Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

01 2016

Deutscher Exzeptionalismus

Gabriele Dietze

Vorspann[1]

An ‚Tagen wie diesen‘ scheint es mir wichtig, die Fähigkeit, zu staunen, sich zu wundern, zu kultivieren. Allzu schnell normalisieren sich unwahrscheinlichste Politikwechsel, wie derjenige der massenhaften Aufnahme muslimischer Flüchtlinge in Deutschland Ende 2015, in veralltäglichte politische Prozesse. Dabei gäbe die Tatsache, dass eine solche Schubumkehr in einem Land möglich ist, das im europäischen Vergleich neben Ungarn und Polen 2011 die höchsten Quoten islamfeindlicher Einstellung aufzuweisen hatte[2], Anlass zum Überdenken politischer Potenzialitäten. Radikale Transformation ist möglich, auch wenn sie, wie im zu diskutierenden Fall, ‚von oben‘ kommt.

Angela Merkel macht im Herbst 2015 etwas Außergewöhnliches. Sie öffnet die Grenzen für Bürgerkriegsflüchtlinge, die zuvor auf illegale Einreise mit Hilfe von Schleusern angewiesen waren, oder in Ungarn und Staaten des Balkan unter schlechten Bedingungen festsaßen. Damit erhalten bislang geschätzt eine Million Menschen zeitweilig oder vollständig Asyl, ohne dass von verantwortlicher Seite angesagt würde, wann die Grenzen wieder geschlossen werden. Zwei zentrale EU-Vereinbarungen werden dabei wenigstens zeitweise ungültig: das Dublin Abkommen, das den Flüchtlingsstatus vom Ankunftsland an der europäischen Außengrenze abhängig macht und das Schengen-Abkommen, das kontrollfreien Grenzverkehr unter den EU-Staaten regelt und das jetzt von vielen Ländern ausgesetzt wird.

Ebenfalls bemerkenswert ist, dass die Bundesrepublik Deutschland keine direkten Grenzen mit den Ländern hat, aus denen die Flüchtlinge kommen, und dass anders als den Interventionsmächten der Nahostkriege USA und England ihr auch keine direkte Verantwortung für die Konflikte in den Herkunftsländern zugesprochen werden kann. Indirekte Verantwortung allerdings soll nicht unterschlagen werden, wie Waffenlieferung an kriegsinteressierte und kriegsbeteiligte Länder wie die Türkei, Saudi-Arabien und Israel. Deutschland nimmt also Menschen auf, die viele Grenzen überqueren, um hierhin zu gelangen. Diese Menschen hatten, bevor sie hörten, dass sie hier Zuflucht finden könnten, bis auf wenige Ausnahmen keine Beziehung zu Deutschland und der deutschen Sprache.

Obwohl die deutsche Bevölkerung seit Jahrzehnten von den Leitmedien über angebliche Gefährdungen, die von dem Islam ausgehen, bearbeitet worden ist[3] und sich in dicht aufeinanderfolgenden „Erregungsgemeinschaften“[4] zu Kopftuch, Beschneidung, Sarrazin, und ISIS zusammengefunden hat, begrüßt eine zahlenmäßig erhebliche  zivilgesellschaftliche ‚Willkommenskultur‘[5] mehrheitlich junge muslimische Männer, die sonst als das statistisch größte Gefährdungspotential galten, und unterstützt teilweise kompetente, teilweise überforderte und teilweise sabotierende deutsche Bürokratien seit Monaten beim Bewältigen dieser Aufgabe. Und, obwohl Auguren und Miserabilisten[6] stetig vom alsbaldigen ‚Kippen‘ des Diskurses sprechen, scheint sich eher eine Normalisierung des Außergewöhnlichen abzuzeichnen. Zwar ist der Chor der ‚Patriotischen Bürger gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (Pegida) und der Hate-Mail-VerfasserInnen wieder angeschwollen, und in den Umfragen dräuen schwankende Zustimmungswerte, jedoch scheint sich Angela Merkels Pathosformel ‚Wir schaffen das‘ durchzusetzen.

Wie konnte es zu dieser außergewöhnlichen humanitären Geste, die allem widerspricht, was bislang an europäischer Abschottungspolitik bekannt war, kommen? Wie in historischen Kreuzungspunkten die Regel ist für Paradigmen- oder Diskurswechsel einer solchen Dimension eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich. Die kritische Ökonomie wird sich auf die Krise des Neoliberalismus konzentrieren und mit kritischen Politologen eine Krise der Repräsentation und eine Sehnsucht der entmündigten ökonomisierten EinzelbürgerIn nach kollektiver Agency entdecken. Die christlichen Kirchen, wie es in allen Weihnachtsbotschaften zu hören war, haben eine Renaissance der christlichen Nächstenliebe begrüßt. Die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Autorin dieses Texts konzentriert sich auf ein anderes Wissensfeld, nämlich auf eine Diskussion der Konstruktion von Außergewöhnlichkeit, von Exzeptionalität dieses historisch-politischen Vorgangs.

Außergewöhnlichkeit, und schon gar moralische Außergewöhnlichkeit hat im hier entfalteten Zusammenhang keineswegs durchgehend eine gute Presse. Der Historiker Heinrich August Winkler sieht in Angela Merkels Flüchtlingspolitik eine angebliche „moralische Selbstüberschätzung“ und befürchtet, dass Deutschland wohl eine „Großmacht der Werte“ werden wolle.[7] Der regierende Rechtspopulist von Ungarn Viktor Orbán schäumt, Deutschland terrorisiere Europa mit „moralischem Imperialismus“.[8] Aber auch auf der ‚linken‘ Seite werden Irritationen laut: Pablo Iglesias von der spanischen Podemos klagt: „Ich halte es nicht für gerecht, dass man sich in einer so schwierigen Situation damit profiliert, dass man für Flüchtlinge einsteht. Das wirkt so, als wolle jemand dafür gelobt werden, dass er seine Pflicht tut“.[9] Die Aussagen sind bei den unterschiedlichen Autoren von unterschiedlichen Motiven getragen. Heinz August Winkler möchte keine zusätzlichen Flüchtlinge in Deutschland, Viktor Orbán keine Flüchtlinge in Ungarn, Pablo Iglesias keine deutsche Hegemonie in Europa. Jeder reklamiert einen deutschen Anspruch auf Besonderheit.

Auch wenn Äußerungen Elemente von Ressentiment enthalten mögen, sind sie durchaus nicht gegenstandslos. Viele Äußerungen der letzten Monate in Deutschland von regierungsoffizieller Seite bis hin zu fundamental-dissidentischen Rändern der öffentlichen Diskussion enthalten Spuren eines Diskurses moralischer Überlegenheit. „Weil es zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten“, begründet Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag Dezember 2015 ihre Formel „Wir schaffen das“[10], und der spiritus rector des Vereins für politische Schönheit, Philip Ruch, titelt sein November 2015 erschienenes Manifest Wenn nicht wir, wer dann[11]. Auch, wenn der Vorwurf der Beanspruchung moralischer Überlegenheit quer durch nationale und internationale Medien kursiert möchte ich für das hier die Problematisierung des untersuchten Felds einen anderen Terminus vorschlagen. Er entlehnt sich aus der US-amerikanischen Polit-Begrifflichkeit und heißt ‚Exzeptionalismus‘.


Exzeptionalismus - US-amerikanisch und deutsch

‚Exceptionalism‘ wird ein US-amerikanisches Selbstwahrnehmungskonzept  genannt, das sich im Zuge der Besiedlung des Kontinents entwickelte. Es begann mit der Vorstellung der ersten Siedler, der Puritaner oder der so genannten Pilgrim Fathers, wie das Volk Israel auserwählt zu sein und als ‚Chosen People‘ ein ‚Promised Land‘ zu kultivieren. Mit der Amerikanischen Revolution 1776-78 wurde erstmals in der neueren Geschichte eine moderne Demokratie zur Staatsverfassung eines Landes. Der französische Reisende Alexis de Tocqueville studierte dieses Alleinstellungsmerkmal und brachte damit 1832 die Vokabel von der Außergewöhnlichkeit der Vereinigten Staaten – the exceptional – in Umlauf.[12]

Es ist allgemein bekannt, dass sich diese exzeptionalistische Mission im 20. Jahrhundert als Auftrag, ‚Freedom and Democracy‘ in alle Welt zu exportieren, fortgesetzt hat, segensreich war im Krieg gegen den Faschismus, weniger segensreich in Kriegen gegen den Kommunismus und den Islamismus.  Jedenfalls scheut sich bis heute kein amerikanischer Präsident, auch nicht Obama, von den USA im Superlativ als dem freisten, hervorragendsten und besten Land der Erde zu sprechen. Der Begriff Exzeptionalismus selbst vereint mehrere Bedeutungsebenen. Er spricht einerseits das Besondere oder Außergewöhnliche an, und andererseits kann damit auch das Hervorragende oder Großartige gemeint sein. Normbruch und Selbstfeier überschneiden sich oder liegen zumindest nah beieinander. Diese Doppelbedeutung ist zentral, wenn ich versuche, die Kategorie ‚Exzeptionalismus‘ auf deutsche Verhältnisse zu übersetzen.  

Deutsche Besonderheiten wurden von Historikern und Soziologen schon länger konstatiert. Im Versuch zu verstehen, warum das deutsche Bürgertum den Faschismus unterstützt hat, entwickelte Helmuth Plessner die bekannte These von der Verspäteten Nation. Im Gegensatz zu anderen früher geeinten europäischen Nationen, die ihren historischen Weg über Revolutionen gemacht hätten, sei das deutsche Bürgertum erst mit der Reichsgründung 1871 zu Einfluss gekommen, als die Aufklärung schon keine Kraft mehr gehabt habe. Man habe sich deshalb nicht auf Ideen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gestützt, sondern auf Volkstum und Vaterland. Eine weitere bekannte These über deutsche Besonderheit ist Ulrich Wehlers Begriff vom Deutschen Sonderweg. Die deutsche Nationenbildung  sei nach einer langen ‚anachronistischen‘ – d.h. autoritären – Entwicklung bei der Reichsgründung von einem militarisierten Demokratie-feindlichen Preußen übernommen worden, das erfolgreich die Monarchie erhalten und nach deren Sturz nach dem Ersten Weltkrieg über seine Eliten (Justiz, Diplomatie und Militär) bis tief in die Weimarer Republik demokratische Institutionen abgewehrt und damit den Weg zum Faschismus bereitet habe.


Exzeptionalismus der Sühne und der Buße

Mit dem Stichwort ‚Faschismus‘ wäre eine weitere Ebene eines möglichen deutschen Exzeptionalismuskonzepts  angesprochen: das negativ Außergewöhnliche – möglicherweise sogar Unvergleichbare – des Verbrechens des Holocaust. Dieser ist ein Dreh- und Angelpunkt inzwischen auch der gesamtdeutschen Selbstwahrnehmung. Der Holocaust ist eine ständige Katharsis, manche sprechen von einem „negativen Gründungsmythos“[13]. Kritisiert man einen deutschen Exzeptionalismus der moralischen Überlegenheit (in der Flüchtlingsfrage), kann man das meiner Meinung nach nur tun, wenn man eine Ko-Existenz und ein Interagieren der Konstruktion mehrerer Exzeptionalismen in betracht zieht. Dabei ist die Existenz eines Buß- oder Sühne-Exzeptionalismus[14] allerdings die Voraussetzung.

Nach einer langen Zeit der Verdrängung und der sprichwörtlichen deutschen ‚Unfähigkeit zu trauern‘ hat nicht zuletzt die Studentenbewegung der 1960er Jahre dazu beigetragen, dass aus dieser Verdrängung eine große Schuldanerkennung und eine Faschismus-Vergangenheits-‚Bewältigung‘ geworden ist. Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache ist aus der Erklärung des Wortes der Doppelcharakter des sozialen Prozesses herauszulesen. Bewältigung meine nämlich, etwas „in Gewalt bringen, eine Sache beherrschen“, aber auch „mit einer Sache fertig werden“. Aus der großen Verdrängungsnation wurde mittels des Bewältigungsnarrativs nach und nach eine große Sühnenation. 2015 kann man eine solche Haltung zugespitzt bei Philip Ruch vom Verein für politische Schönheit finden:

„Der moralische Glutkern der Bundesrepublik Deutschland bildet das Versprechen, Völkermord für alle Zeiten zu verhindern. Das Recht mit den deutschen Privilegien zu leben, erlegt uns allen einen einzigen moralischen Imperativ auf: Nie wieder Ausschwitz! Alle, die nicht im Bewusstsein dieses Imperativs leben, fahren politisch schwarz und sonnen sich in einer Legitimation, die uns nur im Lichte dieses einen Schwurs zusteht.“[15]

Weniger dramatisch formuliert, aber gleichbleibend nachdrücklich wird diese Selbstbindung auf allen staatsoffiziellen Verlautbarungen seit den 1960er Jahren wiederholt. Dieser ‚Schwur‘ – man könnte auch von einem Vertrag sprechen – ist sowohl Staaträson wie moralische Verpflichtung.  Wie sehr diese Verpflichtung oft rhetorisch geblieben ist, und wie wenig sie sich in Institutionen des Staates verankert hat, konnte man an der systematischen Blindheit in der Fahndung nach den Attentäter_innen von türkischen Geschäftsleuten, den so genannten NSU-Rechtsterroristen feststellen.


Kulturalistischer Rassismus und sexueller Exzeptionalismus

Dieser Buß- und Sühne-Exzeptionalismus leistete im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bedauerlicherweise auch der Überzeugung Vorschub, dass mit der Vergangenheits-‚Bewältigung‘ auch jeder Rassismus bewältigt sei. Diese Selbstzuschreibung  führte zu einer neuen Großverdrängung, nämlich dass das Ressentiment gegen die ins Land gerufenen Arbeitsmigrant_innen nichts mit Rassismus zu tun haben könne. Kulturalistischer oder differenzialistischer Rassismus wurde nicht als solcher erkannt und ebenfalls verdrängt.[16]  Auch hier entwickelte sich im Schlepptau der Student_innenbewegung ein Gegendiskurs, den man mit Feridun Zaimoglu einen ‚romantischer Multikulturalismus‘[17] nennen könnte, der ein hedonistisches und am Ferntourismus orientiertes Bild vom fernen schönen Anderen entwarf. Dieses Selbstbild leistete dem Gefühl Vorschub, zumindest die jüngere Generation habe die ‚Fremdenfeindlichkeit‘ bewältigt und überwunden.

Diese Euphorie fand jedoch ihre Grenze in dem heimischen ‚Fremden‘, der inzwischen ansässigen Arbeitsmigrationsbevölkerung, insbesondere an ihrem muslimischen Teil. Ein ‚enttäuschter Multikulturalismus‘ beklagte deren ‚rückständige‘ Sitten. Ein großer Teil der Ablehnung wurde durch eine Sprache der Sexualpolitik ausgedrückt. Man glaubte ein angeblich muslimisches Patriarchat, die sexuelle Unterdrückung der ‚verschleierten‘ Frau und Diskriminierung von Homosexuellen zu identifizieren. Die Besonderheit und Aufgeklärtheit der deutschen (und westeuropäischen) Nationen wurde mit der (sexuellen) Emanzipation ‚ihrer‘ Frauen und Homosexuellen gekennzeichnet. Insofern wäre neben einem Buß-Exzeptionalismus auch von einem sexuellen Exzeptionalismus zu sprechen, der vom linksliberalen Feuilleton bis zum Rechtpopulismus Fuß gefasst hat. Es ließ sich damit eine „okzidentalistische Dividende“[18] der erotischen Aufgeklärtheit erwirtschaften. Beim sexuellen Exzeptionalismus handelt es sich keineswegs um ein exklusiv deutsches Phänomen, sondern er ist über ganz Europa verbreitet.[19] Die schulterklopfende Selbstversicherung sexueller Freiheit ist ein vergleichsweise preiswertes Distinktionsmerkmal für Zivilisationsüberlegenheit im  Zeitalter neoliberaler Armutsproduktion.


Fiskalischer Exzeptionalismus

In diesem Zusammenhang sollte man den dritten deutschen Exzeptionalismus  verstehen, den ich nach dem büßenden und dem sexuellen den fiskalischen Exzeptionalismus nennen möchte. Ähnlich wie der Sühne-Exzeptionalismus basiert er auf spezifischen deutschen Narrativen, wie den Traumata der Inflationen der Weimarer Zeit und der fetischhaften Besetzung der D-Mark und ihrer Stabilität als Symbol der Erholung nationalen Selbstbewusstseins nach 1945.[20] Die ‚Einopferung‘ der D-Mark in den Euro war verbunden mit der Hoffnung auf seine ‚Stärke‘. Griechenland als angebliche ‚Verursacherin‘ der Euro-Schwäche bekam das zu spüren. Das Überlegenheitsnarrativ in der Griechenlandfrage lautete: „Wenn ihr nicht so gut wirtschaften und verwalten könnt (wie wir das erfolgreich tun), müssen wir Euch unter Kuratel stellen.“ Oder anders ausgedrückt, „Wenn wir ‚zu Hause‘ versuchen, die neoliberale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben politisch abzumildern, zum Beispiel durch Kurzarbeit, bedeutet das keineswegs, dass wir sie nicht im globalen Rahmen durchsetzen.“ Verschleiert wurde diese Politik mit der Botschaft, dass wir ‚denen‘ ja Milliarden von ‚unserem‘ Geld geben, verschwiegen wurde dabei, dass dieses Geld hauptsächlich auf Umwegen zur Rettung ‚unserer‘ Banken verwendet wurde.  

Ich möchte die Hypothese formulieren, dass die griechische Schuldenkrise und die kompromisslose Austeritätspolitik der deutschen Regierung im europäischen Rahmen in all ihrer Grausamkeit paradoxerweise ein entscheidendes Scharnier für die Politik der offenen Tür gegenüber Flüchtlingen der Nah-Mittel-Ostkriege im Sommer und Herbst 2015 gewesen ist. Es führt allerdings kein gerader Weg vom Griechenland-Bashing über den Sühne- zum humanitären Exzeptionalismus. Schließlich hatte die deutsche Politik sich lange Zeit gleichgültig gegenüber den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer von Libyen und Tunesien gekommen waren, verhalten und das Problem für eine italienische Angelegenheit erklärt. Vielmehr bedurfte es einer Kette von historischen Besonderheiten in der deutschen Außenpolitik und einer speziellen Disposition ihrer Akteur_innen, um einen Zusammenhang wirksam werden zu lassen.

Obwohl aus den europäischen Hauptstädten schon länger eine Klage über deutsche Hegemonie in der EU zu vernehmen war, wurde in der Eurokrise zum ersten Mal vom deutschen Publikum realisiert, dass diese Klage berechtigt sein könnte. Der überlaute besserwisserische Lärm des Griechenland-Bashing, das über die meisten deutschen Medienkanäle rauschte, löste bei Vielen Scham aus. Prominentester Widerspruch kam von Alt-Kanzler Schröder.[21] Es wurde als unangenehm empfunden, dass Griechenland nicht nur vor den Augen der Welt durch Deutschland dominiert wurde, sondern das dieser Prozess auch von lautem Triumphgeschrei begleitet wurde, das eher an nationalsozialistische Eroberungsrhetorik erinnerte als irgendetwas mit „Rettung“ zu tun zu haben schien.  

Die Anknüpfung an nationalsozialistische Eroberungsrhetorik wurde dann auch prompt geliefert.  Es wurde ‚zu Hause‘ als Schock erlebt, dass Griechenland in Gestalt der Syriza-Regierung mit die alten Forderungen nach milliardenschweren Kriegsreparationen  mit einer Medienkampagne ins Zentrum rückte. Diese glaubte man mit den Wiedervereinigungsverträgen erledigt zu haben und außerdem die ‚Schuld‘ mit dem Bewältigungsnarrativ abgebüßt zu haben. Hier haben wir es mit einerGegenrechnung der Mächtigen von Schulden mit Schuld zu tun, wie Nietzsche sie in der Genealogie der Moral (1887) schon kritisiert hat.

Der zentrale Link, der die deutschen Exzeptionalismen der Sühne mit denen der moralischen Überlegenheit verbunden haben könnte, war das verheerende internationale Echo auf die deutsche Austeritätspolitik. Diese wurde fast immer mit verbalen oder bildlichen Verweisen auf den NS garniert. Fast kein europäisches politisches Journal verzichtete auf Karikaturen von Angela Merkel mit Nazi-Insignien, Hitlerschnurrbärten, ‚Sieg-Heil‘-Posen, Knobelbechern, braunen SA-Uniformen und Hakenkreuzen.  D.h. die abstrakte ‚Größe‘ der deutschen Schuldanerkennung wurde nicht honoriert, sondern auf unerledigte alte Schuld und Schulden verwiesen. Angela Merkel, als in der DDR sozialisierte Deutsche, dürfte die Wucht der Nazi-Ettikettierung besonders getroffen haben. Als deutsche Kanzlerin hatte sie sich zwar in die staatsoffizielle Erinnerungskultur eingegliedert, aber sie war nicht in das Narrativ der Kollektivschuld hineingeboren, wie Altersgenoss_innen mit westdeutscher Sozialisation. Die DDR hatte sich als antifaschistischer Staat konstruiert, der sich in der Nachfolge des Widerstands gegen den Faschismus sah.     

Hier könnte einer der Schlüssel zur ungewöhnlichen und – das möchte ich unbedingt festhalten – in der Sache sehr begrüßenswerten neuen deutschen Solidarität liegen, jedenfalls dieser gegenüber syrischen Kriegsflüchtlingen. Diese kann als ‚Antwort‘ auf die kränkende Fremdwahrnehmung, die auf den faschistischen Schuld/Schuldenkomplex zurückgegriffen hatte, gelesen werden. Das trotzige Gegen-Narrativ lautet dann folgendermaßen: „Wenn wir als geizig und nationalborniert verschrien werden, zeigen wir uns jetzt großzügig und weltoffen in der Flüchtlingsfrage. Natürlich großzügiger und auf diese Weise weltoffener als alle anderen.“ Dieser neue deutsche humanitäre Exzeptionalismus  korrespondiert mit dem anhaltenden Gegenlesen deutscher politischer Aktivitäten mit der faschistischen Vergangenheit.

In zeitnahen internationalen Presseechos wird dieses hier behauptete Reiz-Reaktionsmuster überall wahrgenommen: „Vom Geächteten zum barmherzigen Samariter“, wird eine Presseschau internationaler Reaktionen übertitelt[22],  „Merkel has consigned the ugly German to History“, schreibt der Guardian[23]. Demonstrant_innen innerhalb der rechtspopulistischen Pegida allerdings stemmen sich gegen das Rad der Geschichte: In einer Montagsdemonstration im Oktober 2015 wird Merkel in Naziuniform mit  roter Armbinde (darauf allerdings ein Euro statt eines Hakenkreuzes) gezeigt und in einer verwandten Demonstration in Karlsruhe als schlimmster Kanzler seit Adolf Hitler tituliert. Im Gegensatz zu den internationalen Reaktionen, die ein unerwartetes ‚Reich des Gutes‘ entstehen sehen, wird in den deutsch-nationalen Rhetoriken Merkels Flüchtlingspolitik als Emanation eines ‚Reichs des Bösen‘ interpretiert und konsequenterweise mit faschistischen Insignien bebildert.


Abspann

Es bleibt abzuwarten, ob die hier entwickelten Thesen – Zusammenhang eines Sühne-Exzeptionalismus mit der ungewohnt direkten Hegemonie-Erfahrung in der Griechenlandkrise, ihrer faschismuskritischen Abstrafung und dem ‚humanitären Exzeptionalismus‘ der Flüchtlingspolitik – späteren Analysen mit größerem historischen Abstand standhalten werden. Viel wird davon abhängen, wie nachhaltig die im gegenwärtigen Politikfeld mobilisierten humanitären Ressourcen die deutsche Selbstwahrnehmung verändern und ob ihr schieres Dasein für eine gewisse historische Periode eine performative Kraft für eine Erfindung  von Räumen des Gemeinsamen und des (längerfristigen!) Teilens von Möglichkeitsräumen und von Ressourcen entfalten kann. 

 



[1] Der Artikel basiert auf zwei Vorträgen „German Exceptionalism and Diversity“, auf der Konferenz ‚Germany as Model, Germany as Partner, Global Germany“ des BMW Center for German and International Studies an der Georgetown University, Washington, am 14.12. 2015 und „Sexuelle Avantgarde versus Sexueller Exzeptionalismus“ am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien, 16.09.2015.

[2] Zick, Andreas, Beate Küpper, and Andreas Hövermann. Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Berlin: Studie Friedrich Ebert Stiftung, 2011

[3] Siehe das Kapitel „Die Steigbügelhalter des Rechtspopulismus. Die Verantwortung der Medien“ in: Bax, Daniel. Angst ums Abendland. Warum wir uns nicht vor Muslimen, sondern vor den Islamfeinden fürchten sollten. Frankfurt a. Main: Westend Verlag, S. 229-240.

[4] Sloterdijk, Peter. 1998. Der starke Grund zusammen zu sein. Frankfurt a. M.: Frankfurt a. Main. Suhrkamp.

[5] Eine Ad-hoc Studie des sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD errechnet aus einem repräsentativen Sample von 2000 Befragten, dass inzwischen jede/r zehnte Deutsche auf die eine oder andere Weise an der Flüchtlingshilfe engagiert sei, das bedeutet, dass ca. 8.000.000 Deutsche tätig engagiert sind. http://www.welt.de/politik/deutschland/article150200411/Viele-Deutsche-helfen-haben-aber-auch-Angst.html, abgerufen 03.01.2016.

[6] So die schöne Bezeichnung eines bestimmten Genres von Kritik, die sich über Schwarzmalerei ermächtigt, von Edinger, Thomas. Der Wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik. Berlin: Suhrkamp, 2015.

[7] „Deutschlands moralische Selbstüberschätzung“, Heinrich August Winkler in der FAZ am 28.09.2015, S. 6.

[9] Interview mit Pablo Iglesias von Mathias Krupa in: DIE ZEIT Nr. 42/2015, 15.

[11] Philipp Ruch, Wenn nicht wir, wer dann. München: Ludwig Verlag, 2015.

[12] Zum amerikanischen Exzeptionalismus generell siehe Lipset, Seymour Martin. American Exceptionalism. A Double-Edged Sword. New York: WW Norton & Company, 1997. Für eine neuere kritische Lektüre des Begriffs, siehe Donald E. Pease, The New American Exceptionalism. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2009.

[13] Siehe Leggewie, Claus und Anne Lang. Der Kampf um die Europäische Erinnerung: Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München: CH Beck, 2011, S. 15f.

[14] Im Englischen ließe sich das geschmeidiger mit ‚repentant exceptionalism‘ ausdrücken, vgl. meinen Vortrag „German Exceptionalism and Diversity“ FN 1.

[15] Vgl. FN 5, S. 121.

[16] Balibar, Etienne. „Gibt Es Einen ‚Neuen Rassismus‘“. In: Rasse, Klasse, Nation. Balibar, Etienne und Immanuel Wallerstein (Hgs.). Hamburg: Argument Verlag, 1990. 23-38.

[17] Zu einem ‚Romantischen Multikulturalismus‘ siehe Essays von Feridun Zaimoglu  http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18399

[18] Siehe Dietze, Gabriele. „‘Okzidentalismuskritik‘. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung“. In: Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Gabriele Dietze, Claudia Brunner und Edith Wenzel (Hgs.). Bielefeld: transcript 2011, 23-55, S. 35.

[19] Für die Niederlande siehe zum Beispiel Bracke, Sarah. 2011. “Subjects of debate: secular and sexual exceptionalism, and Muslim women in the Netherlands”.  In: Feminist Review 98 (1):28-46.

[20] Für die Entwicklung eines psychoanalytisch argumentierten Zusammenhangs zwischen deutschem Stolz auf die D-Mark als Erfolgsgeschichte und der ‚Bewältigung‘ des Holocaust siehe Tognato, Carlo. Central Bank independence. cultural codes and symbolic performance. New York: Palgrave MacMillan, 2011.