommen, die strategische Bedeutung des Wissens für die Kapitalakkumulation aus der Perspektive der Zusammensetzung der Arbeit, die an der Produktion dieses Wissens beteiligt ist, zu begreifen. Von Anfang an ging es um so wichtige Themen wie Prekarität, Netzwerke oder die Transformation des Wohlfahrtstaates. Eine der am weitesten verbreiteten Kritiken an den Begriffen „kognitiver Kapitalismus“ und „kognitive Arbeit“ drehte sich um die Theorien der „internationalen Arbeitsteilung“. Es wurde oft darauf hingewiesen, dass Kapitalismus und Arbeit im Westen durchaus „kognitiv“ geworden sein mögen, aber immer noch „fast überall auf der Welt“ industriell verfasst sind (oder gar gekennzeichnet von noch „früheren“ Ausbeutungsformen und der so genannten „ursprünglichen Akkumulation“).
Dieser Essay kann als Beitrag zu dieser Debatte gelesen werden. Der in den folgenden Seiten vorgeschlagene Begriff „postkolonialer Kapitalismus“ kann als eine Ergänzung der aktuellen Diskussion um den kognitiven Kapitalismus verstanden werden, die einige entscheidende Veränderungen im Hinblick auf eben diesen Begriff vorschlägt. Ausgehend von der Kritik an der Theorie einer kapitalistischen Entwicklung in „Stufen“, die kürzlich von einigen postkolonialen KritikerInnen formuliert wurde, besteht dieser Aufsatz darauf, dass eines der entscheidenden Merkmale der gegenwärtigen globalen Veränderungen des Kapitalismus in einer Art geographischer Brechung besteht, einem fortwährenden Durcheinander der Maßstäbe von Akkumulation, Enteignung und Ausbeutung. Das bedeutet, dass die großen räumlichen Unterscheidungen zwischen Zentrum und Peripherie, globalem Norden und globalem Süden, erste und dritte Welt zunehmend in Frage gestellt und destabilisiert werden. Das hat aus der Perspektive der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den kognitiven Kapitalismus und die kognitive Arbeit wesentliche Konsequenzen. Auf der einen Seite eröffnet der Begriff des postkolonialen Kapitalismus einen Raum, in dem die Rolle der Wissensökonomien und der Produktion von Wissen weit über die Grenzen des „Westens“ hinaus als ein besonderes Merkmal des zeitgenössischen Kapitalismus im globalen Rahmen analysiert werden kann. Auf der anderen Seite verweist er auf das Auftauchen von neuen Formen der Ausbeutung und der so genannten „ursprünglichen Akkumulation“ sogar in den ehemaligen metropolitanen Zentren der kolonialen Moderne. Allgemein unterstreicht der Begriff des postkolonialen Kapitalismus die Bedeutung von unterschiedlichen Maßstäben, Orten und Geschichten innerhalb der Struktur des globalen Kapitalismus. Das führt zur Notwendigkeit der entsprechenden Modifizierung der Theorien des kognitiven Kapitalismus und der kognitiven Arbeit, die dieser räumlichen und zeitlichen Heterogenität gegenüber all zu oft gleichgültig scheinen.
In den folgenden Seiten bemühe ich mich um einen Beitrag zu dieser im Gang befindlichen Debatte durch den Versuch, die Marx’schen Begriffe lebendige Arbeit, Arbeitskraft und abstrakte Arbeit zu überprüfen und behutsam zu überarbeiten. Das erfolgt durch die Beschäftigung mit der „Globalgeschichte der Arbeit“ und der postkolonialen Kritik, insbesondere mit Dipesh Chakrabartys Buch Provincializing Europe[1]. Nicht nur liefert das zweite Kapitel dieses Buchs („Die zwei Geschichten des Kapitals“) eine anregende Lektüre des Marx’schen Begriffs der abstrakten Arbeit, Provincializing Europe macht es darüber hinaus möglich, der Debatte um Arbeit und Kapital einen bedeutend umfangreicheren Horizont zu geben, der auf das Verständnis der „Moderne” ebenso eingeht wie auf die Geopolitik der Wissensproduktion.
1. Die Vervielfältigung der Moderne
Neben vielem anderen kann Provincializing Europe tatsächlich als einflussreiche Intervention in die Auseinandersetzungen um die Moderne gelesen werden, die seit den späten 1970er Jahren (also nicht zufälligerweise seit dem Beginn der Debatte um die „Postmoderne”) neue Bedeutungen und Nuancen erlangt hat. Sowohl die zeitlichen als auch die räumlichen Koordinaten der Moderne wurden in den letzten drei Jahrzehnten insbesondere von der postkolonialen Kritik in Frage gestellt und verschoben. Mir scheint, dass dieser neue Blick auf die Moderne einen der grundlegenden Beiträge der Postcolonial Studies zu einem kritischen Verständnis von Geschichte und Gegenwart ausmacht. Ich will an dieser Stelle kurz etwas erläutern, das ich die geographische Vorstellungskraft nennen möchte, die diesen neuen Blick gefördert und geschult hat.
Wenn ich den Ausdruck „geographische Vorstellungskraft” verwende, habe ich dabei den jungen indischen Erzähler in Amitav Ghoshs Schattenlinien[2] vor Augen, der seinen Cousin dafür kritisiert, Raum, Ort und Geographie als allzu selbstverständlich zu erachten. „Ein Ort existiert nicht einfach”, sagt er, „er muss in der eigenen Vorstellung erfunden werden”.[3] Es erübrigt sich zu erwähnen, dass Ghosh selbst wunderbare Beispiele dieser geographischen Vorstellungskraft geboten hat: Die Moderne, die sich im „mohnroten Meer”[4] spiegelt, das vom Sklavenschiff Ibis befahren wird, ist eine völlig andere als die Moderne in den Büchern von Jürgen Habermas oder Marshall Berman! Vor dem Hintergrund des Handels mit Opium und Kulis in den Jahren vor den Opiumkriegen, schildert Ghosh eine Moderne, die aus einer spektakulären Verknüpfung und Vermischung von „Rassen”, Menschen und Sprachen auf den Gewässern der Ozeane und Flüsse entsteht, die zur Bühne eines Prozesses fortwährender räumlicher Neuvermessung der modernen Geschichte werden. Die Vielfalt der Sprachen, die von der Mannschaft und den Passagieren der Ibis gesprochen wird, von Laskar bis Zubben und von Hindi bis Bhojpuri, schreibt sich in das außergewöhnliche Englisch des Autors ein, fordert die Normen der modernen homogenen Nationalsprachen heraus und verlagert die Übersetzung jenseits des linguistischen Bereichs der Sprache ins Zentrum der „globalen” Moderne.[5]
Die „globale” Dimension der Moderne seit ihren Anfängen wird heute weitgehend anerkannt und in einer Vielzahl historischer Herangehensweisen untersucht, die von der Weltsystemtheorie bis zur postkolonialen Geschichte oder Weltgeschichtsschreibung reichen. Die Festschreibung von geometrischen Grenzen auf der europäischen Landkarte und die neue politische Geographie, die sich mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten entwickelte, waren von Anfang an nicht zu trennen von den kolonialen und imperialen Kartographien der gesamten Welt, wie insbesondere Étienne Balibar gezeigt hat.[6] Diese doppelte Organisation des politischen Raums war, wie Carlo Galli in seinem bemerkenswerten Buch über „Politische Räume” festhält, tatsächlich immer schon „ein Schlachtfeld, ein Schauplatz der Auseinandersetzung”: „Subjektive Energien entstehen aus dem modernen politischen Raum”, schreibt Galli, „und verursachen eine Veränderung seiner Geometrie und, wichtiger noch, mobilisieren diese Geometrien zu einer Öffnung für ausdrücklich universale Dimensionen. Diese Dimensionen sind zunächst nicht Vehikel einer räumlichen Ordnung. Sie haben im Gegenteil die Fähigkeit, jeden geschlossenen politischen Raum zu sprengen.”[7]
Die moderne Anordnung nationaler, kolonialer und imperialer Kartographien wurde von unterschiedlichen subjektiven Bewegungen und sozialen Kämpfen innerhalb Europas in Frage gestellt. Auch an den kolonialen und imperialen Grenzen wurde sie trotz „nekropolitischer” Extraktionsformen, Genoziden und in hohem Maß rassisierter und gegenderter Ausbeutung mittels vielfältiger Widerstands- und Verhandlungsformen angefochten. In ihrem jüngsten Buch liefern Michael Hardt und Antonio Negri eine eindrucksvolle Schilderung der Spannungen, die aus dieser konstitutiven Dimension von Kampf und Widerstand innerhalb der Struktur der Moderne entstehen, und die in ihrer Analyse gebrochen scheint durch die Kräfte der „Gegenmoderne” im Inneren und zugleich konstitutiv offen für die Möglichkeit einer „Altermodernität”.[8]
Die Vervielfältigung der Moderne, die Entdeckung alternativer Wege und Erfahrungen der Modernisierung werden üblicherweise für die wichtigsten Beiträge der Postcolonial Studies zum Verständnis der Moderne gehalten.[9] Obwohl ich diese Einschätzung teile, so bin ich hier daran interessiert, die Bedeutung dieser vielfältigen Modernen und dieses besonderen Austauschs einer singulären „Moderne“ durch plurale „Modernen“ zu vertiefen. In Anlehnung an das bahnbrechende Buch von Sibylle Fischer über Haiti und die Kulturen der Sklaverei zur Zeit der Revolution besteht ein erstes wichtiges Argument dafür darin, dass die Vervielfältigung der Moderne dazu dient, die Moderne selbst nicht mit den Worten von Habermas als „unvollendetes Projekt“ zu begreifen, sondern vielmehr – wie ich bereits betont habe – als Feld der Auseinandersetzung. Fischer schreibt, dass die Sklavenaufstände und Revolutionen in der Karibik der 1790er Jahre auch „eine Auseinandersetzung darum [waren], was die Moderne bedeutet, wer sie geltend machen kann und aus welchen Gründen.“[10] Zweitens, was hier vermutlich noch wesentlicher ist, gilt es zu bedenken, dass die „Heterogenität eine genuine Voraussetzung der Moderne ist, und dass die angebliche Reinheit der europäischen Moderne eine Theoretisierung a posteriori darstellt, oder gar Teil einer Strategie zur Etablierung der europäischen Vorherrschaft.“[11]
Diese angebliche Reinheit und diese mutmaßliche Homogenität der europäischen Moderne macht die „imaginäre Gestalt“ Europas aus, von der Chakrabarty am Beginn von Provincializing Europe schreibt, dass sie zutiefst in „Klischees und Kurzformeln alltäglicher Denkgewohnheiten“ verankert bleibt.[12] Diese Denkgewohnheiten prägen noch immer die politischen und theoretischen Diskurse im Zeitalter der Globalisierung. Europa als „imaginäre Gestalt“ spiegelt eine komplexe Anordnung von Wissen und Macht wider, die die Moderne und ihre Diskurse in erheblichem Maß als machtvolle Formen der Anrufung charakterisiert, um den Ausdruck von Louis Althusser zu verwenden. Sanjay Seth etwa hat in seinem wegweisenden Buch über die westliche Bildung im kolonialen Indien gezeigt, dass in diesen unterschiedlichen Formen der Anrufung nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die Konstituierung des Subjekts.[13] Natürlich stellt Bildung ein strategisches Feld zur Erforschung der materiellen Effekte der Moderne als Anrufung dar, insbesondere da sie konstitutiv verbunden ist mit der Entstehung der StaatsbürgerInnenschaft – ebenso wie mit der Definition und Legitimation ihrer Hierarchien samt ihren inneren und äußeren Grenzen. Das führt zur gleichzeitigen Existenz der metropolitanen BürgerIn und des kolonialen Subjekts innerhalb des gesetzlichen Rahmens der europäischen Kolonialreiche am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts. (Dieser Punkt wird in Provincializing Europe kurz, aber äußerst kompetent analysiert mit Bezug auf John Stuart Mills Überlegungen zur repräsentativen Regierung, die „Inder, Afrikaner und andere ‚rohe’ Nationen in einen imaginären Warteraum der Geschichte“ verweisen).[14]
2. Neue Sachlichkeit[15]
Um wie eine Anrufung zu wirken, müssen die Moderne, ihre Begriffe und Diskurse einem abstrakten Code gemäß formuliert sein und der Logik dessen entsprechen, was der deutsche Historiker Reinhart Koselleck als „Kollektivsingular“ bezeichnet hat. Die von Koselleck entwickelte Analyse verbindet Ansätze von Carl Schmitt und Walter Benjamin und bildet eine perfekte Parallele zu Chakrabartys Kritik des „Historizismus“. Sie zeigt auf, wie ein Prozess der Subsumption jene Vielheit von Zeitlichkeiten, die für die geschichtliche Erfahrung konstitutiv sind, unter die homogene und lineare Zeit des Fortschritts bringt. Dieser Prozess wiederum wird in zunehmendem Maß zum zeitlichen Gerüst der wichtigsten politischen und historischen Konzepte der Moderne.[16]
Die Bewusstheit der „Künstlichkeit“ dieser Vorstellung von Fortschritt war in den Jahren, die Koselleck Sattelzeit[17] nennt, ziemlich weit verbreitet. Er bezeichnet damit die Zeit an der Schwelle zur Moderne während der Französischen Revolution, in der dieser entscheidende Prozess der Verzeitlichung politischer Begriffe stattfand. Johann Gottfried Herder schrieb in seiner „Metakritik“ von Kants Kritik der reinen Vernunft 1799: „Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maas seiner Zeit in sich; […] keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maas der Zeit. […] Es giebt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu Einer Zeit unzählbar viele Zeiten; die Zeit, die wir uns als das Maas Aller denken, ist blos ein Verhältnismaas unserer Gedanken, […] ein Wahnbild.“[18]
Zutiefst von Spinoza beeinflusst und seinerseits insbesondere durch seine Schriften über Sprache, Dichtkunst und Nationalcharakter die Entwicklung der Romantik stark beeinflussend, kann Herder nicht als Repräsentant dessen gelten, was wir mit Koselleck unter Mainstream-Moderne verstehen mögen. Gleichwohl wäre es falsch, vielen vereinfachenden Kritiken folgend anzunehmen, die Mainstream-Moderne selbst sei sich, etwa in einer Linie, die sich von Hobbes zu Hegel zieht, dieser Vielheit der Zeiten nicht bewusst gewesen (d.h., einer Vielheit von Erfahrungen, Lebensformen, Besitzverhältnissen und „Behausungen der Welt“). Das Gegenteil davon trifft zu: Die Konstituierungsbewegung moderner Konzepte als „Kollektivsingulare“ ist in sich von einer gewaltsamen Spannung geprägt, einem Prozess der Aneignung und Synchronisierung dieser Vielheit von Zeiten innerhalb der „homogenen und leeren“ Zeit von Staat und Kapital. Nochmals: Worum es in dieser Spannung geht, ist die Produktion der Subjektivität selbst.
Ich habe die Begriffe Staat und Kapital eingeführt, weil die Subsumptionsbewegung heterogener Zeitlichkeiten und lebendiger Erfahrungen unter einen homogenen und linearen Code die wesentlichen Merkmale beider Konzepte und Strukturen gut erfasst. Staat und Kapital bilden den übergeordneten Bezugsrahmen moderner politischer und historischer Konzepte; sie konstituieren sich selbst als die zentralen Gewalten, die fähig sind zur Gestaltung des Feldes gesellschaftlicher und kultureller Erfahrung. Beide benötigen eine besondere Beziehung zur Subjektivität um zu existieren und sich zu reproduzieren. Kurz, wir können sagen, dass BürgerInnenschaft und Arbeit die Namen der Subjektivität unter der Herrschaft von Staat und Kapital sind. Selbstverständlich gibt es einen strukturellen Zusammenhang zwischen BürgerInnenschaft und Arbeit; für den US-amerikanischen Fall wurde das etwa von ForscherInnen wie David Montgomery und Evelyn Nakano Glenn historisch untersucht.[19] Der Status der Arbeit (die „freie Arbeit“, wie sie von der Rechtslehre des freien Vertrags vorgestellt und konstruiert wurde) war vom Anbeginn der Republik gekoppelt an den BürgerInnenschaftsstatus und an die Anerkennung als vollwertige/r, erwachsene/r BürgerIn. Trotz aller Unterschiede im Detail, in Bezug auf den zeitlichen Verlauf und die Gewaltsamkeit der damit zusammenhängenden Konflikte kann für Westeuropa dasselbe festgestellt werden.
Während die BürgerInnenschaft als abstrakter rechtlicher und politischer Rahmen aus einem Prozess der Brechung vielfacher „konkreter“ Zugehörigkeiten entstand, war die Vorstellung von der„freien“ Lohnarbeit die Auflösung aller Bindungen außer dem finanziellen Verhältnis zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn. Eine neue Objektivität bildete sich heraus – eine neue Sachlichkeit[20], um einen Begriff von Marx und Weber zu entlehnen, die ihn beide in ihren Kapitalismusanalysen verwendeten und damit eine bedeutende Kunstströmung der 1920er Jahre vorwegnahmen. Chakrabarty erinnert in Provincializing Europe mit Rückgriff auf Marx daran, dass diese Objektivität eine geisterhafte „gespenstische“ Objektivität ist.[21] Von ihr wurde angenommen, dass sie sich in den spezifischen Subjektpositionen von BürgerInnen und ArbeiterInnen widerspiegle.
Um eine lange (und komplexe) Geschichte kurz (und einfach) zu machen: Die Dyade BürgerIn-ArbeiterIn nahm nach dem 2. Weltkrieg weltweit eine vorherrschende Stellung ein, sei es in der Stachanov-Bewegung in der UdSSR, in der Glanzzeit US-amerikanischer Industriestädte wie Flint und Michigan, oder im disziplinierten Arbeitssubjekt der Pläne Nehrus. T. H. Marshall entwarf in den 1950er Jahren eine Art formaler Konzeptualisierung dieses dyadischen Schemas aus der Perspektive der Entwicklung der BürgerInnenschaft, indem er eine Bilanz dessen zog, was von Antonio Negri erfolgreich als ein lang andauernder Konstitutionalisierungsprozess der Arbeit beschrieben worden ist. Die Anerkennung – und die gleichzeitige Mystifizierung – der Macht der Arbeit (einer organisierten IndustriearbeiterInnenklasse) wurde im „Westen“ zur Basis neuer „sozialer Rechte“ und einer neuen „materiellen Verfasstheit, die Étienne Balibar als die Verfasstheit des „sozial-nationalen Staats“ bestimmt.[22]
Kalyan Sanyal hat in seinem wichtigen Buch über den postkolonialen Kapitalismus gezeigt, in welcher Weise die Neuzusammensetzung von Wissen und Macht, die diese Verfasstheit stützt, die nicht-westliche Welt erneut in der diskursiven Form der Entwicklung anrief.[23] Ihre materielle Wirksamkeit lag in eben diesem Angebot der Verallgemeinerung von Lohnarbeit als Voraussetzung für die vollständige Einsetzung der nationalen BürgerInnenschaft (und damit für das vollständige Erlangen der Souveränität, um die es in den antikolonialen Kämpfen um Unabhängigkeit im Grunde ging). Während die materiellen Bedingungen sowohl des „sozial-nationalen Staates“ als auch des Entwicklungsstandes von der „neoliberalen“ Politik und Rhetorik der letzten drei Jahrzehnte in Frage gestellt und zerstört wurden, genügt ein Blick auf die bedeutsamen Erfahrungen der gegenwärtigen „populären“ Regierungen in Lateinamerika, um festzustellen, wie grundlegend diese Verbindung von BürgerInnenschaft und Lohnarbeit die politische Vorstellungskraft insbesondere der Linken auch weiterhin bestimmt.[24]
Kehren wir zurück zur gewaltsamen Spannung, die das Verhältnis von so abstrakten Konzepten, Standards und Normen wie moderne BürgerInnenschaft und „freie“ Lohnarbeit zu jener Vielheit von Zeiten bestimmt, die für das „Leben“ konstitutiv sind. Ich halte das zweite Kapitel von Provincializing Europe für eine der geistreichsten und innovativsten Analysen dieses Verhältnisses. D.h., ich halte den von Chakrabarty darin entwickelten theoretischen Rahmen auch außerhalb des Bereichs von Kapital und Arbeit für gültig (in dem Sinn, dass er verwendet werden kann, um die Moderne im Allgemeinen kritisch zu untersuchen). Die Argumentation dieses Kapitels zusammenzufassen und detailliert zu diskutieren, sprengt den Rahmen dieses Essays. Es soll ausreichen festzuhalten, dass die Beziehung zwischen dem, was Chakrabarty „Geschichte 1“ nennt („eine vom Kapital selbst als seine eigene Voraussetzung gesetzte Vergangenheit“[25]) und „Geschichte 2“ (eine Menge von Geschichten und Vergangenheiten, die nicht vom Kapital selbst postuliert sind, aber dennoch zu „Vorgängerinnen“ und konstitutiven Elementen der kapitalistischen Verhältnisse werden können) nicht als dialektische Beziehung verstanden werden darf, der zufolge Geschichte 2 dem „dialektischen Anderen der notwendigen Logik von Geschichte 1“[26] entspräche. Der Begriff der Subsumption (man könnte auch von „Vereinnahmung“ sprechen) scheint angemessener, um zu beschreiben, was zur Debatte steht in diesem Verhältnis, das den theoretischen Schlüssel zum grundsätzlichen Problem liefert, mit dem es Chakrabarty hier zu tun hat: „Die Tatsache, dass der Kapitalismus [doch wir könnten hinzufügen: genauso wie die Moderne] global betrachtet einige allgemeingültige Züge aufweist, obschon jede konkrete kapitalistische Entwicklung [jedes Moment der ‚Modernisierung’] ihre einzigartige Geschichte besitzt […]“.[27]
Meine Lektüre von Chakrabartys Lösung für die aus dieser Tatsache resultierenden Probleme ist äußerst einfach. Um es schematisch auszudrücken: „Geschichte 1“ steht für die „allgemeingültigen Züge“ des Kapitalismus, während die Begegnung (mit allen Zusammenstößen, Gewaltsamkeiten und Katastrophen, die von dieser Begegnung verursacht wurden) zwischen „Geschichte 1“ und „Geschichte 2“ für die Einzigartigkeit jeglicher Geschichte kapitalistischer Entwicklung steht. Daraus folgen weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis der „räumlichen Koordinaten“ der Moderne, da ihre Geschichte nur mittels einer Vielheit von Perspektiven (Verortungen) rekonstruiert werden kann, die der Vielheit der „Begegnungen“ zwischen „Geschichte 1“ und „Geschichte 2“ entspricht.
Zugleich muss man den Umstand in Erwägung ziehen, dass all diese Begegnungen nicht nur „irgendwann einmal“ stattgefunden haben, zu einer Zeit, die (ich denke hier an Marx’ Debatte der „so genannten ursprünglichen Akkumulation“ im 1. Band des Kapitals) als die „Frühgeschichte“ von Kapitalismus und Moderne bezeichnet werden könnte. Vielmehr wiederholen sie sich jederzeit und überall in der Welt (und man sollte hinzufügen, dass „Geschichte 2“ selbst aufgrund der Vielheit von Zeiten, die die Gegenwart durchkreuzen, permanent auf einer völlig neuen Grundlage reproduziert wird).[28] Ich denke, das problematisiert die Möglichkeit, „alternative Modernen“ als endgültig konstituiert zu begreifen, samt gesicherten Merkmalen ihrer „kulturellen“ Besonderheiten. Die konstante Wiederholung der Begegnung zwischen „Geschichte 1“ und „Geschichte 2“ eröffnet einen theoretischen Raum, in dem der Konflikt um die Moderne, in Fischers Worten, die „Auseinandersetzung darum, was die Moderne bedeutet, wer sie geltend machen kann und aus welchen Gründen“, kritisch untersucht und politisch hinterfragt werden muss. Aus eben diesem theoretischen Raum heraus stelle ich die titelgebende Frage dieses Essays: Wie viele Geschichten der Arbeit?
3. Kapitalismus und die soziale Produktion von Differenz
Die Herausforderung der „Provinzialisierung Europas“ anzunehmen, bringt schwerwiegende Konsequenzen für die Europa-Studien mit sich. Wenn die Vorherrschaft Europas in der Geschichte der Moderne ins Wanken gerät, wird ein neuer Blick auf die europäische Geschichte selbst möglich, und es lässt sich etwa feststellen, wie umstritten, beschränkt und widersprüchlich auch hier der Einsatz abstrakter Standards von BürgerInnenschaft und „freier“ Lohnarbeit war. Die Existenz dessen, was noch immer weitgehend für das „Normalarbeitsverhältnis“ gehalten wird, d.h. die soziale Hegemonie relativ stabiler Lohnarbeit in der Gesamtheit der abhängigen Arbeit, prägte in Westeuropa eigentlich nur die Jahrzehnte des so genannten „Fordismus“ – mit bedeutenden Unterschieden und dramatischen Missverhältnissen in der Geschichte von Ländern und Regionen.
Aus dieser Perspektive scheint es, dass die Lohnarbeit als „Normalarbeitsverhältnis“ nur eine sehr kurze Geschichte hat. Sie ist offenkundig eine Kandidatin für das paradigmatische Beispiel jener „Klischees und Kurzformeln“, die die „imaginäre Gestalt“ Europas ausmachen, auf die sich Chakrabarty am Beginn von Provincializing Europe kritisch bezieht. In seinen grundlegenden Untersuchungen über die „Erfindung der freien Arbeit“ und die Entwicklung des Kapitalismus in der anglo-amerikanischen Welt hat Robert J. Steinfeld auf die vielfältigen Formen hingewiesen, durch die nicht-finanzieller (strafrechtlicher, administrativer, sozialer oder moralischer) Zwang zur Arbeit die Entwicklung der Angestelltenverhältnisse in England bis zum Ende des 19. Jahrhunderts charakterisiert hat. Steinfeld zeigt, dass „freie“ Lohnarbeit nicht das Ergebnis von freien Verträgen in freien Märkten war, sondern das Ergebnis von „Einschränkungen der Vertragsfreiheit in der sozialen und ökonomischen Gesetzgebung, die im letzten Viertel des Jahrhunderts“ unter dem Druck gravierender Arbeitskämpfe verabschiedet wurden. Darüber hinaus regt er an, jegliches „historistische“ Verständnis der Geschichte der Arbeit aufzugeben; er kehrt diese Perspektive um, und benützt etwa Schuldenknechtschaft und Sklaverei, um die Geschichte der Angestelltenverhältnisse in den Vereinigten Staaten zu überdenken (wo die Grenzen der Vertragsfreiheit durchaus anders gezogen waren, als in England).[29]
Wir sind hier – aus der Perspektive der Geschichte der Arbeit und des Kapitalismus in den Vereinigten Staaten – noch einmal mit dem Problem des Fortdauerns der „ursprünglichen Akkumulation“ konfrontiert. Marxistische HistorikerInnen haben solch „anomale“ Prozesse wie die Enteignung des Landes der ansässigen Bevölkerung und die Anwendung von Zwangsarbeit oder Sklavenarbeit allzu oft auf den Beginn der kapitalistischen Geschichte in den USA beschränkt, ohne die andauernde Reproduktion dieser Spuren in Gestalt von BürgerInnenschaft und Zusammensetzung der Arbeit zu berücksichtigen. Die „Löhne des Weißseins“ (The Wages of Whiteness), um einen Ausdruck zu verwenden, der von Du Bois 1935 eingeführt und von David Roediger zum Kernstück einer bemerkenswerten Interpretation der Beziehungen zwischen „race“ und Klasse in der Herausbildung der US-amerikanischen Arbeiterklasse gemacht wurde, durchbrechen und durchqueren bis heute die abstrakte Gestalt der „freien“ Lohnarbeit in diesem Land und spielen eine zentrale Rolle in der Produktion der Singularität der kapitalistischen Entwicklung in den USA.[30] Die „colour-line“ hat den Arbeitsmarkt auf besondere Art gespaltet, indem sie die Mobilität Nicht-Weißer so radikal regulierte und beschränkte, dass dies einer der bekanntesten Feststellungen von Marx über die „Arbeit im Allgemeinen“ und über die „abstrakte Universalität der wertschöpfenden Tätigkeit“ offensichtlich zu widersprechen scheint: „Ein solcher Zustand“, schrieb Marx 1857 in der Einleitung der Grundrisse, „ist am entwickeltsten in der modernsten Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaften — den Vereinigten Staaten. Hier also wird die Abstraktion der Kategorie Arbeit, Arbeit überhaupt, Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr.“[31]
Historisch weit realistischer (und wir werden eine theoretische Bilanz dieses historischen Realismus ziehen müssen) ist der Ansatz von Lisa Lowe, die sich auf eine enorme Menge von in den letzten Jahrzehnten geleisteten Untersuchungen stützt. „In der Geschichte der Vereinigten Staaten“, macht sie in Immigrant Acts geltend, „hat das Kapital seine Profite nicht durch das ‚Abstrakt’-werden der Arbeit maximiert, sondern durch die soziale Produktion von ‚Differenz’ […], die durch Rasse, Nation, geographische Herkunft und Gender markiert wurde.“[32] Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass diese Feststellung nicht nur für die USA gilt (obwohl ihre Gültigkeit für die USA von besonderer Wichtigkeit ist angesichts des vorherigen Zitats von Marx): Die Geschichte Lateinamerikas etwa liefert eine große Anzahl von Beispielen dafür, in welch unterschiedlicher Weise die „soziale Produktion von Differenz“ eine zentrale Rolle in der Subsumption der Arbeit unter das Kapital spielte. Das spiegelte sich auch in den facettenreichen und oft grausamen Formen von Kampf und Widerstand der lebendigen Arbeit gegen diese Subsumption wider. Wie wir von Michael Taussig gelernt haben, wurde A friend of the devil is a friend of mine lange vor seiner Interpretation durch Greatful Dead von afro-amerikanischen Zuckerplantagenarbeitern im westlichen Kolumbien sowie von indigenen Arbeitern in den Zinnminen Boliviens in ihrem Versuch gesungen, die Prozesse der „ursprünglichen Akkumulation“ und der Proletarisierung zu verarbeiten. Für sie ist der Teufel die anthropomorphe Verkörperung des Kapitals, doch ihre „Differenz“ ermöglicht ihnen eine Art Verhandlung mit dieser Gestalt, die der abstrakten Arbeit schwerfallen würde.[33]
Damit ist klar geworden, dass das, was ich vorher als „Normalarbeitsverhältnis“ bezeichnet habe, nicht nur eine ziemlich kurze Geschichte hat. Weit entfernt davon „normal“ zu sein, ist es vielmehr die Ausnahme, sobald man den historischen Kapitalismus in dem globalen Maßstab betrachtet, der dieses Verhältnis von Beginn an kennzeichnete. Dipesh Chakrabarty begann sein Umdenken der Geschichte der Arbeiterklasse vor mehr als zwanzig Jahren mit der Diskussion der Marx’schen Vorstellung, dass die „Vertragsfreiheit“ (die rechtliche und ökonomische Verhältnisse miteinander verknüpfte) für den kapitalistischen Standard gehalten werden sollte. Er machte darüber hinaus geltend, dass „die Gestalt des Arbeiters, die in seiner [Marx’] Darstellung des Kapitals angerufen wird, einer Person entspricht, die einer Gesellschaft zugehörte, in der die bürgerliche Vorstellung von Gleichheit kulturell verankert war“.[34] Chakrabartys Buch ist ein ausgezeichneter Beitrag zur Dekonstruktion dieser Marx’schen Annahmen mittels einer meisterhaften Analyse des sozialen und kulturellen Milieus der Arbeiter in den Jutespinnereien von Bengalen und der Formen ihrer politischen Mobilisierungen und Kämpfe.
Heute ist es durchaus zweifelhaft geworden, ob in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bürgerliche Vorstellung von Gleichheit tatsächlich in der populären und proletarischen Kultur „verankert“ war. Zugleich erweiterte die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte in der so genannten globalen Arbeitsgeschichte das Wissen um (und das Verständnis für) die tiefgreifende Heterogenität der Formen der Subsumption von Arbeit unter das Kapital, die den historischen Kapitalismus kennzeichnete. AutorInnen wie Marcel van der Linden, um nur einen wichtigen Namen zu nennen, haben erfolgreich gezeigt, wie die Zwangsarbeit in ihren wechselvollen Gestalten für das riesige Spektrum von Beziehungen und Anordnungen konstitutiv war (und ist), das die Geschichte und die Gegenwart des Kapitalismus im globalen Maßstab ausmacht. Aufgrund der Annahme, dass die „freie“ Lohnarbeit nur eine von vielen Möglichkeiten darstellt, durch die der Kapitalismus die Arbeitskraft in eine Ware verwandelt, entsteht ein viel breiteres und inklusiveres Konzept der globalen ArbeiterInnenklasse im historischen und gegenwärtigen Kapitalismus. Subalterne ArbeiterInnen, wie van der Linden es bevorzugt ausdrückt, „bilden eine vielfältige Gruppe, die Haussklaven, Naturalpächter, kleine Handwerker und Lohnempfänger beinhaltet. Ich denke, die ArbeitshistorikerInnen müssen versuchen, die historische Dynamik dieser ‚Multitude’ zu begreifen“.[35]
Angesichts der Bedeutung der Zwangsarbeit (und der vielfältigen Formen zwischen erzwungener und „freier“ Arbeit) aus den von der globalen Arbeitsgeschichte neu eröffneten Perspektiven, ist es angebracht, sich daran zu erinnern, dass die Vorstellung der Sklaverei selbst in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend von ForscherInnen revidiert wurde, die die Pionierarbeiten radikaler schwarzer Intellektueller und AktivistInnen wie W.E.B. Du Bois und C.L.R. James weiterführen. HistorikerInnen der Sklaverei in Amerika haben etwa seit langem darauf hingewiesen, dass die Arbeitsverhältnisse der Sklaverei in der Plantagenwirtschaft stets von den subjektiven Praktiken der SklavInnen angefochten und verhandelt wurden. Das bot die Möglichkeit – neben den enormen Unterschieden – auch einige unheimliche Ähnlichkeiten mit der Dynamik der Lohnarbeit hervorzuheben. „Beides waren ausverhandelte Verhältnisse“, schreibt Robert Steinfeld, „in denen sich die entscheidenden Ursachen der Macht der Arbeit glichen: Die Macht, die Arbeit niederzulegen und die Macht, weniger fleißig oder weniger gut zu arbeiten als möglich.“[36] Ähnliche Ergebnisse erbrachten kritische Untersuchungen zu den vielfältigen Versuchen, „the coolie beast“ in Südostasien zu zähmen, um eine Wendung aus dem Buchtitel von Jan Berman zu benutzen.[37]
Natürlich stellt diese eindrucksvolle Menge an historischer Forschung erneut eine radikale theoretische Herausforderung dar. Um es klar zu sagen: Im Gegensatz sowohl zur klassischen politischen Ökonomie als auch zur Marx’schen Argumentation kann die „freie“ Lohnarbeit nicht mehr länger als kapitalistischer Standard oder dessen Norm dargestellt werden. In einer Verknüpfung der Vorschläge von Marcel van der Linden und Yann Moulier Boutang sollte man eher von einer Vielheit der Formen „abhängiger“ Arbeit sprechen, die von der Sklavenarbeit zur informellen Arbeit und von der Lohnarbeit zur formal unabhängigen Arbeit reicht.[38] Den vielfältigen Weisen, durch die die Arbeitskraft zur Ware gemacht und dem Kapital subsumiert wird, entspricht die Einsetzung einer Vielzahl von Formen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Abhängigkeit und „Heteronomie“.
Ich denke, dass Chakrabartys Interpretation des Begriffs der abstrakten Arbeit in Provincializing Europe vor diesem Hintergrund gelesen werden sollte. Dazu kann eine Vorbemerkung hilfreich sein: Dieser Begriff spielt vielfältige Rollen und hat in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie verschiedene Bedeutungen, von denen manche in Chakrabartys Buch nicht ausführlich behandelt werden. Es ist von besonderer Bedeutung festzuhalten, dass die „abstrakte Arbeit“ etwa die Vorstellung und Vertretung einer Einheit der „Arbeitenden der Welt“ möglich macht, während die Indifferenz gegenüber der je besonderen Art der Arbeit als Grundlage dieser Abstraktion die Möglichkeit für eine der unvergesslichsten Definitionen jenes Widerspruchs eröffnet, der die kapitalistische Gesellschaft durchzieht: d.h., die Tatsache, dass die Arbeit zugleich „die absolute Armut als Gegenstand“ und „die allgemeine Möglichkeit des Reichtums als Subjekt und als Tätigkeit ist.“[39] Das wird für Marx nur insofern möglich, als die Arbeit „subjektiv dieselbe Totalität und Abstraktion an sich“ hat[40], die auch das Kapital kennzeichnet. Aus dieser Perspektive wird es ihm möglich, eine menschliche Tätigkeit jenseits der Arbeit zu denken und sich ein „Reich der Freiheit“ jenseits des „Reich[s] der Notwendigkeit“ vorzustellen, „da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“.[41]
Gleichwohl halte ich Chakrabartys theoretische Analyse der „abstrakten Arbeit“ in Provincializing Europe für eine wichtige Schwelle jedweder künftigen Debatte zum Thema. Indem er sie vom Begriff der „konkreten Arbeit“ trennt und der „lebendigen Arbeit“ gegenüberstellt, eröffnet er die Möglichkeit, die unterschiedlichen Modalitäten zu begreifen, durch die das Kapital die Arbeit, die – als lebendige – zutiefst von Vielheit gekennzeichnet ist, auf- und einnimmt. Diese Vielheit darf jedoch nicht mit der Heterogenität der kapitalistischen Formen der Subsumtion (der Auf- und Einnahme) von lebendiger Arbeit verwechselt werden. Diese Formen entstehen vielmehr aus der Vielfalt der „Begegnungen“ zwischen Kapital und Arbeit (um eine marxistische Kategorie anzuwenden, deren Bedeutung von Louis Althusser in seinen späten Schriften hervorgehoben wurde).[42] In diesen Begegnungen geht es um die gewaltsame Durchsetzung von etwas, das Chakrabarty als die „Hermeneutik des Kapitals“ bezeichnet, d.h. die abstrakte Arbeit als Wertmaß und zentraler Bestandteil in der Bestimmung dessen, „wie es [das Kapital] die menschliche Tätigkeit begreift“.[43]
4. Über Leben und Tod
Einige Seiten vor dem soeben wiedergegebenen Zitat formuliert Chakrabarty dasselbe Argument in leicht veränderter Form. Er schreibt: „Marx entlarvt die abstrakte Arbeit als den Schlüssel zu jenem uns vom Kapital aufgenötigten, hermeneutischen Raster, durch das wir die Welt verstehen.“[44] Das ist der Augenblick der Anrufung (um nochmals auf Althussers Terminologie zurückzugreifen), durch die die Subjektkonstitution ins Zentrum der Szenerie gerückt wird, in der das Kapital der lebendigen Arbeit begegnet. Man könnte hinzufügen, dass für Marx die abstrakte Arbeit nicht nur das Maß darstellt, durch das die Arbeit als solche vom Kapital im Produktionsprozess verwertet und ausgebeutet wird. Darüber hinaus besitzt die „abstrakt menschliche Arbeit“ eine „gespenstige Gegenständlichkeit“ (als „gemeinschaftliche Substanz“) der Warenform, eine geisterhafte Objektivität, die auch die Zirkulationssphäre prägt und die Anrufung des Kapitals durch die Lockung und Verführung der Waren weit über den Arbeitstag hinaus wiederholt.[45] Damit wird aus der Perspektive der Subjektkonstituierung eine erste Antwort auf die in der Überschrift dieses Essays gestellte Frage zumindest auf einer „epistemischen“ Ebene möglich. Man kann davon sprechen, dass es mindestens drei Geschichten der Arbeit gibt, denen unterschiedliche Prozesse der Subjektkonstituierung und unterschiedliche Kämpfe entsprechen: Erstens, die von der Anrufung des Kapitals geprägte Geschichte, die der Notwendigkeit des Kapitals entspricht, die abstrakte Arbeit als „hermeneutisches Raster“ und Maß zu benutzen, um die menschliche Tätigkeit zu „entziffern“ und in die Sprache des Werts zu übersetzen. Zweitens, die Geschichte, die von der wechselhaften Zusammensetzung vielfältiger Modalitäten der Subsumtion von Arbeit unter das Kapital geprägt ist und unterschiedliche historische und geographische Konstellationen des Kapitalismus kennzeichnet. Drittens, die von der konstitutiven Heterogenität der lebendigen Arbeit selbst geprägten Geschichte, die in beweglichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Formationen fassbar wird und dennoch jenem singulären Element gegenüber offen bleibt, das eine radikale Herausforderung für die Möglichkeit historischer, theoretischer und politischer Repräsentation darstellt.
Gayatri Spivak hat diesen letzten Punkt 1985 in eigene Worte gefasst, als sie schrieb, die „Subalterne bildet notwendigerweise die absolute Grenze für jegliche Narrativisierung der Geschichte in Logik.“[46] Das sollte uns nicht erschrecken, denn diese Herausforderung ist nicht neu. „Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ‚in’ uns und ‚außer’ uns“, schrieb Max Weber 1904.[47] Selbst wenn wir uns auf ein einzelnes „Objekt“ konzentrieren, um es vollständig zu begreifen, so fügte er in einer Art spinozistischen Wendung hinzu, verliert sich dessen Singularität, da die Vielheit der Objekte, aus der sie besteht, („die absolute Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit“) dazu tendiert, ihre Einheit zu sprengen und jeden Versuch, sie ein für alle Mal zu beschreiben, zunichte macht. Es gibt ein Element irrationaler Arbitrarität (Weber würde von „Glauben“ sprechen) in der Konstitution eines jeglichen Forschungsgegenstandes selbst. Während wir in unseren methodischen Verfahren und Forschungspraktiken die radikale Heterogenität der lebendigen Arbeit reflektieren müssen, ist es darüber hinaus erforderlich, verstärkt nach theoretischen Gerüsten zu suchen, die es ermöglichen, Geschichten der Arbeit zu schreiben, die sich der vielschichtigen Zeitlichkeiten bewusst sind, von denen sie durchkreuzt werden.
Auf allen drei hier schematisch unterschiedenen Ebenen lassen sich Geschichten von Kampf und Widerstand beschreiben (seien sie zentral organisiert oder autonom), die Störungen und Veränderungen in der „Entwicklung“ des Kapitalismus hervorbringen. Das bringt, wie etwa John Chalcraft argumentiert hat, die Notwendigkeit mit sich, „das Kapital zu vervielfältigen“. Ich bin auch der Ansicht, dass die „vielfältigen Regime von Produktion und Ausbeutung“, die die Geschichte und Gegenwart des Kapitalismus ausmachen, ohne jegliche „ökonomistische“ Voreingenommenheit untersucht werden müssen, da deren Konstruktion „nicht nur auf der Warenform“ beruht, „sondern ebenso auf Kriegsführung, Staat, Aufbau von Imperien, politischer Auseinandersetzung, BürgerInnenschaft, Beziehungen von Kapital und Arbeit, gewerkschaftlicher Organisation, Rassismus, Gender etc.“[48] Dennoch darf die Betonung der Elemente der Vielheit und Pluralität nicht dazu führen, das Moment der Einheit zu unterschätzen oder gar zu vergessen, das dem Begriff und der Logik des Kapitals innewohnt und das Gilles Deleuze und Félix Guattari als dessen „Axiomatik“[49] bezeichneten, d.h. als den Zwang, die menschliche Tätigkeit durch das „hermeneutische Raster“ der abstrakten Arbeit in die Sprache des Werts zu übersetzen, und damit auch die Anordnung der sozialen Verhältnisse, die aus diesem Zwang entstehen.
In Anlehnung an Chakrabarty habe ich den Begriff der lebendigen Arbeit bisher als Gegenstück zur abstrakten Arbeit verwendet. Bekanntlich hat Marx diesen Begriff in den Grundrissen vollständig ausgeführt, um die „Arbeit als Subjektivität“ von der in den Maschinen objektivierten „vergangenen“ und „toten“ Arbeit zu unterscheiden. Chakrabarty diskutiert die Beziehungen zwischen dem Marx’schen Begriff und Hegels Debatte des „Lebens“ in dessen Logik.[50] Die Gefahr der „Zergliederung“ der Einheit des „lebendigen Körpers“ mag durchaus eines der zentralen Anliegen in Marx’ Gebrauch des Begriffs der lebendigen Arbeit gewesen sein, und wir können dieses Anliegen auf den bemerkenswerten Seiten im ersten Band des Kapitals entdecken, die der Geschichte der Maschinerie und der modernen Industrie gewidmet sind.[51]
Gleichwohl tendiere ich dazu, den Abschnitt über das Leben in Hegels Logik in einer Weise zu lesen, die von Chakrabartys Lesart leicht abweicht. Ich möchte dabei die Bedeutung hervorheben, die Hegel dem Schmerz beimisst: „Die lebendigen Dinge haben das Vorrecht des Schmerzes“. Durch diesen Schmerz, so fügt Hegel hinzu, „wird eine einzelne Bestimmtheit zur Empfindung eines Negativen“, und bleibt „in dem Negativen ihrer selbst sich noch erhalten“.[52] Eugène Fleischmann hat in seiner Interpretation der Logik argumentiert, dass Hegel in der Enzyklopädie schreiben kann, dass der Tod – neben der Gefahr der Zergliederung des lebendigen Körpers – auch dessen Wahrheit ausmacht. Denn der „Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit ist das Hervorgehen des Geistes“[53].
Angesichts dieser Verbindung zwischen Hegels Analyse des Lebens, der „lebendigen Dinge“ und Körper auf der einen Seite und seiner Behandlung von Schmerz und Tod auf der anderen, kann man sich vorstellen, dass Marx von der Eingliederung von Hegels Begriff des Lebens – mit dessen unheimlichen Nebeneffekten – in den Begriff der Arbeit nicht sonderlich überzeugt war. Während Marx Hegels Betonung der Begrenztheit der lebenden Körper wohl teilte, musste ihm der Verweis auf das „Hervorgehen des Geistes“ im Bezug auf den Tod als Rechtfertigung der ungleichen Verteilung von „Schmerz“ in der Arbeit und Tätigkeit gleich gestalteter Subjekte erscheinen. In der Phänomenologie des Geistes hatte der Tod als „absoluter Herr“ eine zentrale Rolle eingenommen; durch die Vermittlung der „Angst“ sprengte er das einheitliche Feld der Subjektivität und teilte es in Knechte und Herren auf. Doch in der Logik und mehr noch in der Enzyklopädie tendierte der Tod eher dazu, das Feld der Subjektivität durch das „Hervorgehen des Geistes“ neu zu ordnen. Es ist daher anzunehmen, dass diese Unzufriedenheit einer der Gründe war, warum sich Marx nach dem Verfassen der Grundrisse Aristoteles zuwandte, dem wichtigsten Diskussionspartner Hegels im Abschnitt über das „Leben“ in der Logik. Der neue Begriff Arbeitskraft, den Marx im ersten Band des Kapitals einführt, zeigt deutliche Spuren seiner Beschäftigung mit Aristoteles, was sich bereits im Gebrauch des Begriffs Arbeitsvermögen in den Grundrissen angedeutet hatte.[54]
Mich interessiert an dieser Stelle die Tatsache, dass der Begriff der Arbeitskraft sowohl den Prozess der Abstraktion umfasst, den das Kapital im Kommodifizierungsprozess vollzieht, als auch die Vielheit, die dem „Leben“ innewohnt. Demnach werden diese Spannung zwischen abstrakter und lebendiger Arbeit und der Konflikt zwischen ihnen gewissermaßen dem Begriff der Arbeitskraft erneut eingeschrieben, der durch die Warenform bereits vom Kapital „bewohnt“ wird. Nun aber stellt sich die Vielheit des Lebens als eine Potenz dar, die von der tatsächlichen Arbeit unterschieden ist, wie Paolo Virno in seiner Analyse der „biopolitischen“ Beschaffenheit der Arbeitskraft besonders hervorhebt.[55] Marx hält fest: „Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.“[56] Die Unterscheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeit ist zentral für die Begründung der Marx’schen Ausbeutungstheorie, denn sie eröffnet eine Differenz zwischen dem Vertrag, durch den die Arbeitskraft zur Ware und gegen Lohn eingetauscht wird und der „Äußerung“, der „Konsumtion“ ihres Gebrauchswerts im Arbeitsprozess (in der „verborgenen Stätte der Produktion“), eine Differenz, in der mehr Wert produziert wird, als durch Lohn vergütet wird.[57]
Obwohl der Begriff „Arbeitskraft“ häufig für „ökonomistisch“ gehalten (und diskreditiert) wird, denke ich, dass die Betonung seiner „biopolitischen“ und „potenziellen“ Dimensionen zur Erweiterung und Vertiefung der Spannungen, der Gewalt sowie der Linien von Antagonismus und Konflikt führen könnte, die aus der Einschreibung des Lebens in den Begriff des Kapitals entstehen. Der Gegensatz zwischen einem „ökonomistischen“ und einem „kulturalistischen“ Ansatz sollte überwunden sein, sobald die Vereinnahmung des Lebens als solchem und die Befehlsgewalt darüber in seiner potenziellen Gestalt im Zentrum des Kapitalismus entdeckt worden sind. Damit könnte die Produktion von Subjektivität zum wichtigsten Feld der historischen und gegenwärtigen kritischen Kapitalismusforschung werden. Der Gegensatz zwischen Geld und Arbeitskraft ist für Marx, wie wir wissen, die Entgegensetzung von zwei völlig verschiedenen Modalitäten der Subjektivierung: Einerseits eine Beziehung des Subjekts zur Welt, die von einer in der Form von Geld akkumulierten gesellschaftlichen Macht vermittelt ist, und andererseits eine Beziehung des Subjekts zur Welt, die von seiner/ihrer Potenzialität abhängt. Sobald Geld und Arbeitskraft aus dieser Perspektive gesehen werden, scheinen sich die Grenzen zwischen Ökonomie und Kultur zu verwischen.[58]
Im Zusammenhang mit der vorliegenden Auseinandersetzung um die Konstituierung des Subjekts wird die Arbeitskraft insbesondere deshalb bedeutend, weil sie auf den notwendigen Prozess der Trennung (der Abstraktion) der „physischen und geistigen Fähigkeiten“ von der „Leiblichkeit“ (der „lebendigen Persönlichkeit“) verweist, die dem kapitalistischen Produktionsverhältnis logischerweise vorausgeht. Es ist bekannt, dass dieser Trennungsprozess die menschlichen Körper und „Seelen“ („ein bestimmtes Quantum von menschlichem Muskel, Nerv, Hirn“[59], um nochmals Marx zu zitieren) im Szenario der so genannten „ursprünglichen Akkumulation“ durchquert und durchschneidet. Aber eine nicht-„historistische“ Lesart dieses Szenarios hat uns bereits dazu veranlasst, ihre stete Wiederholung im gesamten Verlauf der kapitalistischen Entwicklung festzustellen. Auch wenn sich jetzt innerhalb des Begriffs der Arbeitskraft die Spannung zwischen Leben und Tod manifestiert (durch die Akkumulation der „toten Arbeit“ in Form der kapitalistischen Setzung einer abstrakten Norm zur „Vampirisierung“ der Lebenden), so stellt sich die lebendige Arbeit noch immer als ein notwendiger Exzess dar – man ist versucht zu sagen, als ein konstitutives Außen des Kapitalverhältnisses selbst.
5. Die Globalisierung der postkolonialen Problematik
Energie, Unruhe, Bewegung, Mobilität, sind die Worte, mit denen Marx die Arbeit als Lebenstätigkeit beschreibt, wie Nicholas De Genova jüngst betont hat. Er verweist auf die besondere Bedeutung einer solchen terminologischen Wahl im heutigen Zeitalter beispielloser Mobilität und Migration der lebendigen Arbeit.[60] Die Reduktion dieser Energie auf das Maß der abstrakten Arbeit und die Disziplinierung dieser Bewegung bedeutet die Produktion einer ganzen Anordnung politischer, rechtlicher, sozialer und kultureller Bedingungen, die einen stetigen „Nachschub“ von Arbeitskraft als Ware auf dem „Arbeitsmarkt“ garantieren. Die Unterscheidung zwischen der Arbeitskraft und ihren „TrägerInnen“ (lebendige Körper) erlaubt die analytische Beschreibung des Raumes, in dem die „soziale Produktion von Differenz“ (Lowe) stattfindet, etwa mittels Kriterien wie Gender und „Rasse“, die die Beziehung eines jeden einzelnen Subjekts zu seiner/ihrer Arbeitskraft radikal (d.h. strukturell und ursprünglich, nicht sekundär) bestimmen und damit auch die Modalität, durch die ein singuläres Subjekt auf seine/ihre „Potenzialität“ Zugriff nimmt. Aus diesem Grund wird der Begriff der Arbeitskraft, wie ich ihn bei Marx und über ihn hinaus zu entziffern versuche, weder zu einem abstrakten Begriff der Arbeit zurückführen noch zu einer universellen Vorstellung der Arbeiterklasse als einem homogenen politischen Subjekt. Der Nachschub von Arbeitskraft und deren Ausbeutung durch das Kapital können auf mannigfaltigen Wegen erfolgen – entsprechend der Heterogenität von Vereinnahmungs- und und Subsumtionsformen der lebendigen Arbeit, auf der ich zuvor bestanden habe. D.h., man kann den Begriff Arbeitskraft anwenden, ohne ihn zwangsläufig und ausschließlich zum Lohnarbeitsvertrag und zum abstrakten und universellen Modell des „Rechtssubjekts“ in Bezug zu setzen.
Damit sollte klar geworden sein, dass ich keinerlei Art von Rückkehr zum Marxismus oder zu Marx’schen Begriffen als solchen vorschlage. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass diese Begriffe ein noch immer machtvolles und bislang unerforschtes kritisches Potenzial besitzen, bin ich mir doch der Unzulänglichkeiten bewusst, von denen sie geprägt sind und die zuletzt etwa von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth in ihrem wichtigen, vor kurzem auf Deutsch erschienenen Buch diskutiert wurden. Ausgehend von den Untersuchungsergebnissen zur globalen Arbeitsgeschichte in Verbindung mit einer langen Tradition feministischer Kritik zeigen sie erfolgreich, dass Marx’ Begriffe der Arbeiterklasse und der Arbeit auf der Basis eines einzigen Segments der arbeitenden Weltbevölkerung entwickelt wurden, und daher nicht die unterschiedlichen Realitäten und subjektiven Erfahrungen der abhängigen Arbeit im Kapitalismus fassen konnten. Darüber hinaus weisen Roth und van der Linden auf die kaum gesehene Tatsache hin, dass selbst die zentrale Unterscheidung zwischen Arbeit und Tätigkeit in vielen nicht-europäischen Sprachen gar nicht existiert, sodass eine „transkulturelle“ Verwendung solcher Begriffe problematisch erscheint – doch selbstverständlich nicht unmöglich wäre.[61]
Selbst der Begriff der Arbeitskraft, den ich in meiner Ausführungen zu Chakrabartys Lesart der Beziehung zwischen abstrakter und der lebendiger Arbeit aus der Perspektive der Subjektkonstituierung zu interpretieren versucht habe, ist nicht völlig frei von den Unzulänglichkeiten, die auf Marx’ Betonung der „freien“ Lohnarbeit als dem regulären Arbeitsverhältnis im Kapitalismus zurückgehen. Der Begriff der Arbeitskraft wurde von Marx eben deshalb entwickelt, um diese These zu stützen und theoretisch zu begründen. Das Gespenst der Sklaverei (der persönlichen ebenso wie der „Lohnsklaverei“) verfolgte Marx seit dem Beginn seiner Beschäftigung mit der Kritik der politischen Ökonomie. „Der Proletarier“, schrieb Engels 1845 in Die Lage der arbeitenden Klasse in England „ist also rechtlich und tatsächlich der Sklave der Bourgeoisie; sie kann über sein Leben und seinen Tod verfügen.“[62] Mit der Unterscheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeit hoffte Marx schließlich die Grundlage für eine Theorie der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit geschaffen zu haben, die in der Lage war, die Besonderheit des modernen Kapitalismus, der auf der „freien“ Arbeit und nicht auf der Sklaverei beruht, ebenso zu begreifen wie die Realität der diesen Beziehungen zugrunde liegenden Ausbeutung. Im Gegensatz zu vielen „marxistischen“ Abwertungen des Gesetzes als eines Elements des „Überbaus“, spielte es in der Argumentation von Marx eine konstitutive Rolle.
„Damit ihr Besitzer sie als Ware verkaufe, muss er über sie verfügen können, also freier Eigentümer seines Arbeitsvermögens, seiner Person sein. Er und der Geldbesitzer begegnen sich auf dem Markt und treten in Verhältnis zueinander als ebenbürtige Warenbesitzer, nur dadurch unterschieden, dass der eine Käufer, der andre Verkäufer, beide also juristisch gleiche Personen sind.“[63]
Der „freie“ Lohnarbeitsvertrag gründet bekanntlich auf dieser Begegnung zwischen „gleichen“ Subjekten und er wird von Marx als ein Vertrag gedacht, durch den eine besondere Ware, die Arbeitskraft, ge- und verkauft wird. Thomas Kuczynski und andere haben argumentiert, dass es im Anbetracht von Marx’ Definition der Arbeitskraft und insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass sie von ihrem „Träger“, dem lebendigen Körper der/des ProletarierIn untrennbar ist, leicht verständlich wird, dass es eine logische Unmöglichkeit darstellt, die Arbeitskraft als Ware auf dem „Arbeitsmarkt“ zu verkaufen. Der Akt des Verkaufens setzt die Veräußerung eines Gutes voraus, und diese Veräußerung erfolgt nur in dem Fall, den Marx aus der regulären Dynamik des modernen Kapitalismus entfernen wollte, nämlich der Sklaverei.[64] Marx fügt zwar hinzu:
„Die Fortdauer dieses Verhältnisses erheischt, dass der Eigentümer der Arbeitskraft sie stets nur für bestimmte Zeit verkaufe, denn verkauft er sie in Bausch und Bogen, ein für allemal, so verkauft er sich selbst, verwandelt sich aus einem Freien in einen Sklaven, aus einem Warenbesitzer in eine Ware.“[65]
Aber der Verkauf eines Gutes „nur für bestimmte Zeit“ ist tatsächlich eine äußerst merkwürdige gesetzliche Variante des Vertrags und man muss sich vor Augen halten, dass Marx in seinem terminologischen und konzeptuellen Gebrauch einerseits sehr vorsichtig war, und ihn die juristischen Studien in seiner Jugend andererseits zum gelernten Juristen gemacht hatten. Aus dieser Perspektive ist es äußerst bemerkenswert, dass er eine so bizarre gesetzliche Konstruktion vorschlug, die darin gipfelte, das Gespenst der Sklaverei ins Innere der Struktur der „freien“ Lohnarbeit einzuschreiben.[66] Anstatt von Kauf und Verkauf der Arbeitskraft zu sprechen, scheint es angebrachter von Leasing, Miete und Verleih zu sprechen: Das eröffnet die Möglichkeit, die heterogenen Modalitäten der Subsumtion lebendiger Arbeit zu begreifen, die, wie bereits hervorgehoben wurde, für den historischen Kapitalismus charakteristisch sind. Das ermöglicht darüber hinaus eine weitere bedeutende Tatsache in den Griff zu bekommen, nämlich die Rolle einer Vielheit von rechtlichen, informellen und illegalen „Mittelsmännern“ und Agenturen, die zwischen Arbeitenden und Arbeitgebenden vermitteln. Es fällt leicht einzusehen, dass es sich dabei um Merkmale handelt, die nicht nur den „historischen“ Kapitalismus prägten, sondern auch für den gegenwärtigen globalen Kapitalismus konstitutiv sind. Von der einseitigen Bindung an die „freie“ Lohnarbeit entkoppelt und als Leben in seiner potenziellen Gestalt begriffen, erklärt der Begriff der Arbeitskraft bestens die „Vereinnahmung“ des Werts, der durch gesellschaftliche Zusammenarbeit außerhalb des Produktionsprozesses hervorgebracht wird und von der das Finanzkapital verstärkt charakterisiert ist. Darüber hinaus wird ein theoretisches Verständnis der Ausbreitung unbezahlter Arbeit im Rahmen der gegenwärtigen Prozesse der Prekarisierung und Flexibilisierung von Arbeit möglich.[67]
Die drei Geschichten der Arbeit, die ich in diesem Essay herauszuarbeiten versucht habe, verweisen demnach auch auf eine Reihe von Untersuchungen und kritischen Forschungen im Hinblick auf die gegenwärtige Zusammensetzung der lebendigen Arbeit. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Provinzialisierung Europas einen neuen Blick auf Europa selbst ermöglicht. Die Krise des Fordismus hat auch hier, in den ehemals „metropolitanen“ Territorien, rasch jene radikale Heterogenität von Arbeitsverhältnissen hervorgebracht, die lange Zeit ein Merkmal der kolonialen Welt war. Das eröffnet einen Raum, in dem es sinnvoll wird, von einem „postkolonialen Kapitalismus“ zu sprechen. Die Spuren der Wiederholung der „ursprünglichen Akkumulation“ werden insbesondere – wenn auch nicht ausschließlich – in der Überwachung, Handhabe und Kontrolle der migrantischen Arbeit sichtbar, und das ist nicht nur in Europa der Fall. In zahlreichen seiner neuesten Schriften hat etwa Ranabir Samaddar die tiefgreifende Heterogenität der Arbeitsverhältnisse beschrieben, die die Zusammensetzung der lebendigen Arbeit im zeitgenössischen Indien durchzieht. Zugleich verweist er auf eine andere Art der Globalisierung , die wir als subalterne Globalisierung bezeichnen könnten und die die kapitalistische Globalisierung begleitet.[68] Migration und Mobilitätspraktiken spielen eine zentrale Rolle in dieser subalternen Globalisierung und die Kontrollregime der Arbeitsmigration produzieren zugleich Effekte in den Verhältnissen der unterschiedlichen subjektiven Gestalten und Positionen, die die gegenwärtige lebendige Arbeit ausmachen.
Der globale Kapitalismus wird immer stärker von diesen Elementen der Heterogenität bestimmt, der zeitgenössischen und strukturell verwandten Existenz von „neuer Ökonomie“ und Sweatshops, der Korporatisierung von Kapital und Akkumulation in „ursprünglichen“ Formen, sowie von Finanzialisierungsprozessen und Zwangsarbeit. Unter diesen Bedingungen ist Samaddars Bezug auf eine „Globalisierung der postkolonialen Schwierigkeit“ ein brauchbarer Vorschlag im Hinblick auf die Entwicklung einer Theorie des „postkolonialen Kapitalismus“. Man sollte sich erneut an Chakrabartys Hinweis erinnern, und zwar an „die Tatsache, dass der Kapitalismus global betrachtet einige allgemeingültige Züge aufweist, obschon jede konkrete kapitalistische Entwicklung ihre einzigartige Geschichte besitzt“.[69] Das bedeutet, dass eine kritische Theorie des postkolonialen Kapitalismus „universelle“ Konzepte mit Vorsicht behandeln muss. Das Adjektiv „postkolonial“ verweist auf die Bedeutung unterschiedlicher Maßstäbe, Orte und Geschichten in der zeitgenössischen Struktur des Kapitalismus, was in den Theorien des „globalen“ Kapitalismus leicht verloren geht. Um diese Theorie weiter zu entwickeln, wird es mit Chakrabartys Worten aus der Einleitung zu Provincializing Europe darum gehen, „die Anerkennung der ‚politischen’ Notwendigkeit in Begriffen der Totalität zu denken, und zugleich das totalisierende Denken dadurch zu destabilisieren, dass nicht-totalisierenden Kategorien ins Spiel gebracht werden.“[70] Das ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn wir versuchen, die Dynamik der Subjektformation, die Bewegungen und Kämpfe zu beschreiben und vorwegzunehmen, die den Kapitalismus herausfordern, und die die Bedingungen dafür schaffen, ihn in lokalisierter und situierter Form zu überwinden. Anstatt nach alten oder neuen universellen Subjekten zu suchen, sollten wir vielmehr die spannungsgeladenen und konfliktbehafteten Prozesse der Produktion von gemeinsamen Bedingungen untersuchen, die den Weg zu einer neuen Bewohnbarkeit der Welt eröffnen können. Im Zeitalter des Anthropozän ist dies vermutlich dringlicher denn je.[71]
Der Text erschien in einer früheren Fassung in: Postcolonial Studies 14(2),
2011, S. 151–170.
[1] [Anm. d. Übers.: Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton: Princeton University Press 2000. Auf Deutsch liegen unterschiedliche Publikationen mit ähnlichem Titel vor, die allerdings in keinem Fall eine vollständige Übersetzung dieses Werks bieten. Vgl. etwa Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main: Campus 2010; oder Dipesh Chakrabarty: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian Conrad und Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Campus 2002.]
[2] [Anm. d. Übers.: Amitav Ghosh: Schattenlinien, übers. v. Matthias Müller, München: btb 2003.]
[3] Vgl. Amitav Ghosh und Dipesh Chakrabarty: A Correspondence on Provincializing Europe, in: Radical Historical Review 83, 2002, S. 146–172 (mit einer Einleitung von Duane Corpis, S. 143–145, der ich dieses Zitat entnommen habe).
[4] [Anm. d. Übers.: Amitav Ghosh: Das mohnrote Meer, übers. v. Barbara Heller u. Rudolf Hermstein, München: Blessing Verlag 2008.]
[5] Zum Verhältnis von Übersetzung und Moderne, vgl. Naoki Sakai: Translation and Subjectivity. On „Japan“ and Cultural Nationalism, Minneapolis und London: University of Minnesota Press 1997; oder Sandro Mezzadra: Leben im Übergang. Zu einer heterolingualen Theorie der Multitude, übers. v. Therese Kaufmann u. Tom Waibel, in: transversal, eipcp web-journal 2007. http://eipcp.net/transversal/1107/mezzadra/de
[6] Vgl. etwa Étienne Balibar: What is a Border, in: Politics and the Other Scene, London: Verso 2002, S. 75–86.
[7] Carlo Galli: Political Spaces and Global War, Minneapolis: University of Minnesota Press 2010, S. 54.
[8] Vgl. Michael Hardt und Antonio Negri: Commonwealth, Cambridge/MA: Harvard University Press 2009, 2. Teil. Im Bezug auf die „nekropolitischen“ Seiten der Moderne, vgl.: Achille Mbembe: Necropolitics, in: Public Culture 15(1), 2003, S. 11–40.
[9] Vgl. etwa Dilip Parameshwar Gaonkar (Hg.): Alternative Modernities, Durham/NC und London: Duke University Press 2001.
[10] Sibylle Fischer: Modernity Disavowed. Haiti and the Cultures of Slavery in the Age of Revolution, Durham/NC und London: Duke University Press 2004, S. 24.
[11] Sibylle Fischer, Modernity Disavowed, S. 22.
[12] Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton: Princeton University Press 2000, S. 4.
[13] Vgl. Sanjay Seth: Subject Lessons. The Western Education of Colonial India. Durham/NC und London: Duke University Press 2007.
[14] Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe, S. 8.
[15] [Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.]
[16] Vgl. insbesondere Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. Zu den Parallelen zwischen Chakrabarty und Koselleck vgl. Sandro Mezzadra und Federico Rahola: The Postcolonial Condition. A Few Notes on the Quality of Historical Time in the Global Present, in: Postcolonial Text, 2(1), 2006, http://postcolonial.org/index.php/pct/article/view/393/819.
[17] [Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.]
[18] Johann Gottfried Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der Reinen Vernunft, Leipzig: Johann Friedrich Hartknoch 1799, S. 120–121.
[19] Vgl. David Montgomery: Citizen Worker, New York: Oxford University Press 1993, und Evelyn Nakano Glenn: Unequal Freedom. How Race and Gender Shape American Citizenship and Labor, Cambridge/MA und London: Harvard University Press 2004.
[20] [Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.]
[21] Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main: Campus 2010, S. 123.
[22] Vgl. Thomas Humphrey Marshall: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, übers. v. Elmar Rieger, Frankfurt/Main: Campus 1992, sowie Antonio Negri: Il lavoro nella Costituzione, Verona: Ombre Corte 2009, und Étienne Balibar: Politics and the Other Scene, S. 66.
[23] Vgl. Kalyan Sanyal: Rethinking Capitalist Development. Primitive Accumulation, Governmentality and Post-Colonial Capitalism, London: Routledge 2007.
[24] Vgl. Giuseppe Cocco und Antonio Negri: GlobAL. Biopotere e lotte in America Latina, Roma: Manifestolibri 2006.
[25] Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 136.
[26] Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 139.
[27] Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 115.
[28] Vgl. Sandro Mezzadra: The Topicality of Pre-history. A New Reading of Marx’s Analysis of „So called Primitive Accumulation“, in: Rethinking Marxism, Volume 23, Issue 3, 2011, S. 302–321.
[29] Robert J. Steinfeld, The Invention of Free Labor. The Employment Relation in English and American Law and Culture. 1350–1870, Chapel Hill/NC und London: University of North Carolina Press 1991, S. 9; sowie ders., Coercion, Contract and Free Labor in the Nineteenth Century, Cambridge und New York: Cambridge University Press 2001, S. 4–6 und S. 10.
[30] W.E.B. Du Bois: Black Reconstruction in America 1860–1880, New York: Free Press 1998, S. 700; und David R. Roediger: The Wages of Whiteness. Race and the Making of the American Working Class, London: Verso 1999.
[31] Karl Marx: Einleitung [zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“, 1857], in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Band 42, Berlin/DDR: Dietz Verlag 1983, S. 56. Diese Feststellung ist umso bemerkenswerter im Hinblick auf das, was Marx wenige Jahre später im 1. Band von Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie über die Vereinigten Staaten schrieb: „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“ Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Band 23, Das Kapital, Bd. I, Dritter Abschnitt, Berlin/DDR: Dietz Verlag 1962 S. 318. (Im Folgenden zitiert als: Karl Marx: Das Kapital, Bd. I). Sicherlich war Marx davon überzeugt, dass der Bürgerkrieg und die Emanzipation jener Epoche ein Ende setzten, in der „die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete“. Doch unabhängig davon was man von dieser Überzeugung halten mag, ist die Einleitung 1857 geschrieben worden, als die Arbeit eindeutig „in schwarzer Haut gebrandmarkt“ wurde. In jedem Fall waren Marx’ Interesse am und seine Schriften über den Bürgerkrieg bestimmt grundlegende Momente für die Überarbeitung seiner Standpunkte im Hinblick auf die USA.
[32] Lisa Lowe: Immigrant Acts. On Asian American Cultural Politics, Durham/NC und London: Duke University Press 1996, S. 28–29.
[33] Vgl. Michael Taussig: The Devil and Commodity Fetishism in South America, Chapel Hill/NC: University of North Carolina Press 1980.
[34] Dipesh Chakrabarty: Rethinking Working Class History. Bengal 1890–1940, Princeton/NJ: Princeton University Press 1989, S. 3.
[35] Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays Toward a Gobal Labor History, Leiden und Boston: Brill 2008, S. 32.
[36] Robert Steinfeld, Coercion, Contract and Free Labor, S. 8. Unter den jüngsten Arbeiten zur Sklaverei in den USA ist im Hinblick auf die vorliegende Analyse das Buch von Stephen M. Best, The Fugitive’s Property. Law and Poetics of Posession von besonderer Bedeutung. Hier werden die Gesetzgebungen zu Sklaverei und geistigem Eigentum ausführlich als zwei Bereiche diskutiert, „die exzentrisch sind im Bezug auf Grundbesitz und emphatisch im Bezug auf die Erweiterung von Besitz ins Flüchtige und Vergängliche und dazu beitragen, das eigentliche Wesen von Besitz im Amerika des 19. Jahrhunderts neu zu bestimmen.“ Stephen M. Best, The Fugitive’s Property. Law and Poetics of Posession, Chicago und London: University of Chicago Press 2004, S. 16. Noch bedeutsamer für die folgende kritische Analyse der marxistischen Begriffe „Arbeitskraft“ und „freie“ Lohnarbeit ist Bests Debatte „der beiden Körper des Sklaven“ und der Unterscheidung, die von vielen BefürworterInnen der Sklaverei zwischen der Person des Sklaven/der Sklavin getroffen wird, die nicht als Eigentum gesehen wurde, und seiner/ihrer Arbeit, für die das sehr wohl galt. (Vgl. z.B. S. 8–9).
[37] Jan Berman: Taming the Coolie Beast. Plantation Society and the Colonial Order in Southeast Asia, Delhi und New York: Oxford Unversity Press 1989.
[38] Vgl. Yann Moulier Boutang: De l’esclavage au salariat. Économie historique du salariat bridé, Paris: Puf 1998; und Marcel van der Linden: Workers of the World, (insbesondere S. 33 mit Bezug auf die Diskussion des im Text erwähnten Begriffs der „institutionalisierten Heteronomie“ von Cornelius Castoriadis).
[39] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1857, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Band 42, Berlin/DDR: Dietz Verlag 1983, S. 232.
[40] Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, S. 232.
[41] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Band 25, Das Kapital, Bd. III [1893], Siebenter Abschnitt, Berlin/DDR: Dietz Verlag 1983 S. 828.
[42] Vgl. Louis Althusser: Materialismus der Begegnung, Zürich und Berlin: Diaphanes 2010.
[43] Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 129.
[44] Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 126 (Hervorhebung v. Sandro Mezzadra).
[45] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, S. 52.
[46] Gayatri Chakravorty Spivak: Subaltern Studies. Deconstructing Historiography, in: Ranajit Guha und Gayatri Chakravorty Spivak (Hg.): Selected Subaltern Studies, New York: Oxford University Press 1988, S. 3–32, hier S. 16.
[47] Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hgg. v. Johannes Winckelman, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1985 [1922], S. 171. [Anm. d. Übers.: Diese Abhandlung wurde nach Auskunft von Marianne Weber beim Übergang des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik an die Herausgeber Werner Sombart, Max Weber, Edgar Jaffé veröffentlicht. Der Text ist online abrufbar unter http://www.zeno.org/nid/20011440120].
[48] John Chalcraft: Pluralizing Capital. Challenging Eurocentrism: Toward Post-Marxist Historiography, in: Radical History Review, 91, 2005, S. 13–39, hier S. 28.
[49] Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, hg. v. Günther Rösch, Berlin: Merve 1992., S. 605. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die Vorherrschaft dieser Axiomatik Deleuze und Guattari zufolge eine „Isomorphie“ produziert, die sowohl „intensiv“ (d.h. in jeder „sozialen Formation“) als auch „extensiv“ (d.h. im Weltmaßstab des modernen Kapitalismus) untersucht werden muss. Doch Deleuze und Guattari betonen, dass es falsch wäre, „Isomorphie mit Homogenität zu verwechseln“: [Die Isomorphie] ermöglicht, sie „erfordert vielmehr“ eine große Menge an sozialer, zeitlicher und räumlicher Heterogenität. Hier ist eine interessante Parallele festzustellen sowohl zu Chakrabartys Betonung der „gemeinsamen Charakteristika“, die den globalen Kapitalismus kennzeichnen, als auch zur Tatsache, dass „jedes Moment der kapitalistischen Entwicklung über eine eigene Geschichte verfügt“.
[50] Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 132.
[51] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, Kapitel 13 „Maschinerie und große Industrie“.
[52] G.W.F. Hegel: Die Wissenschaft der Logik [1830], Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, §60. „Der Schmerz ist daher das Vorrecht lebendiger Naturen; weil sie der existirende Begriff sind, sind sie eine Wirklichkeit von der unendlichen Kraft, dass sie in sich die Negativität ihrer selbst sind, dass diese ihre Negativität für sie ist, dass sie sich in ihrem Anderssein erhalten.“
[53] Vgl. Eugène Fleischmann: La science nouvelle ou La logique de Hegel, Paris: Plon 1968, Kapitel 11. Für das Hegel-Zitat siehe G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse: 1. Die Wissenschaft der Logik [1830], § 222.
[54] Vgl. dazu die detaillierte Textanalyse von Michel Vadée: Marx penseur du possible, Paris: Meridiens Klinksieck 1992, S. 269–291.
[55] Vgl. Paolo Virno: Il ricordo del presente. Saggio sul tempo storico, Turin: Bollati Boringhieri 1999, S. 121–122. Marx schreibt: „Der Gebrauch der Arbeitskraft ist die Arbeit selbst. Der Käufer der Arbeitskraft konsumiert sie, indem er ihren Verkäufer arbeiten läßt. Letztrer wird hierdurch actu (tatsächlich) sich betätigende Arbeitskraft, Arbeiter, was er früher nur potentia (dem Vermögen nach) war.“ Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, S. 192.
[56] Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, S. 181.
[57] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, S. 187–190. Es ist möglich die Ausarbeitung dieser Unterscheidung in den Grundrissen zu verfolgen. Marx schreibt in Hinblick auf den Tausch von Kapital und Arbeit: „Der Arbeiter tauscht seine Ware, die Arbeit, den Gebrauchswert, die als Ware auch einen Preis hat, wie alle andren Waren, aus gegen eine bestimmte Summe Tauschwerte, bestimmte Summe Geld, die das Kapital an ihn abläßt.“ (Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 214). Hier stellt die Arbeit noch immer eine Ware dar, die vom Arbeiter „verkauft“ wird. Aber einige Seiten später ist zu lesen: „Denn der Gebrauchswert, den er anbietet, existiert nur als Fähigkeit, Vermögen seiner Leiblichkeit; hat kein Dasein außerhalb derselben.“ (Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 222).
[58] Vgl. Sandro Mezzadra: Bringing Capital back in: A Materialist turn in Postcolonial Studies?, in Inter-Asia Cultural Studies, 12(1), 2011, S. 154–164.
[59] Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, S. 185.
[60] Nicholas P. de Genova: The Deportation Regime. Sovereignty, Space and the Freedom of Movement, in: Nicholas P. de Genova und Nathalie Peutz (Hg.): The Deportation Regime. Sovereignty, Space and the Freedom of Movement, Durham/NC: Duke University Press 2010, S. 33–65, hier S. 40.
[61] Vgl. Das einleitende sowie das abschließende Kapitel der Herausgeber, in: Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth (Hg): Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin und Hamburg: Assoziation A 2009, S. 7–28 und 556–600.
[62] Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Band 2, Berlin/DDR: Dietz Verlag 1972 S. 307.
[63] Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, S. 182.
[64] Vgl. Thomas Kuczynski: Was wird auf dem Arbeitsmarkt verkauft?, in Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth (Hg.): Über Marx hinaus, S. 363–379. Der erste, der meines Wissens dieses Argument vorbrachte, war Franz Oppenheimer: Die soziale Frage und der Sozialismus. Eine kritische Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie, Jena: Verlag Gustav Fischer 1912, S. 119–122.
[65] Karl Marx: Das Kapital. Bd. I , MEW 23, S. 182.
[66] Die Analogien zwischen Sklaverei und Lohnarbeit waren im 19. Jahrhundert selbstverständlich ein zentrales Thema in der Debatte um Arbeitsfragen in Europa und insbesondere in den USA. Der Ausdruck „Lohnsklaverei“ war in diesen Debatten vielfach im Umlauf und er wurde auch von Marx benützt. Auch wenn David Roediger (in Wages of Whiteness) zurecht auf die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks in den USA insbesondere vor der Gleichberechtigung hingewiesen hat (da er die Tendenz aufwies, einen Gegensatz zwischen „freier“ weißer Arbeit und versklavter schwarzer Arbeit zu entwerfen), sollte nicht vergessen werden, dass die Bedeutungen dieses Ausdrucks weit komplexer waren und sowohl Fragen nach dem Besitz der eigenen Person mit einschlossen, die für die Entwicklung des Liberalismus seit John Locke eine zentrale Bedeutung besaßen, als auch Fragen nach dem Kauf, Verkauf und dem Besitz menschlichen Eigentums. Amy Dru Stanley schreibt etwa: „Arbeitersprecher benutzten die Frage, um auf vielerlei Weise zu argumentieren, dass es keinen tatsächlichen Unterschied zwischen dem Warenverhältnis von Freiheit und Sklaverei gebe. Sie beklagten nicht nur, dass Lohnsklaven nicht in der Lage waren, die Arbeitszeit unabhängig von ihrer jeweiligen Person zu verkaufen, sondern auch, dass der Verkauf – von einem Herrn zum nächsten – ihre gesamte Lebenszeit über andauerte. Da die lange Arbeitszeit einzelner Tage sich über Wochen und Jahre ins Endlose ausdehnten, grenzte der Mietlingsstatus immer näher an den Sklavenstatus.“ Amy Dru Stanley: From Bondage to Freedom. Wage Labor, Marriage and the Market in the Age of Slave Emancipation, New York: Cambridge University Press 1998, S. 93. Stanleys Buch ist von besonderer Bedeutung, da es die Ehe und das häusliche Leben in der kritischen Debatte um die „Vertragsfreiheit“ in den USA nach der Gleichberechtigung der Arbeit zur Seite stellt: Obwohl die Diskussion dieses Punkts den Rahmen des vorliegenden Essays sprengt, ist es wichtig daran zu erinnern, welches Gewicht feministische Aktivistinnen und Wissenschafterinnen in den letzten beiden Jahrhunderten auf die Analogien von Sklaverei, Ehe und Arbeitsverhältnis gelegt haben.
[67] Vgl. Andrea Fumagalli und Sandro Mezzadra (Hg.): Crisis in the Global Economy. Financial Markets, Social Struggles and New Political Scenarios, New York: Semiotext(e) 2010; sowie Andrew Ross: Nice Work if You Can Get It. Life and Labor in Precarious Times, New York und London: New York Unversity Press 2009.
[68] Ranabir Samaddar: Primitive Accumulation and Some Aspects of Work and Life in India in the Early Part of the Twenty-first Century, in Economic and Political Weekly, 44(18), 2. Mai 2009, S. 33–42; oder ders.: The Marginal Nation. Transborder Migration from Bangladesh to West Benghal, New Delhi und London: Sage 1999; und ders.: The Materiality of Politics, 2 Bde, London, New York und Delhi: Anthem Press 2007, insbesondere Bd. 1, Kapitel 5, („Stabile Herrschaft und instabile Bevölkerung“).
[69] Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 155.
[70] Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe, S. 21–22.
[71] Die Referenz dazu ist selbstverständlich Dipesh Chakrabarty: The Climate of History: Four Theses, in: Critical Inquiry, 35, 2009, S. 197–222.