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12 2023

Wir wissen nicht, was die Kämpfe vermögen

Marta Malo & Verónica Gago

Übersetzung: Gerald Raunig

Präambel

Viele von uns sind am Samstag, den 17. Dezember 2023, mit der Nachricht von Toni Negris Tod aufgewacht. Der erste Impuls: an unsere Freund_innen zu schreiben, an die vielen, mit denen wir unsere Liebe zu diesem cattivo maestro geteilt hatten, der uns immer wieder den Mut gelehrt hat, gegen den Strich der Geschichte zu denken, zugunsten der Revolte. In diesen Nachrichten, die uns halfen, den Schock zu überwinden und mit der Trauerarbeit zu beginnen, aber auch in den raschen Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken und Zeitungen, tauchte die breite Geographie der politischen Freundschaften auf, die Toni pflegte, eine generationenübergreifende und translokale Mannigfaltigkeit, die sich heute versammelt und mit dem Toni-Funken zusammenschließt, um mit ihm den Tod herauszufordern.

Toni verkörpert für uns alle eine kollektive Tradition des Denkens und Handelns, den italienischen Operaismo, aber auch eine einzigartige Präsenz, die uns schon aufrüttelte, als wir jung waren, die uns zu einer Art Engagement im Denken und Handeln anregte und die uns damals wie heute immer wieder inspiriert.

Der folgende Text entstand als Beitrag zu einer translokalen Vortragsreihe, die transversal.at zu Ehren von Toni Negri anlässlich seines 90. Geburtstags organisiert hat.[1] Wir haben den Vortrag im Juni dieses Jahres aufgenommen, buchstäblich an einer Wegkreuzung, in Berlin: Verónica Gago, aus Buenos Aires kommend, und Marta Malo, aus Madrid kommend, saßen an einem Tisch in der Küche der lieben Isabell Lorey. Heute transkribieren und schreiben wir ihn weiter: es ist unsere Art, uns der kollektiven Umarmung von Toni anzuschließen, uns an ihn zu erinnern und uns daran zu erinnern, was wir an seiner Seite gelernt haben, was uns in der heutigen Situation zum Denken einlädt.


1.- Unsere Begegnung mit dem cattivo maestro

Wir beide lernten Toni in jenem Jahrzehnt kennen, in dem eine neue globale Bewegung entstand, im Gefolge des zapatistischen Aufstands, einige Jahre vor den großen Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Genua und vor der argentinischen Krise und Revolte von 2001.

Einige Bilder von dieser Begegnung.

Madrid, 1988. Ich stöbere in der Bibliothek meiner Mutter, wie ich es so oft tue. Ich muss 13 oder 14 sein. Ich stoße auf eine spanische Ausgabe von Il dominio e il sabotaggio, die mein Vater und meine Mutter 1979 kauften, als sie noch kommunistische Aktivist_innen waren. Ich weiß das, weil das Datum noch auf den ersten Seiten des Exemplars steht. Der Titel erregt sofort meine jugendliche Fantasie, aber es gibt keine Erwachsenen um mich herum, die mich durch diese Seiten führen könnten. Ich verstehe nichts. Trotzdem behalte ich es wie einen Talisman, eine Art geheimen Schatz. Acht Jahre später bekommt das Buch eine neue Dimension. In der Madrider Bewegung der besetzten Sozialzentren treffe ich Raúl Sánchez Cedillo und Miquel Vidal, die kleine Flugblätter übersetzen und herausgeben: Texte aus der Studierendenbewegung La Pantera, andere aus dem großen Archipel der besetzten Sozialzentren, wieder andere sind eher theoretischer Natur, wie Paolo Virnos Virtuosität und Revolution oder ein Interview mit Toni Negri über die “Erste Krise des Postfordismus”. Die Flugblätter sind minimalistisch gestaltet, es handelt sich um geheftete Fotokopien, die von Hand zu Hand weitergereicht werden und unsere Studiengruppen versorgen. Ebenfalls im Umlauf ist Tonis Buch mit Félix Guattari, Neue Räume der Freiheit,[2] das Raúl gerade bei Gakoa veröffentlicht hat.

In der Hitze jenes kollektiven Abenteuers in Madrid, das das besetzte soziale Zentrum El Laboratorio ist, in ebenso kalten wie hellen, staubigen wie lebendigen Räumen, lernen wir Italienisch, während wir an Computern und elektrischen Schaltkreisen basteln, wir werden in die Übersetzung und Bearbeitung von Texten eingeweiht, während wir Mauern aufbauen und einreißen, wir reisen mit fast keinem Geld nach Italien und tauschen uns mit so vielen Genoss_innen aus und lernen. Später habe ich im Rahmen der von Carlos Prieto koordinierten Sammlung Cuestiones de Antagonismo zusammen mit Raúl Sánchez mehrere von Tonis Büchern übersetzt.

Es sind Jahre der persönlichen und kollektiven Suche in den Kämpfen. Zu viele Genoss_innen, die älter sind als wir, sind von der Niederlage getroffen und sagen uns, dass “die Zeit stehen geblieben ist”, weil das Kapital mit der Realität eins geworden ist. In meiner sprudelnden Jugend sträubt sich etwas in mir gegen diese Vorstellung von einem endgültigen Stillstand der Geschichte. In Tonis Texten und dann in seiner Person, in dieser lebendigen Neugier, mit der er uns empfängt, sich neben uns setzt, uns befragt, versucht, mit uns zu denken, finde ich eine andere Lesart jener Winterjahre, der Niederlage der Arbeiterbewegung und vor allem der Vitalität der Kämpfe früherer Jahrzehnte, einer Vitalität, die, wie ich später bei Benjamin lesen werde, ihre Macht über die Gegenwart beansprucht.

Bei Toni ist das lange 68 nicht etwas, wonach man sich sehnt, als Erbe der Wunden und der Traurigkeit der Niederlage, sondern Zeitsplitter, die angerufen werden müssen, um eine revolutionäre Jetzt-Zeit zu öffnen. Das, was ich später mit vielen anderen konzeptueller weiterdenken konnte, erscheint in der Begegnung mit dem cattivo maestro als eine Gewissheit, in der Form einer unumkehrbaren subjektiven Erfahrung.

Buenos Aires, 1998. Meine ersten Lektüren der Texte von Toni Negri finden in einem Raum “zwischen” der Universität und der Militanz statt, dank eines Universitätsprofessors namens Marcelo Matellanes, der uns den Text “Marx y el trabajo: el camino de la disutopía” lesen lässt. Ich erinnere mich, dass ich bei der ersten Lektüre nichts verstehe, aber es gibt etwas, das meine Aufmerksamkeit erregt: etwas, von dem ich spüre, dass es entschlüsselt, seziert und gelernt werden muss. Glücklicherweise findet diese Unruhe einen Weg der Kontinuität in der politischen Organisation, der ich angehöre, wo wir auch Tonis Texte zu Spinoza diskutieren. Außerdem treffen wir uns jeden Sonntag, um El Poder Constituyente zu lesen.

Ein erstes persönliches Treffen mit Toni Negri findet im Oktober 2000 in Rom statt, wo ihn eine Gruppe junger Aktivist_innen aus Argentinien – Diego Sztulwark, Natalia Fontana und Mario Santucho – interviewt. Wir organisieren ein Kollektiv, das sich der militanten Forschung widmet und das Erbe der Kämpfe der 1970er Jahre für die neue Periode des Widerstands, die wir erleben, überdenkt. Susi Fantino, eine Argentinierin, die seit den 1970er Jahren in Italien im Exil lebt und mit einem der Mitglieder des Kollektivs verwandt ist, stellt den Kontakt zu Toni her.

Dieses Gespräch hat einen großen Einfluss auf uns, wegen seiner Präsenz, seines Interesses und seiner Art zuzuhören und zu erklären, der Geschwindigkeit seiner Antwort, der Analyse, die er uns gab und seiner Art, das zu berücksichtigen, was wir ihm zutrugen. Wir haben dieses Gespräch später in das Buch Contrapoder. Una introducción aufgenommen, das auch einige der Hypothesen der Arbeit von Toni, insbesondere aus Empire, mit Bezug auf die Debatten und Lesarten der argentinischen Krise von 2001 in Echtzeit verbreitete.

Von dieser ersten Begegnung sind mir vor allem zwei Dinge in Erinnerung geblieben. Zum einen der FIAT-Affe in seiner Wohnung in Trastevere, wo er mit Judith Revel lebte. Zum anderen die Tatsache, dass er sich nach dem Interview darauf vorbereiten musste, wieder ins Gefängnis zu gehen, weil er die Nächte immer noch dort verbringt. Uns hat vor allem sein Begriff der Gegenmacht interessiert, um Schlüsselbegriffe wie “Politik”, “Revolution” und “Militanz” zu überdenken.

Danach folgt ein Besuch nach dem anderen in Argentinien, und er wird zu einer wichtigen Figur in der lokalen politischen Debatte. Wir besuchen mit ihm besetzte Fabriken, Universitäten und politische Räume. Und jedes Mal ist das Treffen mit ihm eine Gelegenheit, Gespräche zu führen, neue Interviews zu machen und das zu feiern, was ich eine politische Freundschaft nennen möchte.

Seine Art und Weise, im Gespräch mit einem Land der Dritten Welt wie dem unseren über die Veränderungen in der lebendigen Arbeit nachzudenken, ist ein interessanter Kontrapunkt inmitten einer Zeit des politischen Aufruhrs in Argentinien und der lateinamerikanischen Region.

Ich lerne Italienisch für die redaktionelle Arbeit mit Tinta Limón und die Arbeiten von Toni und anderen Kollegen.

*   *   *

Toni war kein Feminist, aber das hindert sein Denken nicht daran, ein Verbündeter dessen zu sein, was wir die Feministische Internationale genannt haben, dieser translokale Vektor feministischer Kämpfe, die in gegenseitiger Resonanz miteinander verflochten sind. Es muss gesagt werden, dass er – untypisch für einen kommunistischen Mann seiner Generation und trotz seines offensichtlichen Unbehagens – dem Feminismus immer mit Neugier und Offenheit begegnete. Er verstand wie kaum ein anderer, dass der Feminismus Teil einer unumkehrbaren subjektiven Mutation war, dass es auf dem Höhepunkt der Zeit kein politisches Lexikon gab, das ihn nicht als Vektor der kommenden Revolution enthielt. Wir wissen daher, dass er das, was wir jetzt versuchen werden, mit Freude begrüßen würde: einige seiner fruchtbarsten Konzepte zu verwenden, um in einer Zeit der patriarchalen Reaktion, des globalen Kriegs und der neoliberalen Enteignung ausgehend von den feministischen Rebellionen und durch sie hindurch zu denken.


2. Kairós als durch die Kämpfe eröffnete Zeit

Eines der Bücher von Toni, das wir beide am liebsten gelesen haben, ist Kairos, Alma Venus, Multitudo. Toni schrieb es in Rebibbia, während seines zweiten Gefängnisaufenthalts nach den Jahren des Exils in Frankreich. Manifestolibri veröffentlichte es im Jahr 2000, etwa zur gleichen Zeit, als wir uns zum ersten Mal mit ihm trafen.

In Kairos, Alma Venus, Multitudo begreift Toni den kairós als jenen Augenblick, in dem das Sein über die Schwelle der Zeit blickt und in einem generativen Ereignis der Begegnung mit der Alterität, Name und Ding zugleich und simultan gegeben werden und ein neues gemeinsames Sein hervorbringen.

Negris kairós ist ein materialistischer Bruch mit der linearen und räumlichen Auffassung von Zeit, mit Zeit als Dauer. Negri sagt uns, dass es aus der Sicht des kairós kein Vorher und Nachher gibt, sondern nur das Ewige und das Kommende. Das Ewige ist die Kraft des akkumulierten Lebens, die unumkehrbare und unzerstörbare Zeitlichkeit, der gemeinsame Name des Seins, was ist. Es ist kein Vorher, keine vergangene Zeit, es ist ein (gleichzeitiges) Bestehen am Ort des kairós. Die kommende Zeit ist ihrerseits auch kein Danach: Sie ist ein Ausdruckshorizont der Passung zwischen dem Namen und der Sache, zwischen dem gemeinsamen Namen und der neuen Sache, die ein neues gemeinsames Sein konstituiert. Im Kampf um die freie Aneignung der Gegenwart, so Toni, öffnet sich das Leben für die kommende Zeit, und das Begehren nimmt die Schaffenskraft der Praxis wahr. Hier ist der Körper der “Träger des kairós”, weil er diese Beziehung zwischen dem Ewigen und dem Kommenden in seiner Maßlosigkeit aufrechterhält.

Unter dem Gesichtspunkt des kairós, wie Toni ihn versteht, ist es möglich, einen materialistischen Feminismus zu denken, der keine weibliche Identität essenzialisiert, der sich bewusst ist, wie sehr das “Subjekt des Feminismus” ein Subjekt im Werden ist. Denn im negrianischen kairós, den wir uns zu eigen machen, erscheint der Körper (der niemals DER abstrakte Körper ist, sondern ein singulärer Körper) natürlich in das materialistische Feld eingetaucht, das heißt als Materie, die aus Schichten historischer Sedimente besteht; aber, und das ist die relevante Nuance für seine revolutionären Konsequenzen, dieser gleiche Körper, der mit Geschichte beladen ist, ist gleichzeitig offen für Innovation, für das generative Ereignis an der Schwelle der Zeit, bis zu dem Punkt, an dem er anders-werden kann, in einer Mutation, die gleichzeitig Namen und Fleisch, Wort und körperliche Materie betrifft. Diese Konzeption des Körpers durch den kairós, geologisch wie meteorologisch, ewig wie auf das Kommende orientiert, verlangt nach einer Praxis, die den Körper nicht als träges, ein für allemal gegebenes Datum auffasst, sondern gerade körperliche Produktion ist, Produktion von Körpern, am Rande der Zeit, in der unruhigen Undulation des Seins. Anders gesagt geht die revolutionäre Praxis von dem aus, was ist, und bringt es gleichzeitig auf andere Weise hervor, das heißt, sie erzeugt Mutationen, die ontologisch und unumkehrbar sind.

Die jüngsten feministischen Kämpfe haben sich dank ihrer Radikalität und ihrer Massivität, ihrer Kapillarität und ihrer Transversalität als fähig erwiesen, die Zeit des kairós zu öffnen: ein Leben, das für eine kommende Zeit offen ist. Das bedeutet, dass sie in der Lage waren, kollektive Korporealitäten im Werden hervorzubringen, und genau das hat sie so mächtig und unvorhergesehen gemacht. Sie sind keine Wiederauferstehung der Frauenbewegungen, sondern tragen, verflochten mit unterschiedlichen feministischen Genealogien, den radikalen Wunsch in sich, alles zu verändern, auch das, was sich Feminismus nennt. Die feministische Praxis wirkt heute direkt auf diesen Körper, der wir sind, und sie macht dies in unumkehrbarer Weise.


3.- Ein Denken in und mit den Kämpfen

Im Bericht über unsere Begegnungen mit dem cattivo maestro haben wir es schon gesagt: Was uns an Toni am meisten beeindruckt, ist der Typus des Intellektuellen, den er verkörpert. Wir erinnern uns beide daran, wie sehr uns die präzise Verbindung zwischen Denken und Handeln beeindruckt hat, die wir bei ihm und bei vielen Genoss_innen des italienischen Operaismo vorfanden. Wir beziehen uns insbesondere auf die Praxis der inchiesta operaia, auf die Studiengruppen in den Fabriken, mit Student_innen und Arbeiter_innen, auf die Überzeugung, dass Kämpfe das Kriterium für die Überprüfung jeder theoretischen Analyse sind, und auf die Entschlossenheit, nicht über Kämpfe, sondern von den Kämpfen aus und für sie zu denken.

Es gibt hier eine ethische Spannung, in der das Wissen durch das Tun produziert wird und umgekehrt, indem es sich dem gemeinsamen Ereignis aussetzt, d.h. den Kämpfen; jenen Gemeinbegriffen, die von den Kämpfen ausgehen und die sich als ein Punkt der ontologischen Unumkehrbarkeit in unsere Körper einschreiben. Von diesem Punkt an ist das Schreiben, das Sprechen, das Denken mit anderen nicht etwas, das mit individueller Autorschaft zu tun hat, sondern ein Maschine-Machen mit den Kämpfen, mit der Schaffung von Gefügen theoretisch-praktischer Handlungen.

Etwas von diesem Denken, das Maschine wird, oder besser gesagt, das mit den Kämpfen ein Körper wird, ist in der feministischen Bewegung heute vorhanden, in dem, was wir einen Theoriewunsch nennen wollen: das heißt, ein vitales, organisches Bedürfnis, Konzepte zu schaffen, Worte zu finden, Erzählungsformen darüber zu erproben, was geschieht. Wir glauben, dass es hier einen radikalen Unterschied zwischen der feministischen Bewegung und anderen sozialen Bewegungen gibt, die oft die anti-intellektuelle Geste als Garantie für die Authentizität der Erfahrung wiederholen. In der feministischen Bewegung gibt es eine Vielzahl von Slogans, Liedern, Fanzines, Lesegruppen, Büchern und Zeitungen. Es gibt eine enorme Anzahl von Debatten, Versammlungen, Seminaren, Räumen für die selbstorganisierte Bildung, Änderungen in den Lehrplänen der Universitäten und so weiter. All dies ist Teil eines theoretisch-politischen Wunsches, der einen spezifischen Disput impliziert: den Aufschrei und den Begriff nicht zu völlig getrennten Elementen zu machen – wenn wir in den Straßen schreien, erschaffen und beleben wir in gewisser Weise Gemeinbegriffe; wenn wir theoretisch Konzepte ausarbeiten, nähren wir einen gemeinsamen Körper.


4.- Autonomie als Selbstinwertsetzung

In Il dominio e il sabotaggio kommt Tonis Vorstellung von Autonomie wahrscheinlich am stärksten zum Ausdruck, vielleicht weil es in der Hitze des italienischen 1977 geschrieben wurde, als die autonome Arbeiter_innenbewegung ihren höchsten Grad an Radikalität und Ausbreitung erreichte. Das Büchlein wurde 1979 ins Spanische übersetzt, war aber bald vergriffen. Später wurde es in eine Sammlung mit dem Titel “Los libros de la autonomía obrera” aufgenommen, die alle Bücher zusammenfasste, für die Toni 1979 wegen Anstiftung zum Terrorismus angeklagt wurde. In diesem Text und in Tonis späterem Denken wird die Autonomie nicht als ein Raum der Trennung vom Staat verstanden, sondern als eine Arbeiter_innenpraxis der Selbstinwertsetzung, als eine Übung des inneren und äußeren Bruchs, der ein “Wir” hervorbringt, das immer wieder produziert wird und gleichzeitig eine andere Welt produziert. Diese Übung des inneren und äußeren Bruchs ist die Sabotage.

Wie Toni in Il dominio e il sabotaggio feststellt, “bedeutet die Selbstinwertsetzung der Arbeiter in der Gesellschaft des Kapitals die Möglichkeit, nicht hart zu arbeiten, besser zu leben, sich einen Lohn zu sichern: je größer die Aneignung der Produktivkräfte durch die Arbeiter, desto größer diese Möglichkeit”. Der Fortschritt des revolutionären Prozesses, d.h. der Prozess der Selbstinwertsetzung, wird hier an der “Zunahme der gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die der freien Reproduktion der proletarischen Gesellschaft gewidmet ist,” gemessen, oder anders gesagt “an der Qualität unseres Lebens und unserer Befreiung”.

Diese Idee der Selbstinwertsetzung, die innen und außen als Praktiken des Bruchs und der Sabotage stattfindet, ist sehr hilfreich, um über feministische Autonomie nachzudenken: Autonomer Feminismus erhält aus dieser Perspektive nicht so sehr eine Äußerlichkeit gegenüber dem Staat oder eine Unabhängigkeit gegenüber der männlichen Welt aufrecht. Er impliziert auch keine Identität oder eine Ideologie. Feministische Autonomie besteht vielmehr in der Praxis der Abgrenzung von patriarchalen, maskulinistischen, staatlichen und kapitalistischen Logiken, und affirmiert eine andere Welt, jene Welt, in der wir für uns selbst da sind: “Estamos para nosotras", wie es während des feministischen Streiks 2019 an den Wänden von Buenos Aires hieß.

Wenn diese Praxis des Bruchs in der Arbeiter_innenbewegung der 1960er und 1970er Jahre die Sabotage war, so ist es im Feminismus der feministische Streik, verstanden als eine Störung, die über den Arbeitsplatz hinausgeht und sich in den Wohnungen, auf den Plätzen, in den Betten, in den Büros, auf den Märkten entfaltet: überall. Hier besteht die Möglichkeit, die Debatte über die Klassenzusammensetzung aus einer Perspektive zu aktualisieren, die bereits in den 1970er Jahren vorhanden war, jetzt aber wiederbelebt werden kann: die Perspektive der Reproduktionsarbeit und der Art und Weise, wie sich diese im Süden der Welt (auch in dem Süden, der sich in den Zwischenräumen des Nordens befindet) mit informellen und prekären Arbeitsformen überschneidet. Der feministische Streik zeigt hier Wirkung, indem er die Kreisläufe von Gewalt, Ausbeutung und Enteignung unterbricht, um das “würzige Leben” der Vielen in den Mittelpunkt zu stellen.


5.- Die Methode der Tendenz

Tonis Leben und seine Schriften haben uns also eine Analysemethode an die Hand gegeben: dass die Zusammensetzung der Arbeitskraft verschiedene historische Formen annimmt, die die Möglichkeit konfigurieren, die Synthese des Kapitals durch die politische Praxis der Sabotage zu verweigern, und dass die mikroskopische Verbreitung des rebellischen Verhaltens als kollektive Subjektivität gerinnt, die modifiziert, was gewünscht wird, was für möglich gehalten wird, und sogar die proletarischen Körper neu erfindet. Die Materialität dieser These, die die Autonomie der Arbeitskraft, ihre Fähigkeit, sich vom Kommando des Kapitals zu emanzipieren, aufrechterhält, verbreitet die Formel, dass die Arbeit, die Arbeitskraft als lebensschaffende Kraft, an erster Stelle steht und die Logik des Kapitals (wie Marx sagte) in der Metapher des Vampirs an zweiter Stelle.

Dies führt nicht notwendigerweise zu einem Triumphalismus, beansprucht den Sieg nicht a priori, sondern erkennt die unabdingbare Vorrangstellung der Kämpfe an, selbst in den aggressivsten und enteignendsten Momenten der finanziellen Entwicklung des Kapitalismus. Am Ende seiner dreibändigen autobiographischen Chronik Storia di un comunista beschreibt Toni die Welt seiner Kindheit, in der das Patriarchat, die kapitalistische Ausbeutung und die Souveränität der Nation das Leben und die Köpfe der Menschen durchdrangen, in der der Faschismus herrschte, in der die Lebensmüdigkeit alle anderen Leidenschaften überragte und in der eine harte Disziplin die Seelen in die Empfindungslosigkeit gegenüber dem Schmerz zwang. Und dann fragt er: Ist die Welt heute wieder so? Man spürt die implizite Antwort: Vielleicht ist es so. Es scheint also, die Schlussfolgerung wäre Nihilismus, das Aufgeben. Ausgehend von der Überzeugung der Vorrangstellung der Kämpfe und der autonomen Kraft der lebendigen Arbeit lädt Toni uns jedoch ein, die kollektive Intelligenz zu nutzen, um jede nihilistische Versuchung zu durchlöchern, indem wir die unterirdischen Fäden der Kämpfe verfolgen, die kollektiven Vektoren lesen, die sie ziehen, die Dynamiken der Selbstinwertsetzung. Es geht also darum, die gramscianische Formel umzukehren und einen Optimismus der Vernunft gegen die Angriffe zu aktivieren, die unseren Willen hinwegfegen, und so den Wunsch wiederzubeleben, alles zu verändern. Wo Spinoza schreibt “Wir wissen nicht, was ein Körper vermag”, fügt Toni hinzu “Wir wissen nicht, was die Kämpfe vermögen”. Immer wieder stellen wir uns deshalb den Herausforderungen, wagen wir, versuchen wir alles.

Lieber Toni, inmitten des Schmerzes dieser von verallgemeinertem Krieg und Enteignung erschütterten Welt, inmitten der Trauer um den Abschied von Deinem Fleisch, zaubert uns die Erinnerung an das, was wir an Deiner Seite gelernt haben, seltsamerweise ein Lächeln ins Antlitz. Mit Dir zu denken, heißt wirklich, gegen die Angst und die Verzweiflung zu denken, mit Dir zu denken, heißt unmittelbar, das Engagement und die Erfindungskraft zu aktivieren.

 

[1] Die Audios der gesamten Serie können auf der Website von transversal.at in englischer Sprache angehört werden: https://transversal.at/blog/irrepressible-lightness-and-joy-of-being-communist.