04 2015
Fähren statt Frontex!
Ein 10 Punkte-Plan, um das Sterben im Mittelmeer wirklich zu beenden
Am 20.April veröffentlichten die EU-Innen- und Außenminister_innen einen
10-Punkte-Plan, um auf das aktuelle Sterben von Migrant_innen im
Mittelmeer zu reagieren. Viele weitere Vorschläge wurden in den letzten
Tagen gemacht. Als Aktivist_innen beteiligen wir uns seit
vielen Jahren an den Kämpfen gegen das Europäische Grenzregime. Durch
Watch the Med und das Alarm Phone-Projekt stehen wir alltäglich mit
hunderten Menschen in Kontakt, die das Mittelmeer überquert haben.
Angesichts der Scheinheiligkeit der bislang vorgeschlagenen 'Lösungen',
sehen wir uns in der Pflicht, einige Irrtümer aufzuklären und zu
versuchen, einen alternativen Raum zur Reflektion und zum Handeln zu
öffnen.
1. Wir sind schockiert und wütend angesichts der jüngsten Tragödien im
Mittelmeer, die alleine in der letzten Woche mindestens 1.200
Menschenleben gekostet haben. Wir sind schockiert, aber nicht überrascht
über die beispiellose Zahl an Toten innerhalb weniger Tage. Wir sind
wütend, weil wir wissen, dass noch viel mehr Menschen in diesem Jahr im
Mittelmeer sterben werden, wenn es nicht zu einem grundlegenden Wandel
kommt.
2. Wir sind auch wütend, weil wir wissen, dass das, was uns nun als
'Lösung' für diese unerträgliche Situation präsentiert wird, nur mehr
vom Gleichen bringen wird: Gewalt und Tod. Die EU hat angekündigt, die
Triton-Mission von Frontex zu verstärken. Frontex ist eine Behörde zur
Abwehr von Migration und Triton wurde mit dem klaren Ziel geschaffen,
Grenzen zu sichern, nicht Leben zu retten.
3. Aber selbst wenn ihre Hauptaufgabe wäre, Leben zu retten, wie dies im
Fall der humanitären Militäroperation Mare Nostrum im Jahr 2014 der
Fall war, würde dies das Sterben im Mittelmeer nicht beenden. Jene, die
nun ein europäisches Mare Nostrum fordern, sollten daran erinnert
werden, dass selbst während dieser bislang umfangreichsten
Rettungsaktion, die je im Mittelmeer stattgefunden hat, mehr als 3.400
Menschen im Meer umkamen. Ist diese Zahl für die europäische
Öffentlichkeit akzeptabel?
4. Andere Vorschläge beinhalteten etwa eine internationale
Militäroperation in Libyen, eine Seeblockade oder die stärkere
Verpflichtung für afrikanische Staaten, ihre eigenen Grenzen zu sichern.
Doch die Geschichte der letzten 20 Jahre im Mittelmeerraum zeigt, dass
jede Militarisierung der Migrationsrouten nur noch mehr Tote verursacht.
Jedes Mal, wenn eine Route nach Europa durch neue Überwachungstechniken
und verstärkten Grenzschutz blockiert wurde, führte dies nicht dazu,
dass Migrant_innen gezwungen waren, längere und gefährlichere Routen zu
wählen. Die jüngsten Tode im zentralen und östlichen Mittelmeer sind
Resultat der Militarisierung der Straße von Gibraltar, der Kanarischen
Inseln, der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei und der
Landgrenzen in der Sahara. Die 'Erfolge' von Frontex bedeuteten für
tausende Menschen den Tod.
5. Internationale Organisationen und Politiker_innen aller Lager
erklären nun, dass Schlepper_innen für die Toten im Mittelmeer
verantwortlich seien. Mehrere prominente Politiker_innen haben das
Schleusen von Migrant_innen mit dem transatlantischen Sklavenhandel
verglichen. Die Heuchelei scheint keine Grenzen zu kennen: Jene, die das
Regime der Sklaverei aufrecht erhalten, verdammen die Sklavenhändler!
Wir wissen sehr genau, dass die Schlepper_innen, die im Kontext des
libyschen Bürgerkriegs operieren, häufig skrupellose Kriminelle sind.
Doch wir wissen auch, dass das europäische Grenzregime der einzige Grund
ist, weshalb Migrant_innen sich ihnen ausliefern müssen. Die
Schlepper-Netzwerke wären längst Geschichte, wenn jene, die jetzt im
Meer ertrinken, Europa legal erreichen könnten. Das Visa-Regime, das
dies unmöglich macht, wurde erst vor 25 Jahren eingeführt.
6. Jenen, die jetzt einmal mehr die Einführung von Asylzentren in
Nordafrika fordern, sollten zwei Beispiele in Erinnerung gerufen werden,
um zu verstehen was solche Zentren tatsächlich bedeuten würden. Das
erste Beispiel ist das Camp Choucha in Tunesien, betrieben vom UNHCR,
welcher Menschen, die vor dem Konflikt in Libyen dorthin flohen, dort im
Stich gelassen hat. Sogar jene, deren Status als Schutzbedürftige
anerkannt wurde, wurden in der tunesischen Wüste zurückgelassen. Sie
hatten gar keine andere Wahl als zu versuchen, das Meer zu überqueren.
Das zweite Beispiel sind die ausgelagerten Internierungslager, die von
Australien auf abgelegenen 'Gefängnisinseln' geschaffen wurden und die
nun von vielen als Vorbild für Europa gepriesen werden. Sie zeigen, wie
abscheulich die Zwangsinternierung von Asylsuchenden sein kann. Solche
'Lösungen' dienen ausschließlich dazu, die Gewalt des europäischen
Grenzregimes vor den Augen der westlichen Öffentlichkeit zu verbergen.
7. Was ist angesichts dieser Situation zu tun? Genoss_innen und
Freund_innen, mit denen wir die Kämpfe der letzten Jahre gemeinsam
geführt haben, fordern Bewegungsfreiheit als einzige realistische
Antwort in dieser Situation. Auch wir machen uns diese Forderung zu
Eigen, denn es ist die einzige, die es geschafft hat, in einer
erstickenden Debatte einen Raum für politische Vorstellungskraft offen
zu halten. Doch zugleich denken wir, dass ein allgemeiner Aufruf für die
Bewegungsfreiheit in dieser Situation nicht genug ist. Für uns ist
Bewegungsfreiheit keine ferne Utopie, sondern eine Praxis, die von
Migrant_innen täglich, unter Einsatz ihrer Leben, umgesetzt wird und die
unsere politischen Kämpfe hier und jetzt leiten sollte.
8. Aus diesen Gründen fordern wir die Einsetzung einer humanitären
Fähreverbindung nach Libyen, so viele Menschen wie möglich evakuieren
soll. Diese Menschen sollten nach Europa gebracht werden und
bedingungslosen Schutz erhalten, ohne dass sie einen Asylprozess
durchlaufen müssen, der seinen ursprünglichen Zweck des Schutzes längst
verloren hat und de facto zu einem weiteren Instrument der Exklusion
geworden ist.
9. Ist die Idee einer solchen Fähre unrealistisch? 2011, am Höhepunkt
des libyschen Bürgerkriegs, retteten humanitäre Fähren tausende
gestrandete Menschen von Misrata bis Benghazi. Dabei wurden sie mit
Granaten und Gewehren beschossen und mussten Seeminen ausweichen. Dies
zeigt, dass es selbst in der gegenwärtig instabilen Lage in Libyen
möglich wäre, eine solche Aktion durchzuführen. Zudem wäre eine Fähre
weitaus billiger als eine mögliche massive Rettungsaktion auf hoher See
oder jede militärische Lösung.
10. Die Realität ist, dass jede andere der vorgeschlagenen Lösungen dazu
führen wird, dass weiterhin Menschen im Meer umkommen. Wir wissen, dass
keine Auslagerung von Asylzentren und Grenzkontrollen, keine Ausweitung
der Rettungsverpflichtung, keine Intensivierung der Überwachung und der
Militarisierung das Massensterben im Meer beenden wird. Alles, was wir
dafür kurzfristig brauchen, sind legale Einreisemöglichkeiten und
Fähren. Werden die EU und die internationalen Behörden bereit sein,
diesen Schritt zu gehen, oder wird die Zivilgesellschaft das für sie tun
müssen?
Das Alarm Phone
wtm-alarm-phone@antira.info
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