10 2016
Comandante Brus Li isst Sushi
Gegen die Re-Essentialisierung von Ausdrucks- und Protestformen
Sind Dreadlocks bei Weißen kulturimperialistisch? Offenbart der Protest gegen die Prekarisierung in Europa bloß die Heuchelei der Protestierenden, die ihre Privilegien nicht reflektieren? In den letzten Jahren sind verschiedentlich Stimmen laut geworden, die aus der Perspektive der postcolonial studies und des Critical Whiteness-Aktivismus Behauptungen dieser Art aufgestellt haben.
Die für verschiedene feministische Zeitschriften tätige Autorin Hengameh Yaghoobifarah hatte etwa in diesem Sinne ihrem Unmut über die kulturalistischen Gepflogenheiten beim Fusion Festival Ausdruck verliehen.1 Und die postkoloniale Theoretikerin Nikita Dhawan kritisierte die Selbstverliebtheit des Protests in den westlichen Metropolen und die damit einhergehende „feudale Einstellung“2 der Protestierenden.
Aus herrschaftskritischer Sicht müssen solche Kritiken ernst genommen werden, weil sie Fragen der Verknüpfung von kulturellen Differenzen und sozialer Ungleichheit thematisieren. Es ist aber auch an der Zeit, ihnen zu widersprechen. Denn kulturelle Ausdrucksformen und politischer Protest werden häufig nur noch dann für legitim und emanzipatorisch gehalten, wenn die Leute, die sie leben bzw. ausführen, bestimmte Bedingungen erfüllen. Diese Voraussetzungen werden zudem zu Wesensmerkmalen erklärt. Das ist nicht nur theoretisch problematisch, sondern führt zu einer viel zu rigiden Delegitimierung von Praxis. Und macht solidarischen Protest letztlich unmöglich.
Heuchelei und Blackfacing
Dhawan sagt den westeuropäisch-nordamerikanischen Straßenprotesten der letzten Jahre eine Freude am eigenen Widerstand nach, der strukturelle soziale Ungleichheit nicht nur nicht angehe, sondern auch verschleiere. Die Protestierenden seien in der „Komplizenschaft in der fortgesetzten Reproduktion der Subalternität“3 gefangen. Die Proteste zwischen San Precario-Bewegung und jene gegen die restriktiven Migrationsgesetzgebungen sieht sie zwar als „Einspruch gegen Neoliberalismus und Neokolonialismus“4. Dennoch sei das alles nicht ganz ernst zu nehmen. Ihre plausible Kritik daran, dass facebook-likes und tweets relativ zahnlose Praktiken für den Umsturz der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind, mündet schließlich in einer grundlegenden Unterscheidung: Es bestünde ein „himmelweiter Unterschied zwischen einem arbeitslosen Jugendlichen in Spanien und einem Farmer in Indien, der sein Land verliert aufgrund des Zwanges, genetisch veränderte Monsanto-BT-Baumwolle anzubauen.“
Wer wollte den strukturellen Unterschied bestreiten? Nur folgt aus ihm nicht notwendigerweise ein mehr oder weniger an Leiden, geschweige denn eine bestimmte Haltung oder gar deren Ernsthaftigkeit. Genau das legt Dhawan mit dem Vorwurf der „Erotik des Widerstands“ aber nahe. Dass auch Leiden sich an gegebenen (ökonomischen wie emotionalen, sozialen wie kulturellen) Standards ausrichtet, also in Beziehung gesetzt werden muss zu seiner Umgebung, wird ausgeblendet. Neben dieser Relationalität des Leidens gibt es sicherlich auch absolutes Leid. Selbstverständlich ist zu verhungern etwas anderes als wegen der Arbeitslosigkeit wieder bei den Eltern einziehen zu müssen. Aber diese Absolutheit darf eben (analytisch wie politisch) nicht zum Legitimitätsgrad von Widerstand gemacht werden. Sonst ist das, was die einen Leute (also spanische Arbeitslose, d.h. EuropäerInnen) tun, immer schon – durch ihre Positionierung innerhalb der globalen Arbeitsteilung wie ihre kulturelle Zugehörigkeit – halbherzig, unernst, aufgesetzt, während es bei den anderen organisch erscheint. Und vor allem: die Konsequenz wäre, neoliberalen Sozialabbau etc. einfach hinzunehmen.
Letztlich ist es diese kulturelle Unterscheidung, die auch die Kritik von Yaghoobifarah am Fusion-Festival motiviert. Sie beklagt einerseits die mangelnde Präsenz von Menschen mit Migrationshindergrund bei dem angesagten Event. Andererseits zielt ihre Kritik auf das Styling der Anwesenden: „Ob ihre Abwesenheit [der People of Color, J.K.] wohl der Anlass dafür war, dass weiße Leute Personen of Color cosplayten? Ihre stereotypen, rassistischen Kostüme waren jedenfalls überall. Neben den Dreadlocks trugen weiße Menschen Kimonos, Kegelhüte, Oberteile mit random chinesischen Zeichen, Bindis, Saris, Federkopfschmuck, Tunnel, Turbane, Sharwals oder einzelne Federn im Haar (gerne einfach ins verfilzte Haar gesteckt). Wie Karneval der Kulturen in Berlin, nur ohne Kulturen. Wir schreiben das Jahr 2016 und bei der Mehrheit der Festivalbesucher*innen ist nicht angekommen, dass Red-, Black-, Brown- und Yellow-Facing unterste Schublade in der Garderobenwahl sind.“
Das Grundproblem ließe sie so auf den Punkt bringen: Der (berechtigten) Empörung über den Ausschluss von People of Colour bei einer subkulturellen, linken Veranstaltung – aber auch generell –, soll damit begegnet werden, deren kulturelle Eigenheiten als solche zu betonen und zu behaupten, also die Verbindung von kulturellen Zeichen, ihrer Bedeutung und den TrägerInnen dieser Bedeutungen festzuzurren. Widerstand, den können nur indische Farmer (oder vergleichbare Subalterne) auf angemessene Art und Weise leisten, Dreadlocks stehen legitim nur Schwarzen zu. Das ist eine Re-Essentialisierung6, also die Wiedereinführung der Behauptung einer Wesensverbindung. Mit poststrukturalistischen Theorieansätze galten solche Wesensbestimmungen eigentlich als passé – deshalb die Vorsilbe Re-. Denn sie ist analytisch wie auch politisch extrem problematisch.
Hinkende Vergleiche und statische Kultur – Analytische
Probleme
Analytisch besteht das Problem darin, ungeheure Verallgemeinerungen hinsichtlich der kulturellen Rahmungen zu betreiben. Damit werden auch die Praktiken verallgemeinert, die in diesen dominanzkulturellen Kontexten stattfinden. Was hat das nicht-kommerzielle Techno-Festival, das jährlich nördlich von Berlin stattfindet, tatsächlich mit jenen Minstrel-Shows in den USA des späten 19. Jahrhunderts gemeinsam, auf denen weiße DarstellerInnen sich das Gesicht schwarz anmalten („Blackfacing“)?
Abwesende wurden dabei durch herabwürdigende Stereotype repräsentiert. Dadurch wurde die Selbstrepräsentation von Schwarzen verhindert, in den konkreten Theaterstücken wie auch ganz allgemein in der Gesellschaft. Weil es diese Tradition gibt, können sich heutige Theaterproduktionen, in denen weiße Menschen angemalt als Schwarze auftreten auch nicht damit herausreden, sie hätten es nicht so gemeint. Die Intention allein kann die Bildtradition nicht löschen und außerdem gibt es ja auch Schwarze SchauspielerInnen, die engagiert werden könnten. Aber ist das mit der Kleidungswahl der Fusion-TeilnehmerInnen gleichzusetzen? Erstens handelt es sich bei dem nicht-kommerziellen Festival nicht um eine Institution wie das Theater. Zweitens verkleiden sich die Leute dort auch nicht, sondern leben in der Regel diesen Stil. Damit verorten sie sich drittens – so unreflektiert und peinlich das auch oft daherkommt – eher in einer anderen Tradition des kulturellen Zeichengebrauchs, nämlich dem sub- und gegenkulturellen. Und viertens nehmen sie mit ihrem Outfit auch keinen Minderheitenangehörigen und Marginalisierten den Job oder die Repräsentationsmöglichkeit weg. Minstrel-Show und Fusion gleichzusetzen, läuft deshalb immer auch Gefahr, erstere zu verharmlosen. Nach dem Motto, wenn die Fusion wie Minstrel ist, kann letzteres so schlimm ja nicht gewesen sein.
Darüber hinaus läuft Yaghoobifarahs Ansatz, zu Ende gedacht, ganz allgemein auf ein statisches (und damit extrem konservatives) Verständnis von „Kultur“ als Konglomerat kollektiv geteilter Merkmale hinaus. Wenn es nur für Schwarze legitim sein soll, Dreadlocks zu tragen, wird eine kulturelle Praxis (Frisieren) an eine als kulturell verstandene Zugehörigkeit gebunden (Schwarzsein). Kultur besteht dann nicht mehr aus Prozessen, in denen Menschen bestimmte Praktiken mit Sinn und Bedeutungen ausstatten (wenn auch, selbstverständlich, vor dem Hintergrund relativ stabiler, bestehender Bedeutungen). Stattdessen werden sie bloß als ausführende AgentInnen eines bereits vorhandenen Bedeutungspools gedacht. Da steht immer schon fest, was gut und angemessen für Schwarze, für Deutsche oder welche Gruppe auch immer ist. Wer sich nicht daran hält, gehört dann unweigerlich zu den Titel gebenden „Kulturlosen“. Das hieße letztlich auch, dass nur Menschen mit japanischem Migrationshintergrund legitimer Weise Sushi essen und nur Frauen Röcke tragen dürften bzw. sollten.
Nicht, dass demgegenüber jede Hybridisierung gleich widerständig wäre, wie in der ersten Cultural Studies-Euphorie viele glaubten. Aber hier werden alle Hybridisierungshoffnungen verworfen. Auch der queerfeministische Anspruch, Dualismen zu durchkreuzen und Dichotomien aufzulösen, wird aufgegeben. Was aber wird aus Mister T, dem Schwarzen Schauspieler mit seinem Irokesenschnitt? Ist das Ausbeutung einer Minderheitenpraxis durch eine andere, sozusagen schwarzes Redfacing? Warum nennt ein Kommandant der südmexikanischen Guerilla EZLN sich Comandante Brus Li, statt sich bei indigenen Traditionen zu bedienen?
Bei dieser Frage danach, wer legitimer Weise welche Zeichen gebrauchen darf, geht es nicht um das „Das wird man ja wohl noch machen/ sagen/ denken dürfen“ der GegnerInnen von political correctness. Die Berechtigung von Sprach- und anderen Regulierungen wird hier gar nicht in Abrede gestellt. Es geht um deren Begründung. Die geschlechtersensible Schreibweise, die bemessene Redezeit, die Frauenquote – solche Regeln sind ja die erkämpfte Reaktion auf die Benachteiligung und Diskriminierung durch wirkmächtige Zuschreibungen. Nur damit sollten sie auch begründet werden. Nicht mit vermeintlich kollektiven Wesensmerkmalen der konstruierten Gruppe.
Und letztlich muss wohl auch akzeptiert werden, dass die Entscheidung über die Frage des legitimen Gebrauchs immer umkämpft bleiben wird. Eine Letztentscheidungsinstanz ist theoretisch wie praktisch auszuschließen. Wer sollte über den angemessenen/ legitimen Gebrauch kultureller Zeichen berechtigt urteilen? Nur die UrheberInnen dieser Zeichen mit einer bestimmten Bedeutung? Das wäre im Falle der Dreadlocks ein partikularistisches Argument, das die Definitionsmacht vermutlich den AnhängerInnen der Rastafarian-Bewegung zuschreiben müsste. Aber warum sollte sich jemand – Schwarz oder weiß – von dieser christlichen Sekte, die Frauen nicht nur vom Trommeln ausschließt und den ehemaligen Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie (1892-1975), für Gott hält, überhaupt etwas sagen lassen?
Kulturelle Zugehörigkeiten ohne Ausweg und ohne Diversität –
Politische Probleme
Politisch ergeben sich mindestens drei Problemstränge. Erstens
werden die Möglichkeiten subkultureller Praktiken für die
Angehörigen der Dominanzkultur abgeschnitten bzw. es wird ihnen die
Legitimität abgesprochen. Die starke Betonung, dass bestimmte
Frisuren und Kleidungsstücke, also Zeichen zu einer bestimmten
„Kultur“ gehören und dieser nicht entliehen werden sollten,
schreibt auch die „Weißen“ – wie links oder wie arm auch immer
– auf ihre angebliche „Kultur“ fest. Gegen den Mainstream der
bundesdeutschen Rechtsextremismusforschung hatte auch die Soziologin
Birgit Rommelspacher in den frühen 1990er Jahren den Begriff der
Dominanzkultur eingeführt, von der alle profitieren, die ihr
zugerechnet werden. Sie hatte insistiert, das „Mächtige wie
Machtlose rassistisch orientiert sind, wenn sie in dieser
Gesellschaft aufgewachsen sind und nicht gelernt haben, sich bewußt
davon zu distanzieren. Auf diese Tatsache zielt der Begriff der
Dominanzkultur ab.“7
Der hier entscheidende Punkt dabei ist allerdings, dass Rommelspacher
die Möglichkeit einer bewussten Distanzierung explizit einräumt.
So
unreflektiert und romantisierend das auch in vielen Fällen war, so
gab es doch auch ein Aufgreifen und Adaptieren von Zeichen aus
anderen Weltgegenden, das in linker und gegenkultureller Tradition
steht. Dabei ging es von den so genannten „Stadtindianern“ der
1970er über den Iro im Punk und eben auch Dreadlocks darum, ein
Nicht-Einverständnis und eine Abgrenzung zu dominanten, kulturellen
Umgangsformen inklusive Warenform und Fortschrittsparadigma zu
demonstrieren. So schräg das in vielen Formen auch rüber kam, es
geschah mit solidarisch-anerkennender und nicht mit verunglimpfender
Absicht. Sicher, die Intention ist nicht alles und kann die
(möglicherweise beleidigenden) Effekte nicht kontrollieren. Aber
„gut gemeint“ ist auch keineswegs immer das Gegenteil von gut.
Zwar muss auch konstatiert werden, dass diese Appropriationen8 häufig nicht die Sichtbarkeit oder gar die Macht derer gesteigert haben, aus deren Traditionen man sie meinte entleihen zu können. All diese Zeichenvermischungen haben aber auch nicht dermaßen großen Schaden angerichtet, dass man sie mit dem gezielten Lächerlichmachen des Blackfacing gleichsetzen könnte.
Auf die Konsequenz hinzuweisen, dass sub- oder gegenkulturelle Praktiken für unmöglich erklärt werden, bedeutet nicht, über die mangelnden Handlungsmöglichkeiten ohnehin Privilegierter zu jammern. Es fragt prinzipiell nach den Konzepten, wie diese Privilegien aus der Dominanzkultur heraus angegriffen werden können. Hier versperrt auch der Text von Nikita Dhawan das Denken und Praktizieren von Möglichkeiten. Ihr hämischer Hinweis, die Begeisterung weißer MitteleuropäerInnen und NordamerikanerInnen für das „Spektakel des Widerstands“ – etwa von Occupy Wall Street und der Empörten in Spanien – bringe „praktischer Weise die Tatsache [zum Verschwinden], dass sie selbst Teil der von ihnen bekämpften Strukturen sind“9, lässt letztlich keinen Ausweg. Wer der Dominanzkultur angehört, kann demnach noch so gegen sie protestieren, er oder (etwas weniger vielleicht) sie profitiert strukturell. Dieses Statement steht durchaus in jener Tradition antikolonialer Argumentationen, die schon bei Jean-Paul Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde wegen ihrer Verallgemeinerung ebenso problematisch war wie wegen ihres ahistorischen Determinismus’. „Ein Mensch“, schreibt Sartre da, „heißt bei uns Komplize, weil wir alle von der kolonialen Ausbeutung profitiert haben.“10 Der strukturelle Profit aller ist unbestritten, aber Komplizenschaft meint gemeinhin eine mehr oder weniger absichtsvolle Beteiligung. Eine solche als Teil des (europäischen) Menschseins zu definieren, erklärt zum Wesensmerkmal, was historisch veränderbar gedacht werden muss.11 Und es setzt in Sachen Profit eben auch den Konzernchef mit der Kindergartenpädagogin gleich.
Vereinheitlicht werden zweitens aber auch die Marginalisierten. Es wird unterstellt, eine strukturelle Ausgrenzung führe zu kollektiv geteilten Haltungen und Vorlieben. Aber leider sind geteilte Diskriminierungen zum einen noch nie Garant für kollektive Mobilisierungen gewesen. Und warum sollte zum anderen jemand mit dunkler Hautpigmentierung irgendeinen näheren Zugang zu einer bestimmten Frisur und deren vermeintlich ursprünglicher Bedeutung haben als andere? Trägt Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo ihre Dreads, weil sie gewissermaßen natürliche Sympathien für die frauenfeindliche Rastafarian-Bewegung hat? Wohl kaum.
Drittens sind die Vereinheitlichungen von Gruppen und die an sie geknüpfte Legitimität im Gebrauch von Zeichen häufig mit restriktiven Regulierungen verbunden, führen also oft zu autoritärer Politik. Im Juli 2016 wurde im buddhistischen Kloster in Bagan (Myanmar) ein spanischer Tourist verhaftet, weil er ein Buddha-Tattoo auf dem Bein trug. Die Religiösen empfanden das als unangemessen und riefen die Polizei. Sie transferierten ihre moralische Regung – derjenigen Yaghoobifarahs durchaus ähnlich – also gleich ins Juristische.
Ob das als emanzipatorischer Akt für die Zeichengebrauchshoheit einer Minderheit durchgehen sollte, ist mehr als fraglich. Denn schließlich ist es eine Errungenschaft der Säkularisierung, dass Religiöse niemandem (außer ihren AnhängerInnen) die Wahl des Schmucks und der Klamotten vorschreiben dürfen.
Hingegen den Gebrauch von Nazi-Symbolen zu verbieten, hat zwar auch etwas Autoritäres, dient aber nicht bloß dem Schutz der „religiösen Gefühle“ einer bestimmten Gruppe, sondern ist ein Gebot der Menschlichkeit. Wobei selbstverständlich auch wieder umstritten ist, wann es um eine partikulare Gruppe und wann um die universelle Menschheit geht und wer das entscheidet.
Ökonomie der Zeichen
Sicherlich gibt es Sprechweisen, die in der Kombination von kultureller wie sozioökonomischer Positionierung einerseits und konkreter Aussage (über ein kulturelles Zeichen) andererseits aus emanzipatorischer Sicht als illegitim erscheinen. Das Eintreten europäischer Konservativer gegen die Unterdrückung von Frauen im Islam etwa wäre ein Beispiel dafür. Als illegitim erscheint das deshalb, weil sie erstens selbst keine Frauenrechte verteidigt, sondern sie im Grunde immer eingeschränkt haben. Und zweitens, weil sie „den Islam“ verallgemeinern und ein Zeichen wie das Kopftuch auf seine eine Bedeutung als Ausdruck patriarchaler Unterdrückung festlegen. Sie sprechen aus einer unhinterfragt dominanzgesellschaftlichen Position heraus.
Auch positive Legitimitäten können umgekehrt aus der Position der Sprechenden erwachsen: Wenn in Songtexten des Wu Tang Clans das N-Wort benutzt wird, bedeutet bzw. ist das etwas anderes als in Verlautbarungen des Ku-Klux-Klan: eine auf Diskriminierungsgeschichte verweisende Bezeichnung einerseits, ein diskriminierendes und Hass schürendes Wort andererseits.
Zudem gibt es Zeichen, deren Konnotation schwer zu verschieben ist, und andere, bei denen es leichter geht. Das N-Wort wird sich aufgrund seiner rassistischen Konnotationsgeschichte ebenso wenig als freundliche oder stolze Bezeichnung durchsetzen wie der Hitlerbart für Weltoffenheit. Viele solcher kultureller Zeichen sind aber auch mehrfach kodiert und ausschließlich in ihrem Kontext zu entschlüsseln: Dass der Hipster kein Ajatollah ist, sieht man (an anderen Details und dem Setting), auch wenn sein Bart dem des Geistlichen aufs Haar gleicht. Selbst Critical Whiteness-AktivistInnen würden den Hipsters ihre Bärte vermutlich nicht streitig machen, obwohl die Religiösen im Iran sie definitiv früher hatten. Zu vieldeutig das Zeichen, zu komplex seine Bedeutungsgeschichte. So sollte schließlich auch lesbar sein, dass Dreadlocks bei Weißen nicht notwendiger Weise Blackfacing ist und der Protest arbeitsloser Jugendlicher in Spanien keine Heuchelei.
Eine solche, analytisch wie politisch offene Herangehensweise an die Ökonomie der Zeichen hat es auch im Rahmen der antikolonialen Theorie schon gegeben: Während es in den frühen 1950er Jahren in Algerien noch Ausdruck für eine pro-koloniale Haltung galt, die französische Sprache zu benutzen und französische Zeitungen zu lesen, wandelte sich im Laufe des antikolonialen Kampfes ab 1954 die Bedeutung dieses Zeichens. Das Französische, schreibt Frantz Fanon in Aspekte der Algerischen Revolution, wurde zum „Werkzeug der Befreiung“12. Ähnliche Prozesse beschreibt Fanon im Übrigen für das Radiohören und nicht zuletzt für die Verschleierung der Frauen. Praktiken verändern demnach ihre Bedeutungen, und zwar durch soziale Kämpfe. Es gibt vielleicht größere und kleinere Wahrscheinlichkeiten dafür, dass Menschen sich an emanzipatorischen sozialen Kämpfen bewusst oder unbewusst beteiligen. Prinzipielle, kulturell festgelegte Teilnahmebedingungen gibt es aber nicht. In sozialen Kämpfen geht es schließlich immer auch um die Etablierung von „neuen Systeme[n] der Zeichengebung“13. Das ist zu Recht dem antimuslimischen Rassismus – in Bezug auf die vermeintliche Eindeutigkeit des Kopftuches – entgegengehalten worden. Es ist aber auch ein guter Einwand gegen die Re-Essentialisierungen von links.
http://www.jenspetzkastner.de/artikel/diskurs/archiv-diskurs/cultural-appropriation.html
sowie:
graswurzelrevolution, Münster, Nr. 413, November 2016, S.
6-7.
Eine gekürzte Version dieses Textes erscheint in Missy
Magazine.
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1 Hengameh Yaghoobifarah: „Fusion Revisited: Karneval der Kulturlosen. Bis in zwei Jahren. Vielleicht auch bis nie.“ In: Missy Magazine, 05.07.2016, missy-magazine.de/2016/07/05/fusion-revisited-karneval-der-kulturlosen/
2 Nikita Dhawan: „Die unterträgliche Langsamkeit des Wandels: Das Phantasma einer Stimme des Volkes und die Erotik des Widerstands.“ In: Phantasma und Politik, Nr. 11, Hebbel am Ufer, Berlin, 26.05.2015, S. 10-13, hier S. 13.
3 Dhawan 2015, a.a.O., S.13.
4 Dhawan 2015, a.a.O., S. 11.
5 Die Relationalität bezeichnet in der Theologie, der Philosophie und in der Systemtheorie ein Geflecht von mitunter komplexen Beziehungen. Die Relationalität wird von einer (einzelnen) Relation abgegrenzt verwendet - dort eben, wo es um das Zusammenspiel mehrerer Relationen, also mehrerer Beziehungen geht. Daher gebraucht in der Bedeutung von Beziehungs-Gefüge oder Beziehungs-Geflecht.
6 Essentialisierung ist die Festschreibung des anderen auf seine Andersartigkeit bzw. des Eigenen auf seine ursprüngliche Wesenheit (Essenz), wobei innere Differenzen nivelliert werden.
7 Birgit Rommelspacher: „Rechtsextremismus und Dominanzkultur“. In: Andreas Foitzik/ Rudi Leiprecht/ Athanasios Marvakis (Hg.): ‚Ein Herrenvolk von Untertanen’. Rassismus – Nationalismus – Sexismus. Duisburg: DISS 1992, S. 81–94, hier S. 81.
8 Appropriation (lat. appropriatio, von appropriare, „erwerben, (sich) aneignen, zu eigen machen, appropriieren“) bezeichnet die Aneignung sowohl von Sachen, also den Erwerb eines Eigentums, als auch die Aneignung im philosophisch-geisteswissenschaftlichen Sinne.
9 Dhawan 2015, a.a.O., S. 13.
10 Jean-Paul Sartre: „Vorwort“. In: Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. [1961] Frankfurt am Main 1981, S. 7-27, hier S. 23.
11 Sartres Konsequenz war bekanntlich dementsprechend auch eine Auslöschungsphantasie, „einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“ Sartre 1981, a.a.O., S. 20.
12 Frantz Fanon: Aspekte der Algerischen Revolution. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1969, S. 62.
13 Fanon 1969, S. 57.