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04 2008

Paradoxe Kritik

Ulf Wuggenig

Toni Negri verwies in einer Arbeit, die Einblick in seine Aufarbeitung verschiedener theoretischer Strömungen gibt, darauf, dass er auf die Parole „Von der kritischen Soziologie zur Kritik der Kritik“ bereits im Jahre 1987 in einer Arbeit von Luc Boltanski und Laurent Thévenot gestoßen sei.[1] Obwohl ihm der Gedanke durchaus als interessant erschien, fragte  er sich jedoch zugleich, ob es sich nicht um ein bloßes Spiel mit Worten handle. Die Formulierung erhielt Anfang der 1990er Jahren noch eine andere Fassung, aus der deutlicher wurde, dass man es mit einem Kampf von Paradigmen zu tun hat: „Von der kritischen Soziologie zur Soziologie der Kritik“. Diese Formel wurde in Frankreich hauptsächlich von Luc Boltanski, Laurent Thévenot und Nathalie Heinich gebraucht, allesamt ehemalige Mitarbeiter/innen von Pierre Bourdieu. Bruno Latour, ansonsten der originellere Denker, schloss sich in dieser Frage dieser Assoziation an[2], was ihr Gewicht zweifellos verstärkte.

Während Nathalie Heinich mit diesem Ansatz nicht zuletzt den Übergang von einer normativen zu einer deskriptiven Theorie vor Augen hat,  also einen verstaubten positivistischen Ansatz vertritt, der sich am Postulat der Werturteilsfreiheit orientiert[3], gilt dies weder für Latour noch für Boltanski. Dieser  erklärte in einem nach seiner Studie über den neuen Geist des Kapitalismus erschienenen Beitrag, dass er nur an eine vorübergehende Abwendung von der Position eines kritischen Soziologen gedacht habe.[4] Latour machte ohnedies von vornherein deutlich, dass er sich an anderen Argumentationsfiguren orientiert  als die „kritische Soziologie“. Aus seiner Sicht verleitet die Kritik seitens „kritischen Soziologie“ zu einem Kampf gegen die falschen Feinde.[5] Da der Ausdruck „kritische Soziologie“ in den empiristisch dominierten deutschsprachigen und angelsächsischen Soziologiefeldern ungebräuchlich ist, zumal es auch den entsprechenden kritischen Geist dort kaum noch  gibt, erscheint  es vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass mit „kritischer Soziologie“ in Frankreich vor allem Pierre Bourdieu und dessen Schule gemeint sind. Bei der Soziologie der Kritik handelt es sich somit hauptsächlich um einen Angriff auf Bourdieus „Feld-Kapital-Habitus“-Paradigma, einerseits von positivistischer Seite, anderseits von Positionen, die in den Labeling-Prozessen des wissenschaftlichen Feldes als pragmatische Soziologie, als Aktor-Netzwerk-Theorie und als Konventionsökonomie bezeichnet werden. Diese Angriffe sind aus feldtheoretischer Sicht leicht nachvollziehbar, stieg Bourdieu doch kontinuierlich zu einer dominanteren Position auf. Nur noch die Arbeiten von Michel Foucault werden häufiger zitiert als die von Bourdieu.[6]

Ich werde mich, was die Rekonstruktion der Kritik der kritischen Soziologie betrifft, vor allem auf den Erfinder der Idee einer „Soziologie der Kritik“, also auf Luc Boltanski, konzentrieren, ohne auf Hinweise auf andere Positionen ganz zu verzichten. Boltanski grenzt seinen Ansatz auch scharf gegenüber anderen Spielarten „kritischer Theorie“ ab, sowohl von denen in marxistischer Tradition wie der Frankfurter Schule, als auch von denen in der Tradition von Nietzsche[7]. Dennoch wird die Soziologie und dabei insbesondere die Theorie von Bourdieu in diesem Beitrag mein hauptsächlicher Bezugspunkt sein. Bereits Negri wies darauf hin, dass Boltanskis Ansatz in philosophischer Hinsicht nicht allzu weit reicht. 

Den Begriff der „kritischen Soziologie“ bezieht Boltanski nicht etwa auf die Spätphase von Bourdieu, also auf jene Periode, in welche politische Interventionen wie La misère du monde, die gegen die Kulturindustrie gerichteten Auftritte im Fernsehen oder die gegen Neoliberalismus und amerikanischen Imperialismus, gegen Medien- und Zeitgeistintellektuelle gerichteten Reden und Essays fallen, die Bourdieu zum „letzten Sartre’schen Intellektuellen“ Frankreichs machten.[8] Boltanski, der diese Interventionen offenbar missbilligte,  unterscheidet vielmehr zwischen einem „wichtigen und diskutierbaren“ Werk von Bourdieu und der von ihm als „Agit-Prop“-Phase[9] bezeichneten Orientierung der 1990er Jahre, in die jedoch immerhin so wichtige Schriften wie Méditations pascaliennes oder Les régles de l’art fallen.

Boltanski hat vielmehr den bereits früh formulierten theoretischen Kern der kritischen Soziologie vor Augen.[10] Ein erster exemplarischer Satz aus diesem Theoriekern lautet gemäß Boltanski: „Die Soziologie enthüllt die Selbsttäuschung, den kollektiv aufrechterhaltenen (...) Verblendungszusammenhang, der in allen Gesellschaften die heiligsten Werte und damit die soziale Existenz fundiert.“ Das damit verbundene „Projekt der Desakralisierung“ bildet für Boltanski den Nukleus einer kritischen Soziologie, für die „alles Glauben sei, und zwar nur Glauben“. Hinzu kommt ein Axiom, das bereits aus den 1960er Jahren stammt: „Jede Möglichkeit symbolischer Machtausübung, i.e. jede Form der Macht, der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen, sie durch die Verschleierung der Kräfteverhältnisse, die seine Macht begründen, als legitim durchzusetzen, verstärkt diese Machtverhältnisse.“[11]

Gegen solche Annahmen wendet Boltanski ein, dass auch die kritischen Kompetenzen und die Kritiken, die von den Akteuren selbst geäußert bzw. auf Verhaltensebene artikuliert werden,  ernst zu nehmen sind. Das sei ihr nicht möglich, da sie das wissenschaftliche Wissen streng von der Doxa, dem Common Sense und den Vorbegriffen scheidet. Aus der pragmatischen Perspektive von Boltanski verfügen hingegen alle Akteure über Möglichkeiten zur Kritik. Ihnen allen stehen – wenngleich in unterschiedlichem Maße – kritische Ressourcen zur Verfügung, die sie in ihrem gesellschaftlichen Alltagsleben nahezu ununterbrochen einsetzen. Die kritische Soziologie sei gegenüber den Werten, welche die Akteure für sich in Anspruch nehmen, indifferent und damit nicht in der Lage, die kritischen Argumente welche die so genannten ‚gewöhnlichen’ Menschen im Laufe ihrer Streitigkeiten austauschen, genau zu erfassen  und zu analysieren.

Die Soziologie der Kritik im Sinne von Boltanski wendet sich gegen theoretische Zugänge in Soziologie wie Sozialphilosophie, die dazu neigen, Normforderungen auf die Ebene von Interessenkonflikten zwischen Gruppen, Klassen oder Individuen zu reduzieren, ihnen keine  Autonomie einzuräumen, sondern sie lediglich als eine verschleierte Form von Machtverhältnissen zu betrachten. Die pragmatische Soziologie von Boltanski weist das Modell von „Agenten“ zurück, die sich in einem ständigen Zustand der Lüge, der Verstellung, oder der Bewusstseinsspaltung befinden. In diesem Zusammenhang wird im Sinne einer weiteren Illustration einer solchen theoretischen Position in der gemeinsamen Arbeit mit Chiapello auf den ersten Grundsatz der „Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt“ von Bourdieu und Passeron verwiesen.[12]

Gegenüber Annahmen dieser Art verteidigt Boltanski die „gewöhnlichen Menschen“, die er nicht „Agenten“ nennt wie Bourdieu, sondern „Aktanten“. Im Gegensatz zu den Auffassungen der kritischen Soziologie sei auch die Kritik, die von den Akteuren selbst kommt, ernst zu nehmen. Bei Latour wird ein ähnlicher Gedanke in Form der Forderung zum Ausdruck gebracht, von der klassischen Soziologie und ihrer Asymmetrie zwischen Forscher und Handelnden Abschied zu nehmen, denn diese glaube mehr zu wissen, als die Akteure selbst.[13]

Demgemäß versuche die kritische Sichtweise, sich unterhalb des Bewusstseins der Akteure zu verankern und innerhalb der Strukturen Kräfte und Gesetze aufzudecken, die diesen entgehen. Moralischen Werten und Idealen kann sie sich nur annähern, wenn sie diese als Ideologien betrachtet bzw. als Doxa, als Produkte symbolischer Macht, als mehr oder weniger heuchlerische Zurichtungen der Machtverhältnisse. Im Gegensatz dazu setzt eine Soziologie der Kritik im Sinne von Boltanski, die sich auch als eine „Moralsoziologie“ versteht, den Bezug zu Idealen voraus.

Um von einer kritischen Soziologie zu einer Soziologie der Kritik zu gelangen, komme es nicht darauf an, so Boltanski, einen immer engeren Innenstandpunkt einzunehmen, der etwa die eigene Position als Forscher im Feld oder die Involvierung in das Untersuchungsobjekt reflektiert. Entscheidend sei vielmehr eine „immer weiterer Außenstandpunkt“. Es erinnert an utilitaristische Philosophen, die den unparteiischen externen Beobachter postulieren, aber auch an John Rawls, wenn Boltanski argumentiert, dass Kritik zu üben, bedeute, sich von Handlungen zu lösen und einen externen Standpunkt einzunehmen, von dem aus das Handeln unter einem anderen Blickwinkel betrachtet werden könne.

Ein erster Schritt in die Richtung einer Soziologie der Kritik wurde von Boltanski in den 1980er Jahren im Rahmen einer Untersuchung von Anschuldigungen in Gestalt von Leserbriefen in Le Monde unternommen. Die Untersuchung galt den Bedingungen, unter denen Anschuldigungen in Le Monde aufgegriffen und in bearbeiteter Form publiziert werden.[14] Dafür reicht es z.B. nicht aus, dass ein Vorfall als ungerecht dargestellt bzw. dass Empörung geäußert wird. Bezichtigende müssen z.B. den Anschein erwecken, nicht Partikularinteressen zu vertreten. Sie haben auf Manöver der Aufbauschung des Problems zu achten, ohne dabei lächerlich zu wirken. Der Befund, dass es Akteuren nicht schwer fällt, sich an ähnlichen Interpretationsfiguren zu orientieren, wie sie die kritische Soziologie gebraucht, wenn sie versteckte Partikularinteressen aufdeckt, widerlegt aus der Sicht von Boltanski die Behauptung einer radikalen Diskontinuität zwischen den Wahrnehmungen gewöhnlicher Menschen und der Realität der sozialen Welt. Auch daraus zieht er den Schluss, dass das Postulat der Asymmetrie zwischen Forschern und Beforschten und damit der Exklusivitätsanspruch der positiven und zugleich kritischen Wissenschaft aufgegeben werden müsse. Während für die kritische Soziologie die Selbsttäuschung Bedingung der Möglichkeit sozialer Ordnung sei, begreift die pragmatische Soziologie Prozesse der Kritik als ein internes Moment sozialer Ordnung. Sie bemüht sich darum, Möglichkeitsbedingungen der Kritik herauszuarbeiten. Statt Illusionen analysiert sie Anschuldigungen. Aus der Sicht von Boltanski befinden wir uns nicht in einer „Illusionsgesellschaft“, in der soziale Ordnung auf der Selbsttäuschung fast aller Mitglieder beruht, sondern vielmehr in einer „kritischen Gesellschaft“ mit einer Vielzahl kritischer Subjekte. Handlungen von Personen werden weder als Verwirklichung von Möglichkeiten innerhalb bestimmter Strukturen verstanden, noch als Ausdruck der Vollstreckung eines vorherbestimmten Programms, wie dies bei Zugrundlegung eines Dispositionsbegriffs wie des Habitus aus der Perspektive der pragmatischen Soziologie der Fall ist. Außerdem erfolgt eine Annäherung an die Frage der sozialen Ordnung, ohne dass diese auf ein Kräftespiel reduziert wird, auf das die Akteure keinen Einfluss nehmen können. Deutlich wird, dass man es bei der Soziologie der Kritik mit nichts anderem als einer Spielart eines voluntaristischen Programms zu tun hat, das den Akteuren ein hohes Maß sowohl an Kompetenzen wie auch an Freiheiten einräumt.

Kritik in Form von Anschuldigungen wird als ein Aufeinandertreffen heterogener Prinzipien sozialer bzw. politischer Ordnung begriffen. Die Soziologie der Kritik untersucht die entsprechenden Situationsbeschreibungen auf die ihnen zu Grunde liegenden Konstruktionen von Gemeinwohl. Dieser Ansatz mündet in das mit dem Ökonomen und Statistiker Thevenot entwickelte Modell der Rechtfertigungsordnungen oder -logiken, die als „cités“ bezeichnet werden. Nach seiner theoretischen Fundierung in De la justification: Economies de la grandeur[15] fand dieser Ansatz zur Herleitung eines Außenstandpunkts seine bekannteste Anwendung in der 1999 gemeinsam mit der Ökonomin Eve Chiapello publizierten Studie Der neue Geist des Kapitalismus. Diese Studie steht zugleich für eine Rückkehr zu einer kritischen Soziologie oder besser, für eine Verbindung einer Soziologie der Kritik mit einer kritischen Soziologie. In nachfolgenden vertiefenden Arbeiten zu dieser Studie, wie in einem Text von Boltanski zur Linken nach dem Mai 1968 aus dem Jahre 2002, wird selbst der Anfang der 1990er Jahre in De la justification verkündete Abschied vom Begriff der sozialen Klassen, der zugleich mit der Absage an andere typische Kategorien und soziale Positionen der kritischen, aber auch der herkömmlichen Soziologie erfolgte, wieder zurückgenommen. Dort hieß es noch, dass die „Leser des vorliegenden Buches sich vielleicht darüber wundern (werden), dass sie auf den folgenden Seiten nicht die ihnen vertrauten Kategorien finden werden. Es gibt hier keinerlei Gruppen, soziale Klassen, Arbeiter, leitende Angestellte, Jugendliche, Frauen, Wähler usw., an die uns sowohl die Sozialwissenschaften als auch zahlreiche Zahlenreihen gewöhnt haben, die heute über die Gesellschaft im Umlauf sind.“ In dem Text, dessen Titel in deutscher Übersetzung wohl lauten würde, Die Linke nach dem Mai 1968 und das Begehren nach einer totalen Revolution findet man nichts anderes als das, was man in der Soziologie als eine Theorie der „neuen Klasse“, wie man sie mit etwas anderer Ausrichtung etwa von Daniel Bell oder Alvin Gouldner  kennt, bezeichnet: Die Rede ist von einer „neuen Klasse“, sogar von einer „neuen Bourgeoisie“, in ihrer Zusammensetzung sehr ähnlich mit jener sozialen Kategorie, die der Ökonom Richard Florida als „kreative Klasse“ bezeichnet, aber mit dem Unterschied, dass Boltanski sie unter Rückgriff auf eine geradezu marxistische Terminologie als Klasse von Ausbeutern und Ausgebeuteten, und als teilweise links und teilweise rechts beschreibt,  auf der Grundlage  ihrer Einbindung in das kapitalistische System, aber auch auf der Grundlage ihres Verhältnisses zu den in De la justification beschriebenen Rechtfertigungslogiken.

Die These von den zwei teilweise antagonistischen Kritiken, der Sozial- und der Künstlerkritik, die sich in den 1960er Jahren temporär vereinigten, ist zu bekannt, um sie hier wiederholen zu müssen. Es erscheint zu simplifizierend, binär zwischen einerseits einer Kritik, die sich auf Unterdrückung, Standardisierung und Kommodifizierung bezieht und  Befreiung, Autonomie und Authentizität postuliert, und andererseits einer Kritik, die Ungleichheit, Armut, Ausbeutung, Individualismus und Egoismus thematisiert und auf die Forderung nach Solidarität hinausläuft, zu unterscheiden. Selbst, wenn man diese Dichotomie nicht als allgemeine Systematisierung von politisch relevanter Kritik interpretiert, sondern als historisch spezifische Typologie, die sich speziell für die Analyse französischer Verhältnisse eignet, erscheint die Beschränkung auf zwei Spielarten „antisystemischer“ Kritik als einigermaßen verkürzt.  Übergangen  werden nicht nur die „grüne Kritik“ am Kapitalismus, sondern auch die verschiedenen Spielarten von identitätspolitischer Kritik auf der Grundlage etwa von Geschlecht, Religion oder Ethnizität. 

Auf der Grundlage von vergleichenden Inhaltsanalysen eines Korpus von Managementliteratur aus den 1960er und 1990er Jahren arbeiten Boltanski und Chiapello heraus, wie vor allem die Künstlerkritik zu einer Veränderung des Rechtfertigungsregimes des Kapitalismus und zu einer als erfolgreich eingestuften Mutation des Kapitalismus beigetragen hat. Betont werden zwar die mit diesem Akkumulationsregime verbundenen sozialen Probleme, die Vergrößerung von Ungleichheit, die Verbreitung von Anomie, von Vertrauensverlust und  neuen Formen von Ausbeutung im Rahmen von  projektorientierter Arbeit in Netzwerken. Sie diagnostizieren jedoch weder einen krisenhaften Zustand noch  eine Agonie des Systems. In der Krise befinde sich vielmehr die vorherrschende Kritik an diesem System: die Sozialkritik, einschließlich ihrer wissenschaftlichen Spielart in Form der kritischen Soziologie, weil sie nicht in der Lage sei, die neuen Strukturen, die zur Herausbildung eines dritten Geistes des Kapitalismus führten und die neuen Formen der Ausbeutung in Netzwerken zu erkennen und sich auf sie einzustellen;  − und die Künstlerkritik, weil sie wider ihre Absichten zur großen Transformation des Systems  beigetragen hat, ihr somit ein paradoxer oder perverser Charakter zukommt,  womit ich eine sprachliche Anleihe bei der Theorie des nicht-intendierten Handelns mache. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine gelungene Neuauflage von Max Webers dramatischer Erzählung über die Puritaner handelt, deren Geist und Habitus – die protestantische Ethik – wider die eigenen Intentionen die Herausbildung des Geistes des modernen Kapitalismus begünstigte, sehe ich in der Untersuchung der paradoxen Resultate der Kritik einen  Hinweis auf Desiderate der Forschung im Rahmen einer Soziologie der Kritik von beträchtlicher politischer Relevanz.

Dem Einfluss der Künstlerkritik, der in Frankreich Boltanski und Chiapello zufolge den Weg über eine Gewerkschaft – die CFDT – nahm, wird die Herausbildung einer neuen und zunehmend einflussreiche Rechtfertigungslogik zugeschrieben. Dieses in Herausbildung begriffene neue Rechtfertigungsregime bezeichnen sie als projektorientierte bzw. konnexionistische Cité, ohne diese jedoch auf einen kanonischen Autor gründen bzw. mit einer vergleichbaren philosophischen  Würde versehen zu können, wie die übrigen Cités. Diese Cité betont Mobilität, Flexibilität und Diversität sozialer Kontakte. Da der kapitalistische Geist als Konfiguration einer Pluralität von Cités zu verstehen ist, wird festgestellt, dass die Cité der Inspiration an Bedeutung gewinnt, was im europäischen Kontext etwa in den letzten Jahren durch den sich von Großbritannien aus verbreitenden Diskurs um „Kreativitität und Innovation“ bestätigt wird. Von abnehmender Bedeutung ist Boltanski und Chiapello zufolge hingegen der Stellenwert der industriellen Cité. Die „Welt“, auf die sich die neue konnexionistische Rechtfertigungsordnung bezieht, zeichnet sich auf der Ebene der Kapitalakkumulation durch Produktvariation und -differenzierung aus, sowie durch den großen Stellenwert, den ein globalisiertes Finanzsystem, das Internet, die Biotechnologie und Netzwerkfirmen gewinnen. Die spezifischen Anreize bzw. die Attraktivität des Systems für dessen Führungskräfte liegen der Theorie zufolge nicht zuletzt in der Beseitigung von steilen Hierarchien und autoritärer Führung.

In einer neuen Form von Meritokratie muss alles, was die eigene Verfügbarkeit beschränken könnte, aufgegeben werden, lebenslange Pläne sind genauso zu vermeiden wie zu starke Bindungen an Orte und Personen. „Größe“ im Sinne der „économies de grandeur“ wird in der sich neu herausbildenden „cité par projets“ jenen mobilen Akteuren zugesprochen, welche Netzwerke nicht nur egozentrisch und ausbeuterisch nutzen, sondern ihre Vernetzungen und Kontakte zugleich anderen zur Verfügung stellen. Im Versuch der Fundierung einer Theorie der weitgehend unsichtbaren Ausbeutung in Netzwerken, der sich auf die Berücksichtigung der Beziehungen zwischen Mobilen und Immobilen gestützt wird, sehe ich ein großes Verdienst der Studie von Boltanski und Chiapello, zumal die Netzwerktheorie vor allem in den USA die Soziologie in einer positivistischen Gestalt dominiert, sodass es dort zwar zu beeindruckenden mathematischen Formalisierungen, aber bislang nicht zur Entwicklung einer kritischen Theorie der Netzwerke gekommen ist. 

Während  in Zusammenfassungen der Studie, in Interviews von Boltanski und Chiapello wie auch in der mittlerweile breiten Literatur zum neuen Geist des Kapitalismus fast ausnahmslos eine Orientierung an der These von den zwei Kritiken und deren Zusammenspiel erfolgte, enthält die Studie  noch eine teilweise in Fußnoten abgedrängte interessantere Entfaltung der These von der paradoxen Kritik, in der letztlich drei Spielarten der Künstlerkritik unterschieden werden …

 
Der vorliegende Text ist eine Kurzfassung eines auf der eipcp-Konferenz „The Art of Critique“ in Wien gehaltenen Vortrags. Die Langversion wird im bei Turia + Kant erscheinenden Sammelband Kunst der Kritik im Herbst 2009 veröffentlicht.

 



[1] Antonio Negri, 2003 (1994), Relire Boltanski et Thévenot : sociologie et philosophie politique. Multitudes,  http://multitudes.samizdat.net/Relire-Boltanski-et-Thevenot.html?var_recherche=boltanski

[2] Vgl. Bruno Latour, 1998 (1991), Wir sind nie modern gewesen. Kap. Das Ende der Denunziation. Frankfurt / Main.

[3] Vgl. Natalie Heinich, Sociologie de l’art. Paris 2004.

[4] Luc Boltanski, 2002, The Left After May 1968 and the Longing for Total Revolution. Thesis Eleven, Nr. 69, May 2002, pp. 1-20.

[5] Vgl. Bruno Latour, (2004), Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern. Critical Inquiry, Vol. 30, Nr. 2., S. 225-248.

[6] Vgl. die Ergebnisse zu den Zitationshäufigkeiten von PhilosophInnen und SozialwissenschaftlerInnen des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlichen und intellektuellen Feldern in Ulf Wuggenig, 2008, Die Übersetzung von Bildern. In: Beatrice von Bismarck, Therese Kaufmann, Ulf Wuggenig (Hg.), Nach Bourdieu: Kunst, Visualität, Politik. Wien,S. 191.

[7] Vgl. Luc Boltanski / Eve Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme. Paris, S. 550ff.

[8] Vgl. Nilo Kauppi, N. (2000), The sociologists as moraliste: Pierre Bourdieu's practice of theory and the French intellectual tradition.' Substance, Vol. 93(3), 7-21.

[9] Luc Boltanski, Le Monde, 25.1 2002, Les réactions de nombreux compagnons de route ; P. Wright / A. Rousseau, La sociologie politique & morale de Luc Boltanski. Eléments biographiques. «Et puis j’ai rencontré Bourdieu» http://boltanski.chez-alice.fr/biographie.htm

[10] Vgl. Luc Boltanski / Eve Chiapello, 1999, Le nouvel esprit du capitalisme. Paris, S. 675.

[11] Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron, 1970, La reproduction. Paris, S. 18

[12] Vgl. Luc Boltanski / Eve Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme. Paris, S. 675.

[13] Bruno Latour, 2007, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. Main, S. 9ff.

[14] Vgl. Luc Boltanski mit Yann Darrée  und Marie-Ange Schitz, (1984) La Denonciation. Actes de la Recherche en Sciences Sociales. Jg. 51, Nr 51, S. 3-40.

[15] Luc Boltanski / Laurent Thévenot, 2007 (1991), Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft. Hamburg