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06 2016

Die Verwandlung einer trauernden Jugend in eine kämpfende Jugend

Interview mit Jacques Rancière geführt von Joseph Confavreux

Jacques Rancière / Joseph Confavreux

Übersetzt aus dem Französischen von Antoine Chessex, Michael Grieder und Adrian Hanselmann

Wie sehen Sie den Moment und die Bewegung der „Nuit debout“[1]?

Halten wir zunächst fest, dass mein Gesichtspunkt sehr eingeschränkt ist: Es ist der eines Beobachters von aussen, der einfach auf das reagiert, was die Themen und die Formen dieser Bewegung bei ihm auslösen. Auf den ersten Blick lässt sich in dieser Bewegung eine Art französische Miniaturversion der «Platz-Bewegungen» erkennen, die in Madrid, New York, Athen und Istanbul stattgefunden haben. Sie wird auf dem Platz, den sie besetzt, umso mehr toleriert, als sie ihn nicht völlig einnimmt. Aber sie teilt mit diesen Besetzungen die Sorge, der Politik wieder ihren Aspekt einer tatsächlichen materiellen Subversion von gegebenen Raum- und Zeitordnungen zurückzugeben. Diese Praxis hat sich schwer getan, in einem Frankreich anzukommen, wo heute die Gesamtheit „der Politik“ auf das Ringen um die Präsidentschaft der Republik reduziert wird. Der „Nuit debout“ fällt es schwer, an sich selbst zu glauben, sie gleicht mitunter einer „Halb-Besetzung“. Aber sie ist sehr wohl Teil dieser Bewegungen, die die Form der Demonstration in die Form der Besetzung verwandelt haben. Im vorliegenden Fall hat dies bedeutet, vom Kampf gegen bestimmte Bestimmungen des Arbeitsgesetzes in eine direkte Opposition gegen das überzugehen, was manche „die Uberisierung“[2] der Arbeitswelt nennen, einen Widerstand angesichts dieses Trends, der jegliche kollektive Kontrolle über die Formen des kollektiven Lebens auslöschen möchte.

Über die spezifischen Vorgaben des El-Khomry-Gesetzes hinaus, steht tatsächlich genau das auf dem Spiel. Dieses „Arbeitsgesetz“ ist als Höhepunkt eines ganzen Prozesses der Privatisierung des öffentlichen Raumes, der Politik, des Lebens aufgetaucht … Ist der Arbeitsvertrag etwas, das für jedes Individuum einzeln ausgehandelt wird, was eine Rückkehr in die Situation des 19. Jahrhunderts vor dem Auftauchen des modernen Arbeiter*innenkampfs bedeutet, oder verteidigen wir vielmehr eine Gesellschaft, die auf kollektiver Kontrolle von und Diskussion über Leben und Arbeit basiert?

Die «Nuit debout» ist in diesem Zusammenhang wie eine auf französischen Maßstab reduzierte Variante von etwas Singulärem aufgetaucht, das man ein Begehren nach Gemeinschaft nennen könnte. Wir haben eine Zeit erlebt, in der man sich in mächtigen kollektiven Strukturen befand, in denen – sei es nun in der Universität oder im Betrieb – Schlachten ausgetragen wurden. Der Kampf stellte also an ein- und demselben Ort zwei Arten der Gemeinschaftsbildung gegenüber. Doch wir stehen am Ende einer großen Offensive, die manche neoliberal nennen und ich eher die Offensive des absoluten Kapitalismus nennen würde, die zur uneingeschränkten Privatisierung aller sozialen Verhältnisse tendiert und zur Zerstörung aller kollektiven Räume, in denen zwei Welten aufeinandertrafen.

Gegen diese Privatisierung und diese Individualisierung hat man ein eher abstraktes Begehren nach Gemeinschaft entstehen sehen können, das bei „Occupy Wall Street“ sehr stark zu spüren war und das, um sich zu materialisieren, die Straße als letzten noch vorhandenen Ort gefunden hat. Früher hatte die Besetzung ihren bevorzugten Ort in der Fabrik, wo das Gemeinwesen der Arbeiter*innen seine Macht über den Ort und den Prozess behauptete, die es der Macht des Arbeitgebers unterwarfen, und diesen privaten Ort so zu einem öffentlichen Raum machte. Nun findet die Besetzung auf den Straßen statt, auf den Plätzen sowie in den letzten öffentlichen Räumen, in denen man gemeinsam sein kann, in denen man gemeinsam diskutieren und handeln kann.

In der Nuit debout werden oft die französische Revolution, die Pariser Kommune oder der Mai 68 herbeizitiert. Was halten Sie von dieser Mobilisierung der revolutionären Geschichte, die manche als eher parodistisch denn real beurteilen?

Die „Freunde der Kommune“[3] haben tatsächlich ihren Stand auf der Place de la République. Verortet man sich jedoch in der Kontinuität einer großen historischen Tradition? Man muss sehen, dass die Offensive des absoluten Kapitalismus von einer intensiven intellektuellen Konterrevolution begleitet war, von einer revisionistischen Offensive gegenüber allen Formen linker Tradition, seien diese nun revolutionär, kommunistisch, antikolonialistisch oder widerständig. Diese intellektuelle Konterrevolution hat sich dafür eingesetzt, alle Elemente dieser Tradition zunichtezumachen, ja sogar zu kriminalisieren. Die Revolution von 1917 wurde auf die Lager Stalins, die französische Revolution auf den Terror, der Antikolonialismus auf das zwecklose «Schluchzen des weißen Mannes»[4] und die Résistance schließlich auf die exzessiven Säuberungen reduziert. Es kam zur nahezu völligen Auslöschung einer ganzen Vergangenheit, unternommen von Leuten, die darüber hinaus unablässig die verloren gegangene „Weitergabe“ beweinen.

Der Wille, wieder an die Vergangenheit anzuknüpfen, ist also wichtig, auch wenn das formal und symbolisch scheinen mag. Angesichts der Gefahr einer Verwässerung der Politik in einer Art New-Age-Brüderlichkeit kann das In-Erinnerung-Rufen einer Geschichte der Kämpfe und Widersprüche in einer Bewegung wie Nuit debout, die sich nicht mehr wie noch der Mai 68 auf die sichere Grundlage eines marxistischen Glaubens an den Klassenkampf und Arbeitskonflikte stützt, auch die Rolle eines Gegengewichts spielen.

Wie verstehen Sie die von Nuit debout getragenen, sehr horizontalistischen Ansprüche ohne Repräsentant*innen und Wortführer*innen?

Sie müssen im Kontext eines stetig wachsenden Horrors verortet werden, den die offiziellen Politik einflössen kann. Beim den Platzbesetzungen des 15M in Madrid richtete sich die lautstarke Losung „Ihr repräsentiert uns nicht!“ gegen diejenigen, die damals eine Kampagne führten. Aber es hat auch mit einer Diskreditierung der politischen Avantgarden zu tun, die 1968 noch sehr stark waren. Die gegenwärtigen Versammlungen reagieren zudem auf die bekannten Versammlungsformen im Mai 68 und danach, die von Splittergruppen manipuliert wurden. Man muss diese Erinnerung daher als das verstehen, was Gleichheit auch in ihren materiellsten Formen sein kann. Darüber hinaus wirft aber die Ideologie des Konsenses Fragen auf, mit der Vorstellung, dass sich die ganze Welt einig sein muss, und mit einer Fetischisierung der Versammlungsform, die einfach der Ort sei, an dem jede*r sprechen können sollte.

Das ist ein Anliegen, das übrigens von vielen in der Bewegung aktiven Leuten geteilt wird: Eine populäre Versammlung sollte nicht nur eine Versammlung sein, wo jede*r hinkommt, um ihrerseits über ihr Problem und ihre Revolte zu sprechen und für die militante Sache einzutreten, die ihr besonders am Herzen liegt. Nuit Debout versammelt wie alle derartigen Besetzungen einerseits Individuen, die das Gemeinsame neu erschaffen wollen, aber auch diese Multitude partieller und spezialisierter Militantismen, die in eben diesem Kontext einer Privatisierung des öffentlichen Lebens und einer Verwerfung der «Avantgarden» entstanden sind. Es ist wichtig, für das Recht einer jeden Stimme einzutreten, aber eine Versammlung muss auch entscheidungsfähig sein. Sie kann nicht einfach nur proklamieren: „Wir sind alle gleich“.

Eine Versammlung muss sich also durch Entscheidungen und Kämpfe manifestieren, und nicht nur durch eine formale Darstellung der Gleichheit. Ihre räumliche Materialisierung ist sicherlich wichtig: 1848 hatte es etwa den Vorschlag zu einer Versammlung gegeben, in der die Repräsentant*innen alle unten stehen sollten und über ihnen, zu ihrer Überwachung, tausende Leute aus dem Volk. Der im eigentlichen Sinn materielle Aspekt der Politik der Gleichheit ist also wichtig. Aber das Handeln der Freiheit und Gleichheit kann nicht einfach die Form einer Versammlung annehmen, in der jede*r ihre Redefreiheit hat. Die Gleichheit ist ein Prozess der Verifikation, ein Prozess der Erfindung und nicht nur eine Fotografie der Gemeinschaft. Das Problem besteht weiterhin darin, Handlungen und Losungen zu erfinden, damit sich die Gleichheit in Bewegung setzt.

Eine egalitäre Versammlung ist demnach keine konsensuelle Versammlung, auch wenn der Begriff des Konsenses bei allen Bewegungen, die Plätze besetzen, im Zentrum steht. Ich erinnere mich an den Schock, den ich empfand, als ich einmal von Studierenden in Amsterdam in einer besetzten Universität eingeladen wurde, vor einem großen Transparent zu reden, auf dem zu lesen war: „Consensus. No leaders“. Der Kampf gegen die Hierarchien ist eine Sache, die Ideologie des Konsenses eine andere. Den Führungsfiguren und Hierarchien widersprechen ist sicherlich wichtig, aber das heißt nicht, dass sich alle Welt einig ist und dass man nur noch etwas tut, wenn alle einverstanden sind.

Das setzt eine Neudefinition dessen voraus, was unter Demokratie verstanden wird, während man bei der «Episode Finkielkraut»[5] gesehen hat, dass Uneinigkeit darüber herrschte, womit dieser Begriff zu füllen wäre: mit Konsens oder Konflikt?

Die Episode Finkielkraut hat Nuit debout nur in den Milieus disqualifiziert, in denen sie ohnehin von Anfang an disqualifiziert war. Was wäre passiert, wenn Finkielkraut wieder gegangen wäre, ohne dass ihn jemand beachtet hätte? Die Joffrins, Onfrays und Konsorten, hätten, anstatt es als „Totalitarismus“ zu bezeichnen, gehöhnt: „Schaut euch diese furchtbaren Revolutionäre an! Sie haben es nicht einmal gewagt, Finkielkraut anzusprechen!“ Das alles ist nicht wirklich wichtig. Das Problem liegt anderswo.

Demokratie bedeutet, dass inmitten der demokratischen Bevölkerung Positionen kollidieren. Sie ist nicht einfach die Abfolge am Mikrophon von einer Person, die über Marxismus spricht und einer zweiten, die Tierrechte zur Sprache bringt, und einer dritten, die an die Situation der Migrant*innen erinnert. Es muss mehrere Arten von Versammlungen geben: Solche, in denen jede*r sagen kann, was sie will, weil dabei immer auch etwas auftauchen kann, das man nicht erwartet. Aber vor allem braucht es auch Versammlungen, in denen es um die Frage geht: „Was machen wir da und was wollen wir?“ Das Problem der Demokratie besteht darin, es zu erreichen, den Willen einer Bevölkerung zu konstituieren. Mit welchen Losungen entscheidet man sich, zum Souverän zu werden und ein demokratisches Kollektiv erschaffen zu können?

Aktuell hat man das Gefühl, in einer Art Subjektivierungsraum zu sein, aber ohne dass sich wirklich eine kollektive Subjektivierung einstellt. Das ließe zweifellos vermuten, dass andernorts starke soziale Bewegungen existieren, und vor allem dass die Jungen, die wie am Rand der nationalen Gemeinschaft leben, dass auch sie Kollektive bilden, um zu sagen, was sie wollen. In den 1980er Jahren gab es diesen Marsch für die Gleichheit, an dem migrantische Jugendliche teilgenommen haben und der dann, wie alle verausgabten Energien vom „sozialistischen“ Lügenmärchen vereinnahmt, manipuliert und völlig aufgerieben wurde. Heute ist es sehr schwierig, die Gleichheit wieder in Bewegung zu versetzen. Ich habe auch nicht mehr Vorstellungsvermögen als jede*r andere, aber ich denke, dass sich das Problem da stellt. Man hängt oft der Idee nach, dass der Widerstand mit der Unterdrückung zunimmt. Aber die uns regierenden Unterdrückungsformen führen nicht zu Widerstand, sondern zu Entmutigung, zu einer Abscheu gegenüber sich selbst und zum Gefühl, unfähig zu sein, auch nur irgendetwas zu tun. Man kann also schon sagen, dass die Nuit debout abgekapselt von der Umwelt stattfindet und sich in Illusionen wiegt, aber den Weg aus der Mutlosigkeit zu finden, ist immer noch  grundlegend.

Was halten Sie davon, eine Verfassung zu schreiben und eine konstituierende Versammlung vorzubereiten?

Das Desinteresse einer angeblichen revolutionären Radikalität für die Formen des öffentlichen institutionellen Lebens hat die Energien sicher abflauen lassen. Es muss daher immer wieder betont werden, bis zu welchem Punkt unsere gegenwärtige Lage ein Ergebnis der desaströsen Verfassung der fünften Republik ist, der Starre des ganzen politischen Lebens und der Korrumpierung des Denkens, das sie langfristig herbeigeführt hat. Was es also braucht, ist eine Bewegung gegen die fünfte Republik, gegen die Präsidentschaft. Und genauso müssen einige provokante Wahrheiten über die Demokratie in Erinnerung gerufen werden, wie etwa das Losverfahren  und was das impliziert: die Entprofessionalisierung des politischen Lebens.

Der Ruf nach einer verfassungsgebenden Versammlung wird jedoch einerseits oft von etwas platten „bürgerlichen“ und etwas hölzernen „republikanischen“ Ideologien begleitet. Aber vor allem darf man sich nicht einbilden, dass sich die gegenwärtige oligarchische Verderbtheit einfach durch das Schreiben einer guten Verfassung abstreifen ließe. Eine Verfassung aufzusetzen ist dann folgenreich, wenn sie von Leuten geschrieben wird, die nicht darum gebeten werden, die nicht dazu „befugt“ sind. Aber es ist auch dann folgenreich, wenn dies in einem kämpferischen Prozess stattfindet, in dem die Worte nicht Patentrezepte für ein zukünftiges Glück sind, sondern Waffen in der Gegenwart. Es wäre beispielsweise gut, wenn sich diese „von Bürger*innen geschriebenen“ Verfassungen in wirkliche Kampfprozesse gegen die existierende konstitutionelle Ordnung einschreiben, wenn sie zum Beispiel dazu dienen, die berühmten „großen demokratischen Vorwahlen“ durcheinander zu bringen. Die Leute im Amt würden ihre Absage an die Demokratie hinausposaunen, aber diese könnte zu einer möglicherweise nützlichen Diskussion über die eigentliche Bedeutung des Wortes Demokratie führen.

Dem Problem liegt zugrunde, dass man sich Formen des politischen Lebens vorstellen muss, die zugleich ganz und gar heterogen sind im Verhältnis zu diesem ganz und gar von einer sich auf unbestimmte Zeit reproduzierenden Klasse Professioneller in Beschlag genommenen offiziellen politischen Leben – eine Situation, die in Frankreich ein Niveau erreicht hat, das in Westeuropa ihresgleichen sucht – und trotzdem in der Lage sind, diesem ihren eigenen Formen und Agenden entsprechend entgegenzutreten.

Was tun mit dem Vorwurf einer soziologischen Homogenität, der an Nuit debout gerichtet wurde?

Zu Beginn war der Mai 68 die Bewegung einer kleinen Gruppe „kleinbürgerlicher“ Studierender. Er hat die Dynamik des Generalstreiks herbeigeführt, die ihn selbst ebenso verändert hat wie die vielzähligen Kampfformen, die auf der Sorbonne zusammenliefen und hier und da ausbrachen. Man muss sich die Vorbildrolle in Erinnerung rufen, die der Streik bei der Besetzung der Sorbonne selbst innehatte, mit der Besetzung und Beschlagnahmung, die damals seit mehreren Wochen in der Fabrik von Sud-Aviation in Nantes stattgefunden hatte. Die Nuit debout folgt auf das symbolische Urteil, das die Arbeiter*innen von Goodyear für die gleichen Taten zu unbedingten Gefängnisstrafen verurteilt. Sie entfaltet sich in diesem Kontext von Unternehmensverlagerungen, Fabriksschließungen, Arbeiter*innenniederlagen und Bestrafungen von Widerstandsformen. Sie kann nicht von der sozialen Dynamik profitieren, die der Mai 68 erlebt hat. Selbstverständlich bräuchte es überall Bewegungen wie Nuit debout oder ganz anderer Art, insbesondere in den Quartiers, die 2005 revoltiert haben.

Man kann den Leuten auf der Place de la République immer vorwerfen, dass sie Gymnasiast*innen, junge Prekäre oder Individuen sind, die nur sich selbst repräsentieren. Aber man muss den allgemeinen Zustand dessen berücksichtigen, was hier Politik genannt wird. In einem Frankreich, das durch die besagte neoliberale Offensive, die sozialistische Täuschung und eine intensive intellektuelle Kampagne gegen die gesamte soziale aktivistische Tradition seine Form verloren hat, kann man sich nicht mit einem Verweis darauf zufrieden geben, dass Nuit debout soziologisch nicht allzu viel hergibt.

Damit diese Bewegung weiter gehen kann, müsste sie Losungen erfinden können, die sie über sich selbst hinausschießen ließen. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, sich der Vorwahlkonjunktur zu bemächtigen, nicht um eine „Vorwahl der wahren Linken“ zu schaffen, sondern eine sehr starke Mobilisierung gegen das Präsidentschaftssystem. Es wäre vorstellbar, dass sich eine derartige Bewegung nicht nur in Erklärungen erschöpfen würde, dass wir nie wieder sozialistisch wählen werden, sondern in etwas wie in einer Bewegung für die Nicht-Präsidentschaft oder für die Abschaffung der Präsidentschaft der Republik.

Können es die Nuits debouts ermöglichen, den Bleimantel der Zeit nach den Anschlägen abzulegen, der durch eine Place de la République symbolisiert wird, auf der wieder Wort und Kampf Einzug halten, während sie zum Mausoleum geworden war?

Man darf von dieser Bewegung nicht zu viel verlangen. Aber es ist richtig, dass eines ihrer bedeutenden Elemente in der Verwandlung einer trauernden Jugend in eine kämpfende Jugend besteht, auch wenn diese Verwandlung nicht leicht ist. Wenn man auf die Place de la République geht, sieht man, dass im Umfeld der Statue nach und nach Symbole des kollektiven Kampfes die Ausdrücke der Trauer überlagern. Das ist schwierig, aufzubauen, aufgrund der intellektuellen Konterrevolution, die es geschafft hat, die Jugend von einer ganzen Tradition sozialer Kämpfe und einem politischen Horizont zu abzuschneiden. Das Merkmal aller Platz-Bewegungen war die Schwierigkeit, sich als Träger*innen von Kräften der Zukunft zu identifizieren und kollektive Subjektivierungen, zu bearbeitende und zu verändernde Identitäten gegen die auferlegten Identitäten zu befördern, wie es etwa die Arbeit*innen-  oder Frauenkollektive konnten.

Das stimmt umso mehr in Frankreich, aufgrund des ideologischen Bleimantels, den diese intellektuelle Konterrevolution geschaffen hat. In Griechenland gibt es starke autonome Bewegungen, die Räume des Lebens, des Wissens und der Sorge eröffnet haben. In Spanien tat sich um den Kampf gegen die Wohnungsräumungen ein Kollektiv zusammen, das heute das Rathaus in Barcelona besetzt. Dermaßen weitreichende Bewegungen und Organisationsformen gibt es in Frankreich nicht. Die Bewegung Nuit debout ist ein Waisenkind der  Basiskämpfe, die andernorts mobilisiert werden konnten.

Auch wenn das Gefühl bleibt, dass mit der Nuit debout etwas passiert, das ein Vermögen zur Erfindung manifestiert, das einige Arten des Denkens der radikalen Linken erneuert?

Niemand weiß genau, was in den Köpfen der Personen vorgeht, die auf der Place de la République zusammenkommen. Es finden sich dort eine Menge vielschichtiger Dinge. Aber es ist stimmt, dass sich dort eine demokratische Forderung ausmachen lässt, die sich der alten Leier der „formalen Demokratie“ als bloßem Schein widersetzt, der die Herrschaft der bürgerlichen Ökonomie verdeckt. Die Forderung nach einer „realen und unmittelbaren“ Demokratie hat das Verdienst, mit dieser Denunziationslogik aufzuräumen, die vorgibt, radikal zu sein, aber tatsächlich eine Art Quietismus produziert und letztlich reaktionär ist nach der Art: Auf jeden Fall ist das Kapital die Ursache von allem. Und diese Leute, die sich im Namen der Demokratie aufregen, verschleiern lediglich seine Herrschaft und verstärken seine Ideologie. Aber offensichtlich geht der Gewinn verloren, wenn die Demokratie auf die Form der Versammlung reduziert wird. Die Demokratie ist eine Sache der Vorstellungskraft.

Sind Sie offen für das Zirkulieren der Rede, des Geschriebenen, der Berichte in den Nuits debout?

Es zirkulieren tatsächlich viele Worte, auch wenn sie nicht immer von unvergesslichem Reichtum sind. Leute kommen und sagen ihre Gedichte auf, aber es ist selten eine Poesie, die den Schock des Neuartigen auslöst. Gleichzeitig sieht man Leute, die niemals reden und die an diesem Ort zu sprechen wagen. Das ist bezeichnend, auch wenn, soweit sich das feststellen lässt, dieses Zirkulieren der Rede weniger gehaltvoll ist als das, was im Mai 68 wahrzunehmen war. Auf der einen Seite ermöglicht es die Versammlungsform mehr Leuten zu kommen und ihre Geschichte zu erzählen. Auf der anderen Seite gibt es einem das Gefühl, unterhalb des Aufblühens von Slogans und vielfältigen Bildern zu sein, die in vielen Demonstrationen jüngerer Zeit die einstigen einheitlichen Banner ersetzt haben. Noch grundlegender lautet die Frage, ob das Begehren nach gleicher Gemeinschaft nicht das Vermögen zu einer Erfindung in Gleichheit behindert.

Die Initiator*innen von Nuit debout wollen sich im Hinblick auf den Tag der Arbeit mit den Gewerkschaften zusammentun. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Das „Konvergieren der Kämpfe“ hat etwas von einer Version des großen Traums des Mai 68, der Verbindung von Studierenden und Arbeiter*innen. Das hat sich damals im Demonstrationszug der Studierenden in Richtung Billancourt manifestiert. Heute ist Billancourt geschliffen, und die Sorbonne ist ein Ort, an den man sich nur mit einer Karte hineinwagt. Zudem wird das Ganze  auf dem engen Raum diskutiert, der sich zwischen der Place de la République und dem Gewerkschaftshaus erstreckt,  um die Vorbereitung der 1. Mai-Paraden herum. Die Frage des Konvergierens der Kämpfe ist jedenfalls abhängig von der Beschaffenheit dieser Kämpfe.


Das Gespräch wurde am 30. April 2016 auf Französisch auf der Website von Médiapart erstmalig veröffentlicht.

 



[1] Sinngemäss: die Nacht der Stehenden/Aufrechten, nicht zuletzt an der Figur des «Duran Adam» (stehender Mann; frz: «l’homme debout») des Choreographen Erdem Gündüz orientiert, welcher diese lautlose Protestform im Juni 2013 auf dem Taksim-Platz in Istanbul etablierte, als eindrückliches Symbol gegen brutale Polizeigewalt in den vorhergehenden Tagen.

[2] Nach Uber, dem internationalen Vermittlungsdienst für Fahrdienstleistungen, der hier exemplarisch steht für die extreme biopolitische Inwertsetzung jeglicher Ressourcen und Potenzen.

[3] «Assosiation des Amies et Amis de la Commune de Paris 1871»

[4] «Le sanglot de l’homme blanc. Tiers-Monde, culpabilité, haine de soi»; polemischer Essay des Romanciers und Anhänger der «nouveaux philosophes» Pascal Bruckner von 1983.

[5] Alain Finkielkraut, konservativer Philosoph, wurde am 16. April 2016 bei einer Versammlung von Nuit debout Teil einer Auseinandersetzung, bei welcher er laut eigenen Aussagen bespuckt und ihm nahegelegt wurde, «die Fliege zu machen». Dies wurde als «Vertreibung» wahrgenommen und hatte breite Empörung zur Folge.