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08 2015

Europa peripheralisieren: Statement

Peripheralizing Europe organizing group

Die Peripherien erfahren nach wie vor die brutalsten Effekte der Krise in Europa. Die Ränder Europas brennen, nicht nur weil sie in höchster Geschwindigkeit deklassiert werden (PIIGS) oder normalisierte Armut herrscht (im Osten), sondern auch weil unzählige Menschen Minenfelder und Meere überqueren, um hier über Mauern und Zäune zu klettern - auf der Flucht vor Situationen, die oft Effekte imperialer und neo-kolonialer westlicher Politik sind.

 "Peripherialisierung" nennen wir den Prozess, der durch die Unterwerfung unter ein Zentrum Ränder produziert. Peripherialisierung bedeutet, dass Orte und Regionen zu reproduktiven Räumen eines Zentrums werden. In unseren Ländern hat das in den letzten 40 Jahren bedeutet, dass der Sozialstaat zerstört wurde, extrem ausbeutbare migrantischer Arbeitskräfte geschaffen wurden, das Vermögen der Peripherie, sich der neoliberalen Integration zu entziehen, zerstört wurde und schließlich versucht wurde, unsere Länder durch Dumping von Löhnen, Steuern und sozialen Rechten "konkurrenzfähig" zu machen.

 Unser Aufruf zu einer Peripherialisierung Europas zielt auf die Möglichkeiten ab, von der Peripherie in ihrer reproduktiven Kraft und ihrem Wissen ausgehend die bestehenden Machtverhältnisse zu untergraben. Europa peripherialisieren heisst den Blickpunkt der "Entwicklung" abzulehnen, demzufolge das Zentrum die Zukunft der Peripherie ist. Das bedeutet, zu erkennen, dass die Peripherie de facto zentral ist, und es bedeutet, soziale Kämpfe und Widerständigkeit ausgehend vom Wissen, von den Praxen und den Netzwerken der Ränder zu stärken. Es bedeutet auch, zu erkennen, dass das Zentrum ebenso seine internen Peripherien hat, dass ganze Regionen und soziale Gruppen dort derselben Logik der Marginalisierung und Ausbeutung unterworfen sind und dass wir ihnen ebenso zur Seite stehen müssen.

 Von 30.Juli bis 2.August 2015 haben sich AktivistInnen, ForscherInnen und KulturarbeiterInnen der ost- und südeuropäischen Peripherien in Žeimiai, Litauen getroffen, um gegenwärtige politische Situationen und Organisationspraxen der Euro-Peripherien zu besprechen. Rund 40 Personen aus 20 Ländern haben teilgenommen. Dieses Treffen wurde von Murmurae (transdisziplinäre Platform, Spanien), Egzilis (anarchistisches Kollektiv, Litauen) und LeftEast (überregionale Onlineplattform im postsozialistischen Raum) organisiert und brachte Leute verschiedener politischer Kontexte sowie verschiedener Altersstufen zusammen.

Wir haben die jeweiligen Kontexte, Horizonte und Strategien unserer Gruppen und Organisationen kartografiert und ihre Beziehung zu lebendigen sozialen Bewegungen diskutiert. Wir haben uns durch Unterschiede und Gemeinsamkeiten der südlichen und östlichen Peripherien durchgearbeitet, um eine gemeinsame Analyse, einen gemeinsamen konzeptuellen Rahmen und Horizont für die Kämpfe zu schaffen. Unsere Ausgangspunkte dafür waren gegenseitige Anerkennung und Unterstützung. Die Transversalität und Vielfältigkeit unseres Treffens hat einen offenen Raum zum Zuhören, Großzügigkeit und kritische Solidarität geschaffen. Dadurch haben sich neue Beziehungen, Handlungsfelder und mikropolitische Analysen aufgetan.

Einige Aufgaben und Prozesse haben sich als besonders wichtig herausgestellt. Ausgehend von den östlichen und südlichen Peripherien, müssen wir weiterhin

- Wissen zwischen den post-sozialistischen und mediterranen Ländern übersetzen
- Begegnungen ermöglichen, die von den Perspektiven der Peripherien ausgehen
- unsere Beziehungen zur Europäischen Union hiervon ausgehend überdenken
- unsere regionalen Netzwerke stärken, besonders im Osten

Die Vergangenheit der Baltikum- und Balkanstaaten wird nun zur Gegenwart der PIIGS. Der Schmerz des Austeritätszeitalters hat einiges gemeinsam mit den Erfahrungen der "Transition" im Europäischen Osten. Die Geschichte wiederholt sich nicht einfach, aber gewisse gewaltförmige Transformationsstrategien werden heute wiederangewandt. Die Schulden- und Sparpolitik sowie die Strukturanpassung, die den postsozialistischem Kontext seit den 1990er Jahren (und sogar davor) auferlegt wurde, beinhaltet viele Lektionen, von denen die PIIGS heute lernen können. Diese Lektionen betreffen soziale Demobilisierung, Abwirtschaftung, Korruptionsförderung und Ausbeutung - und nicht, wie es die Medien und Mächtigen oft gerne hätten, vermeintlich effiziente Verwaltung, Sparsamkeit und sogenannten Fortschritt.

Wir erleben heute zwei besonders gewaltsame Prozesse der Transition in Griechenland und der Ukraine. Wir müssen diese Situationen direkt konfrontieren, ohne dass finanzielle Erpressung oder Militarisierung eine Klima der Angst herstellen können, und so das kritische Denken und die sozialen Kämpfe in Osteuropa und den PIIGS schwächen. Die Gewalt, die nötig ist, um ein Territorium in den neoliberalen Kapitalismus zu integrieren, dient oft zur Zerstörung des Vermögens dieses Territoriums, sich dieser Integration zu entziehen, wodurch diese Integration irreversibel wird. Was können wir in Anbetracht der süd- und osteuropäischen Erfahrungen über diese Dynamik lernen?

Einige Fragen sind aufgetaucht. Können wir die jugoslawischen Kriege der 1990er Jahre mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine vergleichen, weil beide genau am Schwellenmoment hin zur Europäischen Integration auftraten? Welche Parallelen gibt es zwischen der Art und Weise, in der die linke Syriza-Regierung in Griechenland in die Unterwürfigkeit und Abhängigkeit gezwungen wurde, und in der Art und Weise, in der mögliche Zukunftswege in Osteuropa durch den Abbau mutualistischerFormen, öffentlichen Eigentums und sozialer Organisation zerstört wurden, all das trotz hoher gesellschaftlicher Legitimität?

In Anbetracht der gegenwärtigen Entwicklungen haben wir festgestellt, dass die Europäische Union nicht die Vorbotin von Demokratie, Frieden und Menschenrechten und auch nicht das Fortschrittsmodell ist, als das sie den post-autoritären Ländern des Ostens und Südens verkauft wurde. Die heutige Krise hat auch sichtbar gemacht, wie gefährlich es sein kann, die EU zum einzigen Horizont unserer politischen Vorstellungen zu machen. Dadurch ergibt sich eine neue Herausforderung, uns in Richtung neuer Allianzen und neuer Solidarität innerhalb der EU, gegen sie und jenseits ihrer Grenzen zu orientieren, sowie auch in Richtung neuer Institutionen und Rechtsbegriffe.

Die Politik der Angstmache und die herabwürdigende finanzielle Technokratie, die mit Strukturanpassung und Militarisierung einhergehen, zeigen verschiedene Gesichter und Effekte in den zwei Peripherien des Europas der Eurozone. Dadurch beschuldigen wir einander oft - vor allem in den Mainstream-Medien - verschiedener Formen der Faulheit, administrativen Unfähigkeit oder Korruption, anstatt unsere geteilten Umstände zu erkennen. Das wirkt sich auf unsere Reaktionen gegenüber der Austeritätspolitik aus: Stolz in den osteuropäischen Ländern, die beschwerdelos "den Gürtel enger geschnallt haben" oder das Ausbleiben der Solidarität mit den PIIGS, weil auch in früheren Krisenzyklen die Solidarität mit dem Osten ausgeblieben war.

In Anbetracht der Notwendigkeit, einen gemeinsamen begrifflichen Rahmen und eine gemeinsame Sprache zu finden, die es uns erlaubt, geteilte Bedingungen und Effekte zu durchdenken, haben wir Klischees und Wissenslücken im Osten und Süden analysiert. Wir haben unterschiedliche geschichtliche Hintergründe und deren Begrifflichkeiten diskutiert, und lokale und translokale Kämpfe aufgelistet, sowie die damit verbundenen Herausforderungen besprochen. Dabei haben wir uns auf geo-, makro- sowie auch mikropolitische Ebenen bezogen, um globale sowie regionale gesellschaftliche und kollektive Prozesse im Blick zu haben. Wir haben über die Bewegungen und Organisationen gesprochen, die in unseren Ländern seit Beginn der Krise entstanden sind, und deren Taktiken und Strategien sowie auch anstehende Herausforderungen diskutiert. Schließlich haben wir einen gemeinsamen Kalender der nächsten Mobilisierungen gemacht und gemeinsam darüber nachgedacht, wie wir uns in der Hitze des kommenden Herbsts unterstützen können.

Es hat sich ein Zeitfenster aufgetan, in dem wir miteinander reden können und dabei vergangene Spaltungen hinter uns lassen. Im Angesicht der andauernden wirtschaftlichen Krise und Militarisierung ist dieser Dialog für einen gemeinsamen Handlungshorizont dringend nötig.


Dieses Statement wurde von den OrganisatorInnen sowie einigen TeilnehmerInnen des Peripheralising Europe Treffens Anfang August 2015 zusammengestellt.
http://peripheralizingeurope.wordpress.com/

@PeriEurope