03 2015
Fläche statt Tiefe. Gegen das neue Lob der Vertikalität
Uns scheint, es gibt neuerdings eine seltsame Häufung von sehr unterschiedlichen Stimmen, die die Anrufung der Vertikalität betreiben. So zum Beispiel die Tendenz, (pseudo)horizontale postfordistische Produktionsweisen und ihre Inwertsetzung von Affekten, Kooperation und Kommunikation als ubiquitär zu beschreiben und damit gleich auch jede Form von horizontalem Austausch zu denunzieren. Und wenn noch im gleichen Atem der fehlende Tiefgang zeitgenössischen Denkens im Kulturbetrieb aufgeworfen wird, handelt es sich meist um einen alten Topos. Die wiederkehrende Klage über die Oberflächlichkeit der Welt, die uns zur Mittelmässigkeit tendieren lasse und die neue Formen der Gleichmacherei erzeuge, ist nichts als die fade Wiederholung einer kulturpessimistischen Figur, die in ihrem Beharrungsvermögen die alten Eliten affirmiert oder das Begehren nach neuen Eliten.
Gerade auf dem Terrain der postfordistischen Produktion ist die Inwertsetzung von Partizipation und das Sprechen über Beteiligung und Mitbestimmung tatsächlich vor allem ein strategisches Moment der Indienstnahme im Betriebsmanagement wie in der Stadtpolitik: Sprechen-Lassen, zur-Sprache-bringen, Sprechen-um-des-Sprechens-Willen. Diese Facette erscheint als karikierte Vereinnahmung der Autonomie als Fluchtlinie emanzipatorischer sozialer und politischer Bewegungen. Insofern haben Kooperationsanrufung und Bürger_innenbeteiligung als herrschaftssichernde Ressourcen wenig mit Versuchen konsensueller Entscheidungsprozesse und basisdemokratischer Selbstorganisierung gemein. Vor diesem Hintergrund geht es darum, die Ströme der sozialen Kooperation an den Oberflächen anders zu reterritorialisieren, anders als es die Zwänge zeitgenössischer Produktion vorgeben, aber auch anders als in „alten Zeiten“: nicht als Besetzung eines homogenen Raums, nicht als Tiefenbohrung oder Höhenflug in eine exklusive Sozialität, nicht als Wiedergewinnung der Souveränität in Form einer alten Gemeinschaft oder der Mehrheit innerhalb eines territorialen Staates, sondern als flache Neuzusammensetzung des Gemeinsamen. Fläche statt Tiefe. Mannigfaltigkeit statt erhabener Höhe.
Das Vertikale ist immer von oben nach unten gedacht, wie die Linie, die eine Schnur mit einem Senkblei verlängert. Was wäre dagegen, wenn es keine vertices, keine Spitzen, keine Gipfel gäbe, keine Höhen, keine Tiefen, wenn wir uns diesmal nicht die Erde, sondern unsere Sozialität als flach vorstellen würden, die Welt als eine Konsistenzebene von flachen Mannigfaltigkeiten? Wie wäre es, wenn wir diese Mannigfaltigkeiten gerade als auf den Oberflächen herumspukend imaginieren würden? Was wenn sich alles an der Oberfläche abspielen würde, nichts darunter? Wenn es keine Tiefe der Seele, keine Tiefe des Staates mehr gäbe?
Die Frage ist nicht, wie man „der Postmoderne“ die mangelnde Tiefe beibringt, wie man der alten bürgerlichen Öffentlichkeit ihre Höhe und Erhabenheit zurückgibt, wie man Vertikalität wiederherstellt in einer vermeintlichen Welt der Gleichmacherei und des Relativismus. Vielmehr stellt sich uns das Problem, wie vor dem Hintergrund der Funktionsweisen postfordistischer Produktion Horizontalität auf ihrem emanzipatorischen Gehalt insistieren oder wieder emanzipatorische Gestalt annehmen kann.
Doch auch in den Analysen der neuen linken Bewegungen in Europa häuft sich der Ruf nach der Vertikalität. Hier ist es eine doppelte Ungeduld, die die Rufenden treibt. Ungeduld mit den behäbigen Geschwindigkeiten horizontaler Verhandlung, zugleich Ungeduld mit den Suchbewegungen, die eine Verortung der Bewegung innerhalb und jenseits der traditionellen Politik bestreben - sei es in neuen Parteien, sei es in neuen institutionellen Organisationsformen, die über die Parteiform hinausgehen. Diese Ungeduld kann sich als molekular-revolutionäre Ungeduld des Antreibens neuer instituierender Praxen, neuer Formen des sich beharrlichen „Selbst-Einrichtens“ erweisen, sie kann sich aber auch in alte Formen der Institutionalisierung einschliessen. Wenn einzelne Diskurse aus der Bewegung im Beschleunigungsversprechen vertikaler Entscheidungsprozesse ein neues emanzipatorisches Potenzial vermuten und sich die Frage politischer repräsentativer Verantwortung als „historische Chance“ artikuliert, kann die Kraft des Sich-selbst-Einrichtens schwinden, und mit ihr die Weigerung, sich einrichten zu lassen.
Wenn es also einen weiteren Vektor, eine weitere Richtung braucht, die zur Horizontalität hinzutreten soll, dann nicht die Vertikalität, sondern die Transversalität, die Linie, die getrennte Vorstellungen von Basisdemokratie und Repräsentation durchquert. Manchmal ereignen sich Überschneidungen, Wechselwirkungen, gegenseitige Verstärkungen von instituierenden Praxen und Institutionen des Gemeinsamen. Die Instituierung des Gemeinsamen kann aber von beiden Polen ausgehend vorangetrieben werden – in konfliktueller Komplementarität, in der Schaffung einer Konsistenzebene von flachen Mannigfaltigkeiten, eher mit Sicht auf immanente Horizonte als in Erwartung der auf einen Mittelpunkt, eine Einheit, einen Autor ausgerichteten Vertikale.
Und wenn auch die Subjektivierungsweisen und die Formen der Zeitlichkeit mannigfaltig, einander überlappend, manchmal widersprüchlich sind: Es gibt keinen einfachen Ausweg aus der Horizontalität, die ein wichtiges Feld der Austragung der komplexen Asymmetrien von sozialen Bewegungen darstellt. Das ist also keine Frage von Ohnmacht und Macht, sondern von dauernd sich verändernden Machtverhältnissen. Es bedarf dauernder Diskussionen über die Asymmetrien dieser Machtverhältnisse und über die Gefahr ihrer Verdrängung und Verdeckung, auch und gerade durch Begriffe wie Horizontalität oder radikale Inklusion. Dennoch braucht es neben der molekular-revolutionären Ungeduld auch die Beschaulichkeit, die Langsamkeit, Formen des Aus-setzens in der horizontalen Praxis und eine tendenziell alle umfassenden Inklusion. Inwiefern die (neuen) linken Parteien schlicht der „Majestät Masse“ huldigen, sei es als altehrwürdiges „Proletariat“, als „Volk“ oder im Slogan der „99%“, und über populistische Konstruktionen versuchen, Mehrheit zu werden, oder ob es innerhalb der parlamentarischen europäischen Demokratien entgegenlaufende Logiken des Repräsentierens und Regierens gibt, wird sich erst noch zeigen.
Und selbst die neuen Parteien sind nicht immer Werkzeuge oder Agentinnen der Beschleunigung, sondern geradezu umgekehrt eher Bremse. Insofern ist Syriza als (Not-)Bremse zu verstehen, die versucht, mit einer neuen Regierung die Highspeed-Zermalmung aller staatlicher sozialer Institutionen und das allgemeine Ausweiden der kulturellen, sozialen und physischen Umwelt durch die in ihrem Höhenflug und Machtschwindel gefangene dreifaltige Spitze Europas zu bremsen. Syriza soll der Keil sein, der im richtigen Moment zwischen die Zahnräder der europäischen Finanzpolitik gesteckt wird. Es geht aber nicht primär um den Keil an sich, sondern um das Stoppen der Zahnräder. Darum, auch auf Regierungsebene anzusetzen und ein anderes Europa zu entwickeln, welches dem immer wieder neu erzeugten und verstärkten Nord-Südgefälle innerhalb Europas und der exzessiven Sparpolitik etwas entgegensetzt. Der Widerstand geht einher mit der Invention dieses neuen Europas, verstanden als ein emanzipatorisches Projekt.
Die Stärke der sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte zeigt sich gerade dort, wo es ihnen gelang, eine transnationale Dimension zu erreichen, ohne ihren eurozentristischen Charakter (gerade im deutschsprachigen Raum) zu bestreiten. Wie das viel kritisierte „Event-Hopping“ der Gipfelstürmer_innen, die No-Global-Proteste davor und danach gerade in Europa ohne aussereuropäische Funken wie den Aufstand in Chiapas oder der Aktivist_innen der indischen Bauernbewegung nicht zu denken waren, so die Platzbesetzungen der M15-Bewegungen und der Occupy-Bewegung nicht ohne die Aufstände im arabischen Raum. Ebenso stehen die aktuellen kurdischen Kämpfe auch für einen ausdrucksstarken Versuch, soziale Beziehungen zu transformieren, nationalstaatliche Grenzziehungen zu unterlaufen und andere Formen des Zusammenlebens zu erproben. Die Geschichte und Praxis der emanzipatorischen sozialen Bewegungen ist in dieser Betonung auch ein kleiner Versuch, Europa zu provinzialisieren und der linken Neuerfindung Europas andere und über Europa hinausgehende Bündnisse entgegenzusetzen.
Der (supra)nationale Rahmen birgt die Gefahr, dass die „soziale Frage“ sich über den politischen Weg zur nationalen transformiert. Im Fokus steht zu Recht die Fiskalpolitik der EU, identifiziert mit der Stärke Deutschlands, die Kritik richtet sich gegen die Finanzspitze, den Wahnsinn des aktuellen Schuldensystems. Gleichzeitig zeigt sich gerade da, dass die Frage, wie sich Produktion, Reproduktion und Distribution organisieren lassen, sich nicht (nur) über die Finanzmärkte regeln lässt. Im besten Fall von staatlicher Politik wohlwollend flankiert, oft eher mit ihr im Widerstreit, geht es darum, alltägliche Bedürfnisse und Begehren selbst zu organisieren, neue Formen des Zusammenlebens zu erfinden, der kontinuierlichen Arbeit Zeit zu lassen und instituierende Praxen des Gemeinsamen zu entwickeln, um zumindest ab und zu dem Kapitalverhältnis und den staatlichen Regierungsweisen zu entwischen. Solidarische Ökonomien, Quartiersversammlungen, Selbstorganisierungen der Reproduktionsarbeit über patriarchale Familien- und Geschlechterverhältnisse hinweg, aber auch Betriebs-, Fabrik- und Theaterbesetzungen.
Es geht aber offensichtlich nicht nur um den Widerstand, sondern auch darum, ein anderes Europa als das des Nord-Südgefälles und der exzessiven Sparpolitik zu erfinden. Obwohl eine Partei (wenn sie denn radikal genug ist) an einem solchen Projekt oder solchen Projekten mitarbeiten kann, können die Inhalte nicht „von oben“ kommen, vom Senkblei der Vertikalität nach unten getragen. Sie wachsen nicht spontan in den Köpfen von ein paar geschickten Parteistrateg_innen, die sie dann in einem schönen Punkteprogramm auflisten. Diese Inhalte, Begehren und Bedürfnisse und die Formen möglicher neuer Institutionen entstehen immer wieder in der transversalen, langwierigen und kontinuierlichen Arbeit, den langsamen Quartierversammlungen, der Mannigfaltigkeit sozialer Bewegungen.
Veröffentlicht in: Kamion Nr. 1: Aus den Kreisläufen des Rassismus