09 2003
A r/c tivism in physikalischen und virtuellen Räumen
Die Straßen zurückerobern,
emanzipatorische Öffentlichkeit herstellen – wie
geht das in einer Gesellschaft, die von vielen als
Informationsgesellschaft bezeichnet wird, in der scheinbar
das Spektakel die politische Debatte ersetzt hat, in
der die Zurichtung des städtischen Raums auf neoliberal-ökonomische
Sachzwänge stetig vorangeht?
Was spätestens seit den Protesten
gegen die WTO von Seattle auf die Bühne einer globalisierten
Öffentlichkeit drängt[1],
politisch uneindeutig zwar[2],
jedoch unverwechselbar im Potpourri der Ausdrucksformen,
stellt eine Praxis im Umgang mit solchen Fragen dar.
Was geschieht hinter der Kulisse
der bunten Protest-Videobilder, die ja in Form, Produktionsweise
und Diskurs weitgehend durchaus traditionellen Mustern
verhaftet bleiben? Was tut sich in den virtuellen und
physikalischen Werkstatträumen der global vernetzten
Bewegungen?[3]
Wie verhält sich der virtuelle Raum des Internet zu
geographisch bestimmbaren, "echten" Örtlichkeiten?
Lassen sich beide noch klar voneinander abgrenzen,
in welcher Weise verschmelzen sie? Wie verändert sich
mit der rasanten Aneignung neuester Informationstechnologie
das Verständnis von Raum und Kommunikation innerhalb
der relativ kleinen, relativ privilegierten[4]
Gruppe der alternativen Medienaktiven?
Innerhalb des europäischen noborder-Netzwerks[5] und bei Indymedia UK[6] erlebe ich virtuelle und physikalische Räume beinahe als einen einzigen Kommunikationsraum, in dem die Grenzen zwischen "echtem" und "virtuellem" Raum immer mehr verschwimmen. Denn Medienaktivismus heißt nicht nur "Bilder/Texte machen und schneiden", oder sich per Mausklick Video- oder Audioclips anzuschauen – es bedeutet auch die Nutzung des Internet als Arbeitsraum, Sozialzentrum, Projektwerkstatt; die technische und soziale Aneignung von Technologien wie WiFi, Streaming, Satellitenverbindung am Schreibtisch und im physikalischen öffentlichen Raum. Diese Ausdehnung des Kommunikationsraums könnte Praxen der Produktion von Selbst und Öffentlichkeit, von politischer Organisation und Netzwerkbildung, ja vielleicht auch Wege des "wie weiter" aufzeigen. Am Beispiel des Grenzcamps in Strasbourg[7] und der Proteste gegen den G8-Gipfel in Evian (Juni 2003) soll diese beginnende Praxis beschrieben werden. An Ersterem habe ich vor Ort teilgenommen, an Letzteren vom Schreibtisch aus.
Grenzcamp in Strasbourg
Strasbourg wurde mit zielsicherem Gespür für symbolisch bedeutsame "reale" Orte als Bühne für ein Grenzcamp im Jahr 2002 ausgewählt. Die Stadt verweist mehrfach auf Themen des Europäischen noborder-Netzwerks: Die geographische Lokalisierung an einer Grenze, die die Beliebigkeit nationaler Grenzziehungen demonstriert, die Rolle Strasbourgs als europäische Hauptstadt, vor allem aber die räumliche Nähe des Schengen Information System (SIS)[8], brachten zentrale Diskurse des noborder-Netzwerks zusammen. Unter dem Label dsec – Database System to Enforce Control – hatte eine kleine Initiative im Vorfeld Zusammenhänge der Kontrolle von Grenzen im physikalischen und virtuellen Raum thematisiert. KünstlerInnen und Techies wurden gezielt zur praktischen und theoretischen Beschäftigung mit "free movement and free communication" eingeladen.[9]
Mit zwei- bis dreitausend
größtenteils europäischen Teilnehmenden war Strasbourg
von allen Grenzcamps seit 1998 nicht nur das größte,
sondern informationstechnisch gesehen auch das am besten
ausgestattete.[10] Gleich am Eingang des Geländes
entwickelte sich das Medienzentrum, "Silicon Valley"
genannt. Hier wurden diverse Indymedia-Seiten aktualisiert,
hier konnte Audio- und Filmmaterial geschnitten und
per Webstream und Piratensender gesendet werden, hier
wurde gescannt, gedruckt, fotokopiert, programmiert,
gemailt. Eine starke DSL-Standleitung sorgte für die
Verbindung zum Internet, LaptopbesitzerInnen konnten
sich via drahtloser Verbindung – oft mit geliehenen
Karten - einloggen. Die holländische Gruppe Ascii hatte
in einer dunklen Jurte ein Dutzend Terminals aufgebaut.
In einem gemieteten, gemeinsam aufgebauten Festzelt
wurde in einem Gewirr von Kabeln, Steckern, Verstärkern,
Mikrofonen, PCs und Laptops ein Campradio produziert.
Diverse mobile Medieneinheiten ließen sich in "Silicon
Valley" nieder, etwa der Videobus von AK Kraak
und ein Radiobus aus Deutschland.
Hier, am Anfang der Promenade,
die durchs ganze Gelände führte, parkte abends auch
der Doppeldecker-Bus der VolxTheaterKarawane aus Wien,
ein freundliches Beisl für die Abende, Bühne, Spielplatz,
Treffpunkt, Kino, Aktionswerkstatt, Galerie und Soundsystem,
aber auch ein Medienzentrum mit vier Computern, an denen
permanent geschrieben, Bilder hochgeladen, Radioprogramme
geschnitten und gesendet wurden.[11]
Trotz der beeindruckenden Ausstattung mit Informationstechnologie war man sich schon am dritten Camptag über eines einig: "Communication is fucked", der interne Informationsfluss funktionierte nicht. Der "Infopoint" im Eingangsbereich explodierte ebenso wie das "Action Tent" in einem kaum zu verdauenden Wirbel von filzstiftbeschriebenen Papierbahnen, der interne Radiosender wurde entweder nicht zur Kenntnis genommen oder stellte nicht die richtigen Informationen bereit. Unzählige Gruppen mit korrespondierenden Ansätzen, etwa die Leute von deportation class, (s)iberia, kanak attak, mib oder yo mango befanden sich auf demselben Gelände, jedoch ohne interne Öffentlichkeit, die ihnen erlaubt hätte, miteinander in Kontakt zu treten.
Reibungsverluste
Wie kommt es, dass ausgerechnet in einer Zusammenkunft von überdurchschnittlich kommunikationsgeübten AktivistInnen die Kommunikation nicht funktionierte? Immerhin hatten es viele der Anwesenden in den letzten Jahren immer wieder fertiggebracht, riesige, internationale Interventionen trotz Sprachbarrieren und über weite geographische Entfernungen hinweg, ungeachtet der unterschiedlichen Organisationsweisen und politischen Zusammenhänge, unter intensiver Nutzung von E-Mail, Websites und Chats auf die Beine zu stellen. Naheliegende Gründe wären etwa das Fehlen eines vorgeplanten Protestevents in Verbindung mit einer groß angelegten Mobilisierung, die zum ersten Mal Zusammenhänge der globalen Protestbewegung wie z.B. People's Global Action bewusst einbezog, oder auch der Umgang mit nicht-hierarchischen, selbstorganisierten Strukturen, deren Entwicklung länger braucht als zehn Tage. Könnte es jedoch sein, daß das interne Kommunikationschaos auch auf Reibungsverluste bei der Verschmelzung von virtuellem und physikalischem Raum zurückzuführen ist?
Parc du Rhin als E-Mail-Liste
Manches deutet darauf
hin, dass der Kommunikationsmodus des virtuellen Raums
unwillkürlich auf die materielle Umgebung der Rheinwiese
übertragen wurde, auf der das Camp sich ausdehnte. Jede
Gruppe pflanzte ihre Zelte auf den schmalen, langen
Grasstreifen am Rhein, so wie man eine Idee in eine
E-Mail-Liste wirft. Eine E-Mail-Liste funktioniert technisch
gesehen horizontal. Potenziell spricht jede/r zu jeder/m.
Manche hören hin, manche klicken weg. Unzählige Vorschläge
werden ausgesprochen, wenige weiterverfolgt. Manche
Listen erschöpfen sich in endlosen, kreisförmigen Diskussionen,
was der Erfahrung in den allmorgendlichen Barrio-Meetings
im Camp entspricht. Erfahrene E-Mailer haben ihre Strategien,
um das Problem überfüllter Mailboxen oder Nichtbeachtung
zu lösen. Oft spalten sich projektorientiert neue Listen
ab – kleinere Plazas sozusagen für ein bestimmtes
Publikum. Im physikalischen Raum des Grenzcamps jedoch
gab es kein Archiv, in dem man sich orientieren könnte,
gleichzeitig entstand auch keine "Agora",
auf der man sich zusammenfinden, diskutieren und Konflikte
verhandeln konnte.
Wie die Einschreibung auf einer
E-Mail-Liste schien die parallele Anwesenheit auf dem
Camp genug Rahmen zu bieten für Synergie: Mensch würde
seine Themen und Aktionsformen mitbringen, und wer sich
dafür interessierte, würde schon dazukommen. Die Rechnung
ging nicht auf. Die Logik des materiellen Raums ist
eine andere als die virtuelle. Einladungen konnten nicht
per Mausklick an alle Interessierten weitergegeben werden
– sie mussten an verschiedenen Stellen im Camp
per handgeschriebenem Zettel ausgehängt oder mündlich
weitergegeben werden, direkt oder per Radio. Während
im Internet die Kommunikationsdichte durch Bandbreite,
Serververfügbarkeit und Webkompetenz definiert ist,
spielten im Grenzcamp Entfernungen wieder eine Rolle.
Der eine Kilometer vom Eingang bis zum hinteren Ende
des Geländes war in gewisser Weise länger als die 3000
Kilometer zwischen zum Beispiel Wien und London in der
internetgestützten Vorbereitungsphase.
N/etikette im virtuellen und physikalischen Raum
Die Verwendung sprachlicher
Ausdrücke aus dem physikalischen Raum zur Beschreibung
von Vorgängen im virtuellen Raum ist hinlänglich bekannt:
man "besucht" eine Website, "geht"
in einen Chatroom, "schaut mal vorbei" oder
"trifft sich" dort, man "spricht sich"
via E-Mail. Umgekehrt ertappe ich mich dabei, Keyboard-Smileys
;-) auf Postkarten zu malen. Die folgende Kommunikationssituation
während eines d.sec-Workshops[12]
rief bei mir zunächst Irritation hervor:
30 Leute sitzen auf dem Boden
eines Zeltdoms im Kreis und halten eine Vorstellungsrunde
ab. Konzentrierte Stimmung. Ein paar Jungs vom Medienzelt
nebenan hängen am Eingang rum. Als Diskussionsleiterin
frage ich einen davon, ob er sich vorstellen möchte.
Die kurze, aber freundliche Antwort ist: "Nein."
Später schaltet sich einer kurz in die Diskussion ein,
nach einer Weile verlässt er ohne Aufhebens den Zeltdom.
Nach meiner Auffassung gehört
es zum guten Ton, sich an Vorstellungsrunden zu beteiligen.
Der Betreffende schien sich jedoch keiner Übertretung
dieser "Benimmregel" bewusst zu sein, im Gegenteil,
ich hatte den Eindruck, dass er mein Benehmen etwas
unangemessen fand. Übersetzt in Chatspeak läse sich
die gleiche Kommunikationssituation etwa so –
und vielleicht zeigt die andere Darstellung schon, warum
im Chatroom sein Verhalten völlig korrekt, meines dagegen
ein Verstoß gegen die "Netikette"[13]
wäre:
xy (~xy@67.110.168.11) has joined
#workshop <=betritt den Raum>
<ionnek> xy, would you
like to introduce yourself?
<xy> no ;-)
(…)
xy (~xy@67.110.168.11) has
left #workshop
"Lurken" ist ok, und
alle Online-Einführungen zum Thema Netikette empfehlen,
einen gewissen Grad von Anonymität in Chatrooms zu bewahren.
Nachfragen ist verpönt.
Auf ähnliche Weise lassen sich
vielleicht auch gewisse Irritationen in der Kommunikation
mit den Providern des Medien-Zelts auflösen. Wer Hilfe
braucht, hält sich am besten an die Empfehlungen von
Online-Knigges wie smart-questions[14]
– klare Frage stellen, keine unfundierten Spekulationen
über mögliche Fehlerquellen oder Lösungen, kein Smalltalk,
selber denken.
Medienaktion
Auch auf der Aktionsebene wurden Vorannahmen über Medien- und Technikaktivismus, "echten" und "virtuellen" Raum in Frage gestellt. Ein glaubhaft ausgestattetes Forschungsteam konnte mittels einer kleinen Theaterperformance vor dem Zaun des Schengen-Informationssystems Gerüchte über einen erfolgreichen Hack dieser gut gesicherten Datenbank in die Welt setzen.[15] Die Wirkung der Aktion gründete nicht auf technischem Hackerwissen, sondern auf einem dreisten Spiel mit den Mythen über dieses Wissen, und deren Umsetzung im physikalischen Raum: Hacker können alles, sie brauchen nur einen Laptop, Commands und vielleicht ein paar Kabel. Die spielerische Übersetzung von abstrakten Datenströmen in greifbare Bilder (das Datenkabel ausgraben) wurde gerne geglaubt. Im Rahmen der abschließenden Pressekonferenz des Grenzcamps wurde die Aktion unter Beteiligung von JournalistInnen und einem "Experten" des Bureau d’Etudes wiederholt und trug dazu bei, die Pressekonferenz zu einer Art Mini-Demonstration zum SIS umzufunktionieren. Obwohl längst nicht alle Register der Kommunikationsguerilla gezogen wurden, wurde die Geschichte von Le Monde[16] und einigen Webpublikationen kolportiert.
Medienarbeit
Während des Strasbourger
Grenzcamps vermissten viele die inhaltliche Debatte.
Der Tagesablauf war prall gefüllt mit Demo-Aktivitäten
und der Organisation des Alltags – Klodienst,
Mülldienst, Wachdienst schieben mussten nicht nur erledigt,
sondern zuerst mal besprochen werden, und die Konsensfindung
über Art und Weise der kollektiven Selbstorganisation
und Entscheidungsprozesse war ein mühseliges Unterfangen.
Shuddhabrata Sengupta erlebte diese Prozesse, ganz im
Sinne von Maurizio Lazzaratos Modell der sich verkörperlichenden
neuen Lebensmöglichkeiten im Ereignis von Seattle, als
"microcosmic model of a 'functioning anarchy'",
das er interpretiert als "instance of how the actions
and energies of the 'multitudes' might translate into
concrete realities on a day to day basis in a possible
future away from Capitalism"[17].Trotz
dieser positiven Wendung bleibt festzustellen, dass
die "Bewegung der Bewegungen" nicht nur in
Strasbourg so viel Zeit auf scheinbar Sachzwängen geschuldete
Prozesse verwendet, dass die denkende und diskutierende
politische Auseinandersetzung an den Rand gedrängt wird.
Vielleicht ist dies eine unbewusste Strategie, die intern
immer wieder gefeierte und in einem bunten Wirbel von
Videosequenzen dargestellte "diversity" der
Bewegung zusammenzuhalten. Für Hito Steyerl stellt sich
diese Diversität als eine nicht reflektierte Addition
widersprüchlicher, ja gegensätzlicher politischer Ansätze
dar.[18]
Die Vermeidung politischer Konflikte mag jedoch auch
Teil eines Re-Kombinierungsprozesses sein, in dem sich
Kooperationen/Überlappungen bilden eher anhand der Art
und Weise, wie
etwas gemacht wird, als warum
es gemacht wird. Möglicherweise liegt in der linguistischen
und politischen Vielfalt manchmal Gegensätzlichkeit,
auch ein Grund für die Beliebtheit von Videoclips als
Kommunikationsweise, die ohne Worte funktionieren kann.
Auch bei der "Wiederentdeckung
des Inhalts" spielt für mich Informationstechnologie
als Form eine Rolle, und zwar nicht in Gestalt fertiger
Produkte wie Webseiten oder Videos, sondern im Hinblick
auf eine eher unabsichtliche Funktion des Produktionsprozesses:
Die intensivsten, konzentriertesten Gespräche fanden
nicht in den großen Diskussionsveranstaltungen statt
– dort wurde das Sprechen, und, wie ich fürchte,
auch das Denken oft den Experten auf dem Podium überlassen.
Wieder war es die alternative Medienarbeit, die einen
Raum schuf in Gestalt der unzähligen Minidisk-NutzerInnen,
die ständig andere oder sich gegenseitig interviewten
– für eins der Radioprogramme auf dem Camp oder
zu Hause, für Indymedia Newswires, oder einfach nur
als in Privatarchiven vergrabene Dokumentation. In diesen
Interview-Gesprächen wurde gedacht, um Klarheit gerungen
und um wechselseitiges Begreifen. Das Gerät "Minidisk"
schien allgemein als Zeichen dafür respektiert zu werden,
dass diese Kommunikationssituationen nicht gestört werden
dürfen. Eine ähnliche Funktion von Medien wurde in Peter
Watkins Filmprojekt "La Commune" in Szene
gesetzt, in dem die einzelnen Szenen nicht durch eine
einheitliche Handlung verbunden werden, sondern durch
in anachronistischer Weise eingebaute Fernsehteams und
deren Sendungen.[19]
Während im Film jedoch die Grenze zwischen JournalistInnen
und Agierenden erhalten bleibt, hatte sie sich im Grenzcamp
weitgehend aufgelöst – ganz wie es nicht nur in
diversen Indymedia Mission Statements postuliert wird.
"Bei-nahe" – G8-Proteste in Evian
- Du
warst doch in Evian?
- Ja,
das heißt, nein - ich war nicht in der Schweiz, aber
im Chatroom.
Die
sieben Protesttage gegen den G8-Gipfel in Evian habe
ich auf der "anderen" Seite des Kommunikationsraums
verbracht: nicht auf den Straßen, Blockaden oder in
AktivistInnendörfern, sondern in Chatrooms, Streams,
Websites, E-Mail-Listen, Twikis. Körperlich war ich
völlig von der Außenwelt abgetrennt, wie festgeklebt
am Computer. Geistig/emotional oder einfach nur vom
Grad der Adrenalinausschüttung her war ich mittendrin,
beinahe. Herz und Hirn liefen auf Hochtouren, immer
fokussiert auf das, was "dort" passierte,
aber beinahe auch nahebei, hier in dem Kommunikationsraum,
den mein Bildschirm darstellte, den ich mit Leuten aus
der ganzen Welt teilte, in den die Informationen über
sämtliche Kanäle hineinströmten. Dutzende von IMCistas
produzierten eine kontinuierliche, überwältigende Kommunikationsdichte
und damit einen beinahe realen Arbeitsraum und Treffpunkt
im Internet. Ich konnte mich beinahe gleichzeitig im
Chatroom der KollegInnen in Spanien, Deutschland, Großbritannien
aufhalten, dazu in dem komplexen System der gemeinsam
und mehrsprachig genutzten "Dispatch"-Räume,
in denen Information ausgetauscht, überprüft, bearbeitet
und öffentlich gemacht wurde. Medienaktivistin sein
hieß für mich in dieser Situation nicht "berichten
über", sondern "protestieren" –
und zwar nicht nur in dem Moment, als die Leute im Medienzentrum
in Genf live über die Stürmung ihres "real space"
berichteten und um konkrete Hilfe baten.
Das Internet war nicht mehr ein
Werkzeug, das ich benutze, so wie man ein Telefon benutzt,
sondern wurde durch die Intensität der Kommunikation
zu einem Ort, der unerbittlich wie ein physikalischer
Treffpunkt Präsenz verlangte – wenn ich im Chat
bin, kann ich nicht gleichzeitig am Küchentisch plaudern
oder ins Kino gehen.
"It was exciting, but at times, it was too much, even though we were more people than ever before. The fastness, the urge to do 10 things at a time, a lack of pre-structuring and priority setting pushed us to the limits - no teargas for the webheads, but exhaustion after days on end at the computer, completely forgetting about basic physical needs. It was matrix. One person stayed online for 36 hours. Direct media. The dynamics of 'being there' spread from the streets to the virtual world."[20]
Kommunikations- und Interaktionsweisen aus dem "Meatspace" werden für die textbasierte Webkommunikation umerfunden. Man lernt, die Icons und Tags wie <lol> und <brb> als Lächeln, Blinzeln oder Verärgerung nicht nur zu verstehen, sondern auch zu empfinden. In der Chatpraxis kann die Zeichenkraft der Worte derart aufgeladen werden, dass sogar für gemeinsames Essen und Trinken "Räume" und Zeiten geschaffen werden. In Verbindung mit solchen sozialen Interaktionen bringen intensive Diskussionen, parallel in Arbeitsräumen und Chatroom-Separees als Beinahe-Äquivalent von Korridoren oder Kaffeebars geführt, auch emotional eine Nähe hervor, die sich in der Intensität beinahe nicht von Face-to-face-Begegnungen unterscheidet.[21]
Cyberpunk? Ich glaube nicht. In einer unspektakulären Weise sind viele MedienaktivistInnen (wie auch Privatmenschen, Geschäftsleute, Berufstätige, GamerInnen) schon mittendrin in der Matrix, die bei William Gibson noch wie eine düster-fremde Bedrohung beschrieben wird. Der real existierende Cyberspace besteht heute nicht (noch nicht?) aus biotechnologischen Geräten, die den menschlichen Körper über Elektroden an elektronische Netzwerke anbinden. Er entsteht durch die Nutzung von informationstechnologischen Kommunikationstools. Allein bei Indymedia konnte man im Frühjahr 2003 zwischen 600 und 700 E-Mail-Listen zählen, über 600 NutzerInnen tummeln sich auf den 2723 Seiten des kollektiven Content-Management-Tool Twiki, nicht zu vergessen die selten unter 60 IRC-Chatrooms. Unzählige Mediengruppen werden selbstbewusster im Umgang mit Radio- und Videostreams, RSS-Syndikation von Websites, Satellitenschüsseln, Wireless-Connections und nicht zuletzt in der Nutzung des nicht-kommerziellen Open-Source-Betriebssystems Linux. Diese Praxis ist keine virtuelle Realität, wie man sie sich in den 80er Jahren als grafische Simulation der Wirklichkeit vorstellte. Sie findet am Keyboard ebenso statt wie in den Bastelräumen der TechnikerInnen, auf den Straßen und in den temporären Medienzentren, in Zelten, soziokulturellen Zentren, besetzten Häusern.
Die Ergebnisse können sich zumindest auf der Ebene von Informationstransfer sehen lassen. Evian und Strasbourg sind nur zwei Beispiele von vielen: Für Evian wurden unzählige Einzelberichte in mindestens sechs europäischen Sprachen per RSS auf einer einzigen Website[22] zusammengeleitet und in mehreren zusammenfassenden Berichten aufbereitet.[23] Wer auf der Straße war, konnte sich per SMS von FreundInnen durchgeben lassen, was wo passierte. Die permanente Anwesenheit von tragbaren, fahrbaren, transportablen Mediengerätschaften auf der Straße, sei es in Form von Bussen oder Public Access Terminals, Satellitenschüsseln oder Kameras und Minidisc-Aufnahmegeräten, bewirkt mehr als Berichterstattung – sie verändert die Form der politischen Artikulierung, kann Teil von Interventionen werden, beitragen zur permanenten Produktion von Öffentlichkeit, einer Öffentlichkeit, die nicht trennen muss zwischen "wirklich" und "virtuell". So ist es nur konsequent, wenn Teile der globalen Protestbewegung immer häufiger nicht nur nach "free movement" verlangen, sondern auch nach "free communication", und dabei gekonnt virtuellen und physikalischen Raum verbinden: Während der G8-Proteste in Evian besuchte ein Demonstrationszug die WTO, die International Organisation for Migration[24] und die World Intellectual Property Organisation, und auf die Aktionen rund um den UN-Gipfel "World Summit of the Information Society" im Dezember 2003 darf man gespannt sein.
[1] Die Genealogie dieser globalen Protestbewegung ist (noch) nicht festgeschrieben. Für manche war der erste Zapatistenaufstand 1994 die Initialzündung, andere beziehen sich auf ältere Bewegungen in ihren jeweiligen Staaten, wieder andere setzen einen der weltweit synchronisierten Aktionstage an den Anfang.
[2] Diese Uneindeutigkeit diskutieren etwa Boris Buden: Forever young. Negris Multitude als post-emanzipatorisches Emanzipationskonzept. In: www.eipcp.net/transversal, Space of Empire, www.eipcp.net/transversal/0603/buden/de; und Maurizio Lazzarato: Kampf, Ereignis, Medien. In: www.eipcp.net/transversal, representations, www.eipcp.net/transversal/1003/fr/de. Buden konstatiert, dass "wir innerhalb der Multitude kein Gefühl politischer Zugehörigkeit und uns verpflichtender Solidarität mit den anderen 'Mitgliedern' entwickeln" können. Lazzarato konzentriert sich auf den im Ereignis Seattle greifbar gewordenen Übergang von einer politisch-emanzipatorischen großen Erzählung zu einem Modus der Möglichkeiten.
[3] Beispiele für virtuelle Arbeitsräume wären etwa irc.indymedia.org oder das Verzeichnis der beinahe 700 Indymedia-E-Mail-Listen, von den unzähligen temporären "Convergence-Centers" und Medienzentren wären etwa das für WSIS geplante Polymedia Lab oder das Indymedia-Center in Genua zu nennen.
[4] Der Zugang zu den Kommunikationsräumen der Tech/MedienaktivistInnen ist durch neue und klassische Ausschlussmechanismen begrenzt – vgl. etwa zum Thema "Gender und Indymedia" die Kurzstudie von Blue: Leftist Techies and patriarchy, 17.01.2002 19:10. online im Internet http://de.indymedia.org/2002/01/13720.shtml [Stand 24 Sept 2003]
[6] Zur Zeit: http://www.indymedia.org.uk. Mehr zur Geschichte dieses Kollektivs bei Annie und Sam: From Indymedia Uk to the United Kollektives. Erscheint voraussichtlich in Media Development 2 (2003). Online im Internet http://ionnek.strg.at/bin/view/Main/ImcUkMd
[7]
Aufruf online im Internet http://noborder.org/strasbourg/display/item_fresh.
php?id=1&lang=en
[8]
Eine Datenbank, die u.a. Daten über MigrantInnen
und AktivistInnen speichert und damit auf das neue,
informationstechnisch unterstützte Grenzregime verweist.
Einführung online im Internet http://noborder.org/strasbourg/topics/back/display.
php?id=33&lang=en
[9] Siehe http://www.dsec.info
[10] Vgl. Geert Lovinks Brief an nettime, 2 Juli 2002 online im Internet http://amsterdam.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-0207/msg00147.html
[11] Mehr zu Rolle und Konzept des volXtheaterbusses bei Jürgen Schmidt: another war is possible // volXtheater. In: eipcp.net, real public spaces, http://eipcp.net/transversal/1203/schmidt/de. Berichte online im Internet http://zone.noborder.org, Link: diary und http://no-racism.net/noborderlab, Link: Projektarchiv Strasbourg.
[12] Workshopbericht online im Internet http://de.indymedia.org/2002/07/26955.shtml
[13] Vgl. Valentina Djordjevic: Von "emily postnews" zu "help manners". Netiquette im Internet. Wissenschaftszentrum Berlin 1996. Online im Internet http://duplox.wz-berlin.de/texte/vali/index.html
[14] Online im Internet http://www.catb.org/~esr/faqs/smart-questions.html
[15] Vgl. die Beschreibung bei Jürgen Schmidt: another war is possible // volXtheater. In: www.eipcp.net/transversal, real public spaces, http://eipcp.net/transversal/1203/schmidt/de, Bilder online im Internet http://zone.noborder.org/pics/research_sis
[16] Le Monde Interactif 27.7.2002
[17] Shuddhabrata Sengupta: No Border Camp Strasbourg : A Report, 29 Jul 2002 online im Internet http://mail.sarai.net/pipermail/reader-list/2002-July/001673.html
[18] Vgl. Hito Steyerl: Die Artikulation des Protestes. In: Gerald Raunig, TRANSVERSAL. Kunst und Globalisierungskritik. Wien 2003, 19-28, online im Internet http://eipcp.net/transversal/0303/steyerl/de
[19] Mehr dazu bei Michaela Pöschl: "… beyond the limitations of the rectangular frame". In: eipcp.net/transversal, representations, http://eipcp.net/transversal/1003/poeschl/de
[20] Aus der Nachbereitung der Evian-Berichterstattung, online im Internet http://ionnek.strg.at/bin/view/Main/EvianExperience. Hier auch weitere Einzelheiten zu den benutzten IT-Tools.
[21] Vgl. Bernhard Debatin: Analyse einer öffentlichen Gruppenkonversation im Chat-Room. Vortrag gehalten auf der Jahrestagung der Fachgruppe Computervermittelte Kommunikation der DGPuK in München 1997. Online im Internet http://www.uni-leipzig.de/~debatin/German/Chat.htm
[23] Z. B. online im Internet die Zusammenfassung von IMC UK http://www.indymedia.org.uk/en/2003/12/282510.html
[24] Eine der Institutionen für "global governance", vgl. online im Internet http://www.noborder.org/iom/index.php