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05 2007

Anthropologie und Theorie der Institutionen

Paolo Virno

Übersetzt von Klaus Neundlinger


Keine Untersuchung über die menschliche Natur kommt ohne eine zumindest skizzenhaft entworfene Theorie der politischen Institutionen aus, die sie wie ein blinder Passagier begleitet. Die Analyse der Instinkte und Triebe unserer Art enthält immer auch ein Urteil über die Legitimität des Innenministeriums. Umgekehrt gilt dasselbe: Jegliche Theorie der politischen Institutionen, die diesen Namen verdient, geht zumindest implizit von der einen oder anderen Darstellung der Züge aus, die den Homo sapiens von den anderen Arten unterscheiden. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Philosophie des Thomas Hobbes: Man versteht nicht viel vom Leviathan, wenn man sein Werk De homine unberücksichtigt lässt.

Die Verbindung zwischen anthropologischer Reflexion und Theorie der Institutionen wurde von Carl Schmitt im siebten Abschnitt seines Aufsatzes „Der Begriff des Politischen“ auf den Punkt gebracht. Er schreibt:

„Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewusst oder unbewusst, einen 'von Natur bösen' oder einen 'von Natur guten' Menschen voraussetzen. [...] Beim offenen Anarchismus [...] ist es ohne weiteres deutlich, wie eng der Glaube an die 'natürliche Güte' mit der radikalen Verneinung des Staates zusammenhängt, das Eine aus dem Anderen folgt und beides sich gegenseitig stützt. [...] Der staatsfeindliche Radikalismus wächst in dem gleichen Grade wie der Glaube an das radikal Gute der menschlichen Natur.“[1]

Wäre der Mensch ein sanftes Lebewesen, das zur Verständigung und gegenseitigen Anerkennung neigt, so bestünde keine Notwendigkeit von disziplinierenden und Zwang ausübenden Institutionen. Schmitt zufolge speist sich die Staatskritik der Anarchisten und Kommunisten aus dem Vorurteil, die menschliche Art verfüge über eine „natürliche Güte“. Wenn der Homo sapiens, wie zu vermuten ist, ein gefährliches, instabiles und zur Selbstzerstörung neigendes Tier ist, dann scheint die Bildung eines „einheitlichen politischen Körpers“ unausweichlich, um ihn in Zaum zu halten. Dieser Körper soll dann laut Schmitt das „Monopol der politischen Entscheidung“ ausüben.

Ich bin der Ansicht, Schmitts These muss an ihrer Wurzel widerlegt werden. Die gefahrvolle Instabilität des Menschentiers – also das so genannte Böse – schließt meiner Auffassung nach keineswegs die Bildung und Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität ein. Der dem Staat und der kapitalistischen Produktionsweise „feindlich gesinnte Radikalismus“ ist weit davon entfernt, unserer Art eine angeborene Sanftheit zu unterstellen. Er hat im Gegenteil die Möglichkeit, in der vollen Anerkennung des problematischen, d.h. unbestimmten und potenziellen (also auch gefährlichen) Wesens des Menschentiers sein wahres Fundament zu entdecken. Die Kritik des „Monopols der politischen Entscheidung“ und allgemein der Institutionen, deren Regeln wie ein Wiederholungszwang wirken, muss sich auf die Feststellung stützen, dass der Mensch „von Natur aus böse“ ist.

 

Das so genannte „Böse“

Worin besteht nun das „Böse“, mit dem sich Schmitt zufolge jegliche Theorie der Institutionen auseinandersetzen muss, die auch nur einen Hauch Realismus bezüglich der Beschreibung der menschlichen Natur für sich in Anspruch nimmt? Ich beschränke mich hier darauf, einige fixe Ideen der philosophischen Anthropologie in Erinnerung zu rufen.

Der Mensch ist „problematisch“, wie Plessner und später Gehlen dies formulieren, weil er nicht über eine vorab definierte Umwelt verfügt, die Punkt für Punkt seinem psychosomatischen Bau und seiner Triebausstattung entsprechen würde. Die Tiere sind in eine bestimmte Umwelt eingegliedert und reagieren auf äußere Reize mit angeborener Sicherheit, indem sie diese in ein Repertoire von Verhaltensweisen übersetzen, die der Selbsterhaltung dienen. Der Mensch hingegen muss aufgrund der Abwesenheit eines bestimmten Umfeldes mit einer Vielzahl an Stimuli fertig werden, die keinen präzisen biologischen Zweck erfüllen. Unsere Art ist durch die „Öffnung zur Welt“ gekennzeichnet, wobei Welt hier als Lebenskontext zu verstehen ist, der in Teilen immer unbestimmt und unvorhersehbar ist. Das Übermaß an Reizen, die nicht an die eine oder andere festgelegte Handlungs- oder Reaktionsweise gebunden sind, ruft eine konstante Unsicherheit und einen Mangel an Orientierung hervor, die nie zur Gänze umkehrbar sind. In den Worten Plessners hält das „zur Welt hin offene“ Tier immer einen Abstand zum Zustand der Dinge und den Ereignissen aufrecht, auf die es stößt. Die Öffnung zur Welt mit dem besonders hohen Grad an ununterschiedener Potenzialität, den sie mit sich bringt, ist unter phylogenetischem Gesichtspunkt mit einer kaum vorhandenen Spezialisierung der Instinkte verknüpft, sowie mit der Neothenie, d.h. dem Fortbestehen von kindlichen Charakterzügen auch bei den erwachsenen Subjekten.

Diese Andeutungen sollen genügen, um die Gefährlichkeit des Homo sapiens begrifflich zu umgrenzen, auf die sich Schmitt zufolge die moderne Theorie der staatlichen Souveränität beruft. Das Überborden biologisch nicht zweckgebundener Reize und die daraus folgende Veränderbarkeit der Verhaltensweisen gehen mit der angeborenen Zerbrechlichkeit der Mechanismen der Hemmung einher. Das „zur Welt hin offene“ Tier verfügt über ein unbeschränktes Aggressivitätspotenzial gegenüber seinen Artgenossen. Die auslösenden Ursachen für eine Aggression sind niemals auf einen abgeschlossenen Katalog reduzierbar (Populationsdichte auf einem Territorium, sexuelle Auslese usw.), da auch sie bis zur Unwägbarkeit variieren können. Die reinen Prestigekämpfe und auch der Begriff der „Ehre“ stehen in sehr enger Verbindung mit der Triebstruktur eines Lebewesens, das ohne ein definiertes Ambiente auskommt und ebendeshalb als im Wesentlichen potenziell zu betrachten ist. Das Fehlen eines eindeutig bestimmten Lebensraumes führt dazu, dass die Kultur zur „ersten Natur des Menschen“ wird (Gehlen 1940). Dennoch ist es genau die Kultur, die als angeborenes biologisches Dispositiv eine wesentliche Ambivalenz aufweist: Sie schwächt Gefahren ab, doch vervielfacht und diversifiziert sie in anderer Hinsicht die Gelegenheiten einer gefährlichen Entwicklung. Sie „schützt den Menschen vor seiner eigenen Natur“, indem sie ihn davor bewahrt, seine „eigene erschreckende Formbarkeit und Unbestimmtheit“ zu erfahren (Gehlen 1956). Doch ist sie andererseits selbst die wesentlichste Manifestation dieser Formbarkeit und Unbestimmtheit und treibt deshalb zugleich die volle Entfaltung jener Natur an, vor der sie den Menschen schützen sollte.

Das so genannte „Böse“ kann auch beschrieben werden, indem man die Aufmerksamkeit auf einige herausragende Eigenschaften der menschlichen Sprache richtet. Problematisch, also instabil und gefährlich, ist das Tier, dessen Leben durch die Verneinung und die Modalität des Möglichen gekennzeichnet ist. Die Verneinung fällt mit einem bestimmten Grad an Abstand zum eigenen Lebenskontext zusammen, bisweilen sogar mit der vorübergehenden Einklammerung eines Sinnesreizes. Die Modalität des Möglichen ist mit dem biologisch nicht zweckgebundenen Triebüberschuss gleichzusetzen, sowie mit dem nicht-spezialisierten Wesen des Menschentiers. Die Angst (also die unbestimmte Sorge, die nicht an den einen oder anderen Zustand der Dinge gebunden ist) ist die affektive Wirkung der Modalität des Möglichen. Und die Negation liegt einem eventuellen Scheitern der gegenseitigen Anerkennung unter Artgleichen zugrunde. Die Wahrnehmungsevidenz: „Das ist ein Mensch“ büßt die ihr eigene Unumstößlichkeit ein, wenn sie mit einem „Nicht“ versehen wird: Die Anthropophagie und Auschwitz sind Beweis dafür. Die Sprache ist weit davon entfernt, die Aggressivität der Menschen gegen ihresgleichen abzumildern (wie Habermas und einige Philosophen uns frohen Herzens versichern), sondern radikalisiert sie über alle Maßen.

 

Ambivalenz

Was unsere Art gefährlich macht, ist auch das, was es ihr ermöglicht, innovative Handlungen zu vollbringen, die dazu dienen, gefestigte Normen und Gewohnheiten zu verändern. Ob man vom Triebüberschuss oder der sprachlichen Verneinung spricht, vom „Abstand“ zum eigenen Lebenskontext oder der Modalität des Möglichen: es ist vollkommen klar, dass man damit sowohl die Voraussetzungen für Überwältigung und Folter als auch die Anforderungen bezeichnet, die die Errichtung von Betriebsräten und anderen demokratischen Organismen ermöglichen. „Tugend“ wie „Übel“ setzen einen Mangel an instinktiver Orientierung voraus. Die bio-linguistischen Bedingungen des „Bösen“ unterscheiden sich in nichts von den bio-linguistischen Bedingungen, welche die „Tugend“ strukturieren.

Dass Gefährdung und Zuflucht sich vor dem gleichen Hintergrund entwickeln, erlaubt es uns, das Problem der politischen Institutionen auf eine festere Basis zu stellen. Dies aus zumindest zwei Gründen. Zunächst weil sich dadurch die Vermutung aufdrängt, dass offensichtliche Formen der Zuflucht (etwa die staatliche Souveränität) in bestimmten Fällen die intensivste Manifestation der Gefahr bilden können (Aggressivität gegenüber Artgleichen). Darüber hinaus ergibt sich aus dem angeführten Umstand ein methodologisches Kriterium: Institutionen bieten realen Schutz, wenn – und nur dann, wenn – sie sich derselben Grundbedingungen bedienen, die in anderer Hinsicht nicht aufhören, die Bedrohung zu nähren; wenn – und nur dann, wenn – sie ihre Ressourcen zur Abwehr des Übels von der „Öffnung zur Welt“ und dem Vermögen der Verneinung, der Neothenie und der Modalität des Möglichen beziehen.

Das kritische Denken der Gegenwart – ich denke hier vor allem an den französischen Poststrukturalismus – ist zur Dialektik auf Distanz gegangen und hat ihrem Hang zur „Synthese“ immer misstraut. Gut so. Leider hat das zeitgenössische Denken zusammen mit der Dialektik jegliche Erinnerung an das Negative ausgelöscht, d.h. an die (selbst)zerstörerischen Triebe, die unsere Art kennzeichnen. Auf diese Weise läuft das kritische Denken der Gegenwart Gefahr, die Diagnose Carl Schmitts zu bestätigen: „Der staatsfeindliche Radikalismus wächst direkt proportional zum Vertrauen in die radikale Güte der menschlichen Natur“. So gerät man in eine Sackgasse. Anstatt das Negative abzuschaffen, um dem Mahlwerk der Dialektik zu entgehen, gilt es hingegen, ein nicht-dialektisches Verständnis des Negativen zu entwickeln. Drei Schlüsselbegriffe scheinen zu diesem Zweck nützlich zu sein: Ambivalenz, Oszillieren, Unheimliches. Ambivalenz: Wie ich sagte, haben befreiende Innovation und Destruktivität ein und dieselbe Wurzel. Es gibt keinen dritten Begriff, der diese Situation lösen würde, eine dialektische Synthese oder ein Punkt höheren Gleichgewichtes. Jeder Pol verweist auf den anderen, enthält ihn schon in sich und lässt ihn im eigenen Gewebe durchscheinen. Oszillieren: Die gegenseitige Anerkennung unter Artgleichen ist durch eine unablässige Pendelbewegung gekennzeichnet, die vom teilweisen Gelingen bis zum beginnenden Scheitern reicht. Unheimliches: Nicht das Ungewohnte erschreckt, sondern nur das, mit dem wir aufs Engste vertraut sind (Triebüberschuss, tragende Strukturen der menschlichen Sprache) und das unter anderen Umständen auch eine Schutzfunktion übernehmen kann oder bereits übernommen hat.

 

Das Raunen in der Wüste

Das Verhältnis zwischen den furchterregenden Aspekten der menschlichen Natur und den politischen Institutionen stellt zweifellos eine metahistorische Frage dar. Um sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist es nicht zielführend, auf das Kaleidoskop der kulturellen Differenzen zu verweisen. Dennoch erlangt eine metahistorische Frage nur dann Sichtbarkeit und Prägnanz, wenn sie in einer konkreten historisch-sozialen Entwicklung drängend wird. Das Problem der Aggressivität unter Artgleichen rückt heute in den Vordergrund, da der neuzeitliche Zentralstaat einen spürbaren Niedergang erfährt, zu dessen Begleiterscheinungen restaurative Umwälzungen ebenso zählen wie beunruhigende Wandlungen der Gestalt des Staates. Im Verlauf dieses Niedergangs und durch diesen verursacht, kommt das Problem der politischen Institutionen in seiner ganzen bio-anthropologischen Tragweite erneut zur Geltung, das Problem der regulierenden und stabilisierenden Funktion der Institutionen.

Die Auflösung des „Monopols der politischen Entscheidung“ ist als Resultat sowohl der Natur des aktuellen Produktionsprozesses geschuldet (der auf dem abstrakten Wissen und der sprachlichen Kommunikation basiert), als auch den sozialen Kämpfen der 1960er und 70er Jahre. In unserem Zusammenhang geht es nicht darum, sich näher mit diesen Ursachen zu beschäftigen oder weitere anzuführen, die eventuell in Frage kommen. Was für unser Problem zählt, sind die Fragezeichen, mit denen die neue Situation versehen ist. Welche politischen Institutionen außerhalb des staatlichen Apparates sind vorstellbar? Wie kann die Instabilität und Gefährlichkeit des Menschentiers in Zaum gehalten werden, wenn man nicht mehr auf einen Wiederholungszwang bei der Anwendung der jeweils geltenden Regeln vertrauen kann? Auf welche Weise können der Triebüberschuss und die Öffnung zur Welt als politisches Gegengift zu dem Gift eingesetzt werden, das sie selbst produzieren?

Diese Fragen verweisen auf die biblische Erzählung der schwierigsten Phase des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten: das „Raunen“ in der Wüste, d.h. eine Folge schwerer innerer Konflikte. Anstatt sich dem Pharao zu unterwerfen oder sich gegen seine Herrschaft aufzulehnen, hat das jüdische Volk das Prinzip des tertium datur zur Anwendung gebracht und ergreift eine weitere, bislang verkannte Gelegenheit: das „Haus der Sklaverei und der ungerechten Arbeit“ zu verlassen. Man zieht also durch ein Niemandsland und erkundet neue Formen der Selbstregierung. Die Bande der Solidarität jedoch werden immer schwächer. Immer mehr Menschen trauern der Zeit der Unterdrückung nach, die Achtung vor den Fluchtgefährten schlägt plötzlich in Hass um, Gewalt und Götzendienst breiten sich aus. Die Multitude muss sich mit dem „Bösen“, oder, wenn man so will, mit der Negativität auseinandersetzen, von der sie durchdrungen ist: Spaltungen, Willkür, Gewalt in jeder Form usw. Die Erzählung des Exodus bildet vielleicht das vortrefflichste theologisch-politische Modell für die Überwindung des Staates. Es stellt nämlich die Möglichkeit in Aussicht, das pharaonische Entscheidungsmonopol mittels eines aktiven Sich-Entziehens zu brechen. Da die Erzählung aber auch dem „Raunen“ viel Platz einräumt, setzt sie sich von der Annahme ab, dass dieses Sich-Entziehen die natürliche Sanftheit des Menschentiers zum Grund habe. Der Exodus stellt eine Widerlegung der Position Carl Schmitts dar: eine nicht mehr staatlich organisierte Republik unterhält eine äußerst enge und durch nichts verhüllte Beziehung zur angeborenen Destruktivität unserer Art.

 

Post-staatliche Institutionen

Ich möchte nun einige Hypothesen bezüglich der Form und Funktionsweise politischer Organismen vorstellen, die den furchterregenden Aspekten der menschlichen Natur keineswegs ausweichen und dennoch mit dem „Monopol der politischen Entscheidung“, also der staatlichen Souveränität, unvereinbar sind.

Ich werde versuchen, dieses Problem anzugehen, ohne mich in Anspielungen darauf zu ergehen, was sein könnte. Ich werde im Gegenteil den Blick auf das richten, was immer schon da ist. Anders ausgedrückt, werde ich für einen Moment lang die Notwendigkeit hintanstellen, politische Kategorien zu finden, die sich auf der Höhe der gerade ablaufenden sozialen Transformationen befinden, um die Aufmerksamkeit auf zwei große anthropologische Realitäten zu richten, die in jeder Hinsicht Institutionen darstellen: die Sprache und den Ritus. Diese beiden geschichtlich-natürlichen Institutionen sind selbstverständlich keine politischen Institutionen. Dennoch dürfen wir die Möglichkeit nicht ausschließen, in unserer Tradition das eine oder andere begriffliche Dispositiv zu finden, das als im engeren Sinn politisches Äquivalent der Sprache oder des Ritus betrachtet werden kann. In unserer Tradition: auch hier berufe ich mich nicht auf das Kommende, sondern auf das Gewesene. In Bezug auf den Ritus schlage ich folgende Hypothese vor: Die Art und Weise, wie dieser die gefährliche Instabilität des Menschentiers immer aufs Neue bearbeitet und abmildert, findet eine Entsprechung in der theologisch-politischen Kategorie des Katechon. Dieser griechische Begriff, der vom Apostel Paulus im zweiten Brief an die Thessaloniker gebraucht und in der Folge von konservativen Doktrinen ständig wieder aufgenommen wurde, bedeutet: „das, was zurückhält“, eine Kraft, die die endgültige Zerstörung immer wieder aufschiebt. Mir scheint, dieser Begriff kann einiges dazu beitragen, die Struktur und die Aufgaben nicht-staatlicher Institutionen zu definieren, insofern er den politischen Aspekt ritueller Praktiken repräsentiert. Weit davon entfernt, ein zur Theorie der Souveränität gehöriges Konstruktionselement zu sein, wie Schmitt und Konsorten vorgeben, fügt sich die Vorstellung einer Kraft, die das so genannte „Böse“ zurückhält, ohne es jemals auslöschen zu können (da seine Auslöschung das Ende der Welt bedeuten würde, oder besser das Schrumpfen der „Öffnung zur Welt“), viel besser in die anti-monopolistische Politik des Exodus ein.

Sprache, Ritus, Katechon: Damit beschäftigen sich die abschließenden Betrachtungen über die Institutionen der Multitude oder, wenn man dies vorzieht, über die Möglichkeit einer nicht-staatlichen Öffentlichkeit.

 

1. Sprache: Die Sprache hat ein präindividuelles und überpersonales Leben. Sie betrifft das einzelne Menschentier nur insofern, als es Teil einer „Masse von SprecherInnen“ ist. Wie die Freiheit oder die Macht existiert die Sprache einzig in der Beziehung zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Jeder einzelne Mensch verfügt über das bifokale Sehen, und dieses kann deshalb guten Grundes als Eigenschaft betrachtet werden, die der gesamten menschlichen Spezies zuzurechnen ist. Bei der Sprache verhält es sich anders. In ihrem Fall schafft die gemeinsame Teilhabe die artenspezifische Eigenschaft. Das Zwischen der interpsychischen Beziehung schafft als Konsequenz einen intrapsychischen Besitz. Die natürlich-geschichtliche Sprache steht für die Priorität des „Wir“ vor dem „Ich“, des kollektiven vor dem individuellen Bewusstsein ein. Deshalb wird Saussure nicht müde, zu betonen, dass die Sprache eine Institution ist. Deshalb ist sie die „reine Institution“, Matrix und Vergleichspunkt aller anderen Institutionen.

Ein solches Urteil wäre nicht in vollem Sinn gerechtfertigt, wenn die Sprache neben ihrem überpersonalen Wesen nicht auch eine integrierende und schützende Funktion übernähme. Jede echte Institution stabilisiert und sorgt für Schutz. Welchen konkreten Mangel soll nun die natürlich-geschichtliche Sprache ausgleichen? Und vor welcher Gefahr soll sie Schutz bieten? Sowohl der Mangel als auch die Gefahr haben einen präzisen Namen: Sprachvermögen. Das Vermögen, also die biologische Disposition des einzelnen Individuums, zu sprechen, ist eine einfache Potenzialität, die noch nicht über eine wirksame Realität verfügt, sie ähnelt allzu sehr einem Zustand der Aphasie. Die Sprache, soziales Faktum oder reine Institution, schafft der individuellen Kindheit (in-fanzia: Sprachlosigkeit) Abhilfe, jenem Zustand, in dem man nicht spricht, obwohl man die Fähigkeit dazu besitzt. Sie schützt vor der ersten und größten Gefahr, der das neothenische Lebewesen ausgesetzt ist: der Gefahr einer Potenz, die nicht in entsprechende Akte umgesetzt wird. Die Differenz zwischen dem Sprachvermögen und den historisch determinierten Sprachen – eine Differenz, die nie schwindet, auch im Erwachsenenalter fortbesteht und sich jedes Mal Geltung verschafft, wenn man eine Aussage produziert – versieht das natürliche Leben unserer Art mit einer institutionellen Färbung. Eben diese Differenz schließt eine äußerst enge Verbindung zwischen Biologie und Politik ein, zwischen zoon logon echon und zoon politikon.

Die Sprache ist jene Institution, die alle anderen Institutionen möglich macht: Mode, Ehe, Recht, Staat und so weiter. Die Matrix unterscheidet sich jedoch radikal von ihren Derivaten. Saussure zufolge ist die Funktionsweise der Sprache mit jener des Rechts oder des Staates nicht vergleichbar. Die zweifellos möglichen Analogien erweisen sich als täuschend. Die Veränderung des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Zeit hinweg hat nichts mit der Lautveränderung oder dem Wechsel bestimmter lexikalischer Werte zu tun. Man könnte sagen, das nur die Sprache eine wirklich mundane Institution ist, weil sie in der Lage ist, in ihrer Seinsweise selbst die Überfülle an biologisch nicht zweckgebundenen Reizen zu reflektieren, sowie den chronischen „Abstand“ des Menschentiers zu seinem eigenen Lebenskontext.

Die Sprache ist gleichermaßen natürlicher und geschichtlicher als jede andere menschliche Institution. Natürlicher: Im Unterschied zur Mode oder zum Staat hat sie ihr Fundament in einem „speziellen, von der Natur bereitgestellten Organ“, nämlich in der angeborenen biologischen Disposition des Sprachvermögens. Geschichtlicher: Während Ehe und Recht es mit bestimmten natürlichen Sachverhalten zu tun haben (sexuelles Begehren und Aufzucht der Nachkommen im ersten Fall, Symmetrie der Tauschbeziehungen und Verhältnismäßigkeit zwischen Schaden und Wiedergutmachung im zweiten), ist die Sprache nie an den einen oder anderen Gegenstandsbereich gebunden, sondern betrifft die gesamte Erfahrung des zur Welt hin offenen Tieres, das Mögliche nicht weniger als das Reale, das Unbekannte genauso wie das Gewohnte. Die Mode ist zwar nicht in einer bestimmten Zone des Gehirns lokalisierbar, und dennoch muss sie immer die Proportionen des menschlichen Körpers berücksichtigen. Im Gegensatz dazu hängt die Sprache zwar von bestimmten genetischen Voraussetzungen ab, doch ist ihr Anwendungsbereich schrankenlos (da sie selbst ihn immer weiter ausdehnen kann). Sie widerspiegelt die für die Menschen typische Abwesenheit einer beschränkten und vorhersehbaren Umwelt und kommt deshalb „ohne jegliche Einschränkung ihrer Verfahrensweisen“ aus. Gerade ihre uneingeschränkte Veränderbarkeit, d.h. ihre Unabhängigkeit von faktischen Umständen und natürlichen Gegebenheiten, bietet jedoch auch einen klaren Schutz gegenüber den Risken, die mit jenem Mangel verbunden sind.

Die reine Institution, zugleich die natürlichste und die geschichtlichste, ist jedoch auch eine nicht-substanzielle Institution. Die fixe Idee Saussures ist bekannt: In der Sprache herrscht keine positive Realität, die über eine autonome Konsistenz verfügen würde, es gibt nur Differenzen und Differenzen zwischen Differenzen. Jeder Terminus ist einzig dadurch definiert, dass er „nicht mit dem Rest zusammenfällt“. Er bestimmt sich über die Opposition oder Heterogenität gegenüber allen anderen Termini. Der Wert eines sprachlichen Elements besteht in seinem Nichtsein: x ist nur deshalb etwas, weil es nicht y, noch z, noch w usw. ist. Die reine Institution repräsentiert keine bereits gegebene Kraft oder Realität, sondern kann diese bezeichnen, weil ihre Bestandteile durch eine negativ-differenzielle Beziehung verbunden sind. Sie ist weder Sprachrohr noch Abdruck irgendeiner gegenständlichen Realität, und auf ebendiese Weise stellt sie ihre Kon-Substanzialität mit einem Wesen, „das vor allem auf dem Abstand gründet“, unter Beweis.

Ist eine politische Institution im strengsten Sinn dieses Ausdrucks möglich, die sich in ihrer Form und Funktionsweise an die Sprache anlehnt? Ist eine Republik wahrscheinlich, die das Menschentier auf dieselbe Weise schützt und stabilisiert, wie die Sprache ihre schützende und stabilisierende Funktion gegenüber dem Sprachvermögen, also der Neothenie, ausübt? Eine nicht-substanzielle Republik, die auf Differenzen und Differenzen zwischen Differenzen beruht und nicht repräsentativ ist? Darauf weiß ich nicht zu antworten. Ich hüte mich wie viele andere vor spekulativen Kurzschlüssen. Ich meine jedoch, dass die gegenwärtige Krise der staatlichen Souveränität zu solchen Fragen berechtigt und diese alles andere als müßig oder selbstgefällig sind. Die Frage, ob die Selbstregierung der Multitude sich direkt am Vorbild der Sprachlichkeit des Menschen herausbilden kann, an der unheimlichen Ambivalenz, die sie auszeichnet, dürfte zumindest ein offenes Problem bleiben.

 

2. Ritus. Der Ritus registriert jede Art der Krise und versucht, einen Umgang mit ihr zu finden: die das Handeln lähmende Ungewissheit, die Angst vor dem Unbekannten, der Ausbruch aggressiver Triebregungen innerhalb der Gemeinschaft. In den bedeutsameren Fällen betrifft die Krise, mit der sich der Ritus auseinandersetzt, jedoch nicht diese oder jene spezifische Verhaltensweise, sondern erfasst die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung: die Einheit des Selbstbewusstseins und die Öffnung zur Welt. Ernesto de Martino nennt jene neuralgischen Situationen, in denen das Ich zerfällt und die Welt zugrunde zu gehen scheint, „Krisen der Präsenz“. Was in solchen Augenblicken klar zutage tritt, ist die teilweise Umkehrbarkeit des Prozesses der Anthropogenese. Der Besitz jener fundamentalen Eigenschaften, die den Menschen von allen anderen Tieren unterscheiden, wird dann plötzlich ungewiss.

Der Ritus erfüllt nicht deshalb eine therapeutische Funktion, weil er eine Barriere gegen die „Krise der Präsenz“ errichtet, sondern weil er im Gegenteil alle ihrer Phasen noch einmal durchläuft und ihre Bedeutung umzukehren versucht. Die rituelle Praxis setzt sich der äußersten Gefahr aus, vertieft die Ungewissheit und das Chaos und kehrt zur Urszene der Menschwerdung zurück. Nur so kann sie eine symbolische Wiederholung der Anthropogenese bewirken und letztlich die Einheit des Ich und die Öffnung zur Welt bekräftigen. De Martino zufolge werden der psychopathologische Kollaps und die Katastrophe des gemeinschaftlichen Lebens durch die „kulturellen Apokalypsen“ in Schranken gehalten, d.h. durch kollektive Riten, die die Zerstörung nachahmen, um sie abzuschwächen. Die kulturellen Apokalypsen sind Institutionen, die auf der Ambivalenz und dem Oszillieren gründen: auf der Ambivalenz der kritischen Situationen, in denen nur der Verlust die Möglichkeit zur Rettung bereithält und kein anderer Schutz besteht als jener, den die Gefahr selbst vorzeichnet; auf dem Oszillieren zwischen etwas Vertrautem, das unheimlich wird, und etwas Unheimlichem, das wieder Vertrautes freisetzt.

Die „kulturelle Apokalypse“ ist das rituelle Gegenstück zu dem, was die Juristen „Ausnahmezustand“ nennen. Auch sie schließt das Außerkraftsetzen der gewöhnlichen Gesetze ein und lässt bestimmte Wesenszüge der menschlichen Natur (Krise und Wiederholung des anthropogenetischen Prozesses) in einer bestimmten historischen Entwicklungsphase gegenständlich werden. Wie der Ausnahmezustand umgrenzt die kulturelle Apokalypse einen Bereich, innerhalb dessen es unmöglich ist, eine allgemeine Regel eindeutig von der Anwendung im Einzelfall zu scheiden oder Fragen des Rechts von Fragen der Faktizität zu trennen. Der Ausnahmezustand ist heute zur stabilen Voraussetzung des gemeinschaftlichen Lebens geworden. Er ist kein begrenzter Übergang mehr, der vom Souverän eingeleitet und abgeschlossen wird, sondern schwingt permanent im Handeln und in der Rede mit. Diese Feststellung gilt auch für den Ritus. Die kulturelle Apokalypse ist nicht auf besondere Orte und Zeiten beschränkt, sondern betrifft mittlerweile alle Aspekte der zeitgenössischen Erfahrung. Der Grund dafür ist einfach. Die Aufgabe der Institutionen besteht darin, die extremen Gefahren einzuschränken, denen die Öffnung zur Welt des sprachbegabten Tieres ausgesetzt ist. In einer Epoche, in der die Öffnung zur Welt nicht mehr durch soziale Pseudo-Umwelten verschleiert oder eingedämmt ist, sondern sogar eine fundamentale technische Ressource darstellt (da gerade auf ihr Mobilität, Flexibilität usw. aufbauen), muss diese Aufgabe ohne Unterlass erfüllt werden.

Es bleibt zu fragen, ob der kulturellen Apokalypse (d.h. der historisch-natürlichen Institution, die das radikale Böse mittels Oszillieren und Ambivalenz in Schranken hält) etwas im Bereich des Politischen im engeren Sinn entspricht: d.h., ob der Ritus neben seinem Vordringen in alle Bereiche des Profanen auch präzise Aussagen über das mögliche Funktionieren einer nicht mehr staatlichen Republik bereitstellt. Meiner Ansicht nach kann man diese Frage positiv beantworten. Wie ich schon angedeutet habe, bin ich der Auffassung, dass der alte Begriff des Katechon, der „Kraft, die zurückhält“, ein adäquates politisches Äquivalent der kulturellen Apokalypsen darstellt; und dass dieser Begriff, wie übrigens auch der Begriff der kulturellen Apokalypse, keineswegs unauflöslich mit dem Schicksal der staatlichen Souveränität verbunden ist.

 

3. Katechon. Im zweiten Brief an die Thessaloniker schreibt der Apostel Paulus von einer Kraft, die verhindert, dass sich die Ungerechtigkeit in der Welt durchsetzt, und die immer aufs Neue den Triumph des Antichrist aufschiebt. Verhindern, zurückhalten, aufschieben: Diese Begriffe haben nichts mit „auslöschen“, „besiegen“ oder auch mit „eingrenzen“ gemein. Was zurückhält, geht nicht auf Distanz zum Zurückgehaltenen, sondern bleibt zu ihm in einem Verhältnis der Nähe, es vermischt sich sogar mit diesem. Das Katechon bezwingt das Böse nicht, sondern setzt ihm Grenzen und wehrt jedes Mal aufs Neue seine Angriffe ab. Es rettet nicht vor der Zerstörung, sondern hält sie in Zaum, und um das zu bewerkstelligen, passt es sich den unzähligen Gelegenheiten an, in denen die Zerstörung zum Ausbruch kommt. Es hält dem Druck des Chaos stand, indem es sich an dieses anschmiegt, so wie das Konkave sich in sein Konvexes einfügt. Die Grenzlinie, die das Katechon vom Antichrist trennt, gehört nicht ausschließlich einem der beiden Gegner. Wie in dem von Ernesto de Martino beschriebenen rituellen Dispositiv ist diese Linie gleichermaßen Symptom der Krise und Symbol der Rettung, Ausdruck der Ungerechtigkeit und Wesenszug der Tugend. Oder besser: es ist nur deshalb das eine, weil es auch das andere ist.

Im politischen Denken des Mittelalters und der Neuzeit wurde das Katechon zunächst mit der weltlichen Macht der Kirche gleichgesetzt und in der Folge mit den zentripetal organisierten Institutionen des souveränen Staates, denen ein Vertrag zugrunde gelegt wurde, der unbedingten Gehorsam einfordert. Auf diese Weise sollten sie der Auflösung des sozialen Körpers entgegenwirken. Hier ist wohl nicht der Ort, den konservativen Gebrauch des Begriffs Katechon einer detaillierten Analyse zu unterziehen. Wir wollen uns in diesem Zusammenhang mit einer einzigen Feststellung begnügen: Schmitt und sein Familienalbum (Hobbes, De Maistre, Donoso Cortès) berufen sich auf die „Kraft, die zurückhält“, um auf allgemeine Weise die stabilisierende und schützende Rolle zu bezeichnen, die den politischen Institutionen angesichts der Gefährlichkeit des umweltlosen und neothenischen Tieres zukommt. Eine solche Rolle ist zwar fundamental, jedoch nicht unterscheidungskräftig. Sie kann prinzipiell von den verschiedensten Typen politischer Institution in Anspruch genommen werden (von einer anarchistischen Kommune genauso wie von einer Militärdiktatur), aber auch von zahlreichen nicht politischen Institutionen (angefangen von der Sprache und dem Ritus). Im allgemeinsten Verständnis stellt das Katechon eine allgegenwärtige und alles durchdringende Eigenschaft dar, vielleicht sogar eine bio-anthropologische Konstante. Der entscheidende Punkt bei Schmitt und gleichgesinnten Autoren ist also keineswegs das Sich-Berufen auf eine „Kraft, die zurückhält“, sondern der Umstand, dass diese Autoren eine solche Kraft einzig und allein der staatlichen Souveränität zusprechen. Die Frage nach dem Katechon wird erst dann von ihrem vorurteilbehafteten Einsatz befreit, wenn die Notwendigkeit eines institutionellen Schutzes einerseits postuliert wird, wenn andererseits jedoch in Abrede gestellt wird, dass der Staat und das mit ihm verbundene „Monopol der politischen Entscheidung“ diesen Schutz zu gewährleisten imstande sind (da gerade von diesen große Gefahr ausgeht). Da einander völlig verschiedene oder sogar gegensätzliche Weisen gegenüberstehen, die gefährliche Instabilität des sprachbegabten Tieres einzudämmen, scheint es nicht nur gerechtfertigt, die Idee des Katechon von der „höchsten Herrschaft“ des Staates loszulösen, sondern auch das eine dem anderen entgegenzusetzen. All dies trifft natürlich nicht auf diejenigen zu, die den Staat im Vertrauen auf die angeborene Sanftheit unserer Spezies kritisieren. Für diese ist die „Kraft, die zurückhält“ stets tadelnswert. Ihnen zufolge ist die Aneignung des Katechon seitens des autoritären politischen Denkens vollkommen legitim, ja sogar ein unbestreitbarer Tatbestand. Mit solchen Positionen möchte ich mich aber nicht weiter beschäftigen.

Wenn man das Katechon mit der Unheil abwehrenden Funktion gleichsetzt, die jeglicher politischen (oder nicht politischen) Institution innewohnt, dann kommt man unweigerlich zum Schluss, dass diese Kraft als Begriff weiter gefasst ist als jener der staatlichen Souveränität. Zwischen den beiden besteht ein nicht zu überwindender logischer Abstand: Es handelt sich um den Abstand, der die Gattung von der Art trennt, das Syntagma „sprachbegabtes Tier“ vom Syntagma „Universitätsprofessor“. Wenn man hingegen die Aufmerksamkeit auf die eigentlich besonderen Züge des Katechon richtet, also auf das, was aus diesem einen Eigennamen macht, so ist es nicht schwer, seine radikale Heterogenität gegenüber der Form des Schutzes festzustellen, die die staatliche Souveränität entwirft. Wir wollen diesem zweiten Weg folgen. Um die charakteristischen Züge des Katechon als einer politischen Institution zu erfassen, jene Züge, die es begrifflich den kulturellen Apokalypsen annähern und dem modernen Zentralstaat entgegensetzen, gilt es, kurz seiner theologischen Struktur nachzugehen.

Das Katechon ist durch eine innere Antinomie gekennzeichnet. Es weist den Antichrist, das radikal Böse, die vielgestaltige Aggressivität in Schranken. Dem Buch der Offenbarung zufolge bildet jedoch der Triumph des Antichrist die notwendige Voraussetzung für die Wiederkunft des Messias, die Parousia, welche die Geschöpfe für immer rettet und der Welt ein Ende setzt. Dies ist der double-bind, dem das Katechon unterworfen ist: Wenn es das Böse zurückhält, behindert es dessen endgültige Bezwingung. Wenn es die Aggressivität einschränkt, verhindert es, dass diese ein für alle Mal vernichtet wird. Die Gefährlichkeit der Art Homo sapiens stets abzuschwächen, bedeutet zwar, ihre tödliche Entfaltung zu vermeiden, doch heißt dies auch (und vielleicht in erster Linie), ihre endgültige Beseitigung zu verunmöglichen: jene Beseitigung wohlverstanden, die sich die Theorien der Souveränität zum Ziel setzen, indem sie eine klare Zäsur zwischen dem Naturzustand und dem Rechtszustand einführen. In politischer Hinsicht wird diese Antinomie äußerst produktiv, indem sie ein Modell des institutionellen Schutzes entwirft. Diesem Modell gemäß können die (selbst)zerstörerischen Triebe, die mit der Öffnung zur Welt verbunden sind, ausschließlich dank den bio-linguistischen Bedingungen bearbeitet werden (Neothenie, Verneinung, Modalität des Möglichen usw.), die das Fundament und die Garantie dieser Öffnung darstellen. Vor der Gefahr schützt also nur das, was ihr Bestehen sichert.

Wiederholen wir noch einmal den entscheidenden Punkt. Indem es den Triumph des Antichrist verhindert, verhindert das Katechon zugleich das Erlösungswerk des Messias. Die Ungerechtigkeit zurückzuhalten, schließt den Verzicht auf die Wiederherstellung der Unschuld ein. Das Katechon, ein radikal anti-eschatologischer Begriff der politischen Theologie, setzt sich dem „Ende der Welt“ entgegen, oder besser dem Schrumpfen der Öffnung zur Welt, der Offenheit den verschiedenen Weisen gegenüber, wie die Krise der Gegenwart sich gestalten kann. Sowohl das siegreiche Böse als auch der vollständige Sieg über das Böse bringen jenes Ende mit sich, also jenes Schrumpfen der Öffnung zur Welt. Das Katechon schützt vor der unheilvollen Instabilität, die vom Antichrist ausgeht, in gleichem Maße aber auch vor dem Zustand des messianischen Gleichgewichts; vor dem schrecklichen Chaos genauso wie vor der erlösenden Entropie. Das Katechon oszilliert nicht nur zwischen dem Negativen und dem Positiven, ohne das Negative je auszulöschen, sondern bewahrt das Oszillieren als solches, sein Fortbestehen.

In politischen Begriffen im engeren Sinn gesprochen, ist das Katechon die republikanische Institution, die die Gefahren in Zaum hält, welche der Instabilität eines Wesens innewohnen, das „vor allem auf dem Abstand (zur eigenen Umwelt) gründet“. Zugleich bekämpft es aber auch die äußerst furchteinflößenden Weisen, auf die der moderne Staat den Schutz vor diesen Gefahren konzipiert hat. Nicht anders als die „irregulären Institutionen“ (Bündnisse, Räte, Versammlungen), die laut Hobbes die politische Existenz der Multitude kennzeichnen, ist das Katechon aufs Engste mit spezifischen Umständen und Gelegenheiten verbunden. Es stellt keine alles auf ein Zentrum ausrichtende Synthese der konkreten Lebensformen, lokalen Mächte und Konflikte dar, sondern erfüllt eine kontingente und punktuelle Aufgabe. Das Katechon ist die Institution, die sich dem permanenten Ausnahmezustand am besten anpasst, jener teilweisen Ununterscheidbarkeit (oder gegenseitigen Austauschbarkeit) von Rechtsfragen und Fragen der Faktizität, die diesen charakterisiert. Das Katechon ist die Institution, die sich am besten dem Ausnahmezustand anpasst, der längst nicht mehr ein Vorrecht des Souveräns ist, sondern vielmehr das Handeln und die Rede der Multitude bestimmt.

 

 

Bibliografie

 

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[1] C. Schmitt: Der Begriff des Politischen. Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg 1933, S. 41f.