06 2015
Politische Schönheit in einer hässlichen Realität
Letzten Sonntag ereignete sich eine Beerdigung. Tausende Menschen versammelten sich Unter den Linden zum Marsch der Entschlossenen, den man zwar Demonstration bezeichnen könnte, der jedoch eine neue, eine andere Form politischen Protests hervorbrachte. Das Zentrum für Politische Schönheit rief zu dem Ereignis auf, um diejenigen zu bestatten, die auf der Flucht vor dem Krieg, im Überqueren des Mittelmeers, in der Hoffnung auf Zuflucht in Europa starben. Bestreben war es, einen Friedhof im Vorhof des Bundeskanzleramts zu errichten, im Antlitz derer, die für die Tode der Flüchtlinge verantwortlich sind, namentlich Angela Merkel und die deutsche Regierung. Wie vorhersehbar verbot das zuständige Bezirksamt diese Pläne vorab. Dennoch kamen die Protestiereden, um zu trauern, trugen Blumen und Kreuze mit sich, schritten zum Reichstag, wo sie die Absperrungen überrannten, die Wiese betraten und mehr als hundert symbolische Gräber aushoben, während die Polizei bemüht war, sie daran zu hindern.
Organisiert wurde der Marsch der Entschlossenen vom Zentrum für Politische Schönheit, eine Gruppe politischer Aktionskünstler_innen, die für Menschenrechte kämpfen. Ihre Aktionen haben bereits im März die Aufmerksamkeit der Massenmedien eingefangen: Anlässlich der Feierlichkeiten des 25. Jahrestages des Mauerfalls bewegten sie die Kreuze, die im Regierungsviertel im Gedenken an diejenigen stillstanden, die dabei ermordet wurden, als sie versuchten die Mauer zu überwinden und nach Westdeutschland zu gelangen. Die Mitglieder der aktionskünstlerischen Gruppe brachten die Kreuze in die heutigen Todeszonen: an die Außengrenzen Europas. In diesem Zug gelang es ihnen, den Mediendiskurs von den Toten der Vergangenheit zu den Toten der Gegenwart zu verlagern und die Kontinuität der Politiken tödlicher Abschottung offenzulegen. Ihrer Ansicht nach operiert die deutsche Regierung als Schaltstelle der EU in dem Unternehmen, die Grenzen abzuriegeln. Kunst als essentielle politische Kraft verstehend wirken ihre Interventionen skandalisierend und werden in den deutschen Medien dementsprechend hitzig debattiert, sie werden als sarkastisch und pietätslos erachtet oder gewinnen unverhohlenen Respekt. Sicherlich ist das Kollektiv in vielzähligen Aspekten kritisierbar, bezüglich ihrer sensationalistischen Strategien, hinsichtlich der wenig konkreten politischen Wirkungskraft oder in Hinblick darauf, dass sie aus einer weißen Mittelklasseposition heraus Repräsentationspolitik betreiben. Vor allem hat die lokale Refugee-Initiative vom Oranienplatz in Kreuzberg die öffentliche Beerdigung als unverschämt missbilligt. So schwerwiegend diese Kritiken sind, angesichts des jüngsten Ereignisses tritt zutage, dass die symbolischen Interventionen das Potenzial bergen, die diskursviven Dynamiken zu verschieben, die Pro-Kontra-Dialektik zwischen institutionalisierter Politik und Menschenrechtsaktivimus zu verändern, da sie die politische Realität in Frage stellen, indem sie politische Fiktionen formen.
Wer sind die Opfer, die beerdigt wurden oder beerdigt werden? Die Informationen, die von dem Kunstkollektiv herausgeben werden, verbleiben enigmatisch. Gemäß ihren Aussagen haben sie den Identitäten derjenigen nachgeforscht, deren Körper achtlos verscharrt wurden, traktiert als bloße bürokratische Barrieren, mitunter gelagert wie Tierkadaver wie in Augusta in Sizilien. Dort angekommen stießen die Mitglieder des Kollektivs auf 17 Leichen, verfrachtet in den Kühlraum der Leichenkammer im Gemeindekrankenhaus, eingewickelt in Müllsäcke. Unbenannt, unbeerdigt. Im Vorfeld des Marsches der Entschlossenen exhumierte das Kollektiv den Leichnam einer Frau aus Syrien, die im März im Mittelmeer zusammen mit ihrem zweijährigen Kind ertrunken war. Ihre Familie, die in Berlin lebt, stimmte zu, sie auf einem muslimischen Friedhof zu beerdigen. Andere Begräbnisse sind geplant, die möglichst diskret angekündigt werden, um Störungen durch Regierungskräfte zu vermeiden.
Darauf wartend, dass der Trauermarsch beginnt, legt sich eine seltsam stille Atmosphäre über die Menschenmassen. Ein Aktivist aus Syrien, Mitglied des Kunstkollektivs, erzählt über den Hintergrund der Aktion, wie sie die Familien der Opfer fanden, wieso sie die Leichname nach Berlin brachten. In aller Ernsthaftigkeit lacht er erleichtert auf, sobald er einen Paragraphen seiner Rede verlesen hat. Die akkumulierenden Affekte, die sich in seinem Sprechen artikulieren, wirken ansteckend. Niemand rührt sich, niemand spricht, alle lauschen ihm. Auch wenn heute keine Leichname beerdigt werden, die Idee einer Beerdigung entfaltet sich in ihrer performativen Kraft. Dann, im Laufen, verwandelt sich der Zug wieder zu einer gewöhnlichen Demonstration. Es erschallt keine Musik, doch der traditionelle Antifa-Block schreit die standardmäßigen Slogans, die leicht den Punkt verfehlen – während alle erschienen sind, um denjenigen zu gedenken, die auf ihrem Weg nach Europa gestorben sind und ermordet wurden, wird in den Slogans Bleiberecht gefordert. Doch man muss es nach Europa schaffen, um für das Recht zu bleiben kämpfen zu können. Die Reichstagswiese ist voller Protestierender, die Polizei versucht, sie vom Gelände zu drängen, nennt es ein Verbrechen, ein symbolisches Grab zu schaufeln. Alle drängeln zurück, verharren auf der Wiese, schreien ‚Grabschänder’ in Richtung Polizei, und inmitten der Rangeleien geben alle auf die Gräber Acht, rücken die Blumen und die Kreuze zurecht. Und die symbolischen Gräber wachsen aus dem Boden, auch in entlegenen Winkeln in Deutschland, überall in Europa, an anderen, an zukünftigen Orten.
Solch ein Spektakel um tote Körper, um Opfer, die unbenannt bleiben, hinterlässt den Nachgeschmack bitteren Sarkasmus. Es lässt uns fragen, welche Leben betrauert werden. Im Leben in der Behaglichkeitszone einer Stadt, die derart unberührt von der Krise erscheint, wo Tod, Gewalt und Elend gemütlich unsichtbar bleiben wie für die meisten der Protestierenden - auch für mich. Dieses morbide Ereignis bringt uns in Berührung mit den Toden, die der Idee eines sich einkerkenden Europas geopfert werden, als Kosten für komfortable Lebensordnungen im hippen Berlin. Die affektpolitische Aktion spiegelt den Sarkasmus der Politik, der Medien, und für einen Sekundenbruchteil wird das öffentliche Leben in Deutschland aus der selbstreferenziellen Endlosschleife gerissen. Diese unbenannten Leichname in die Mitte von Berlins konsumtiven, individualistischen Lebensstilen zu bringen, enttarnt die Logik europäischer Nekropolitiken, in denen Flüchtlinge als bloße Nummern aufgelistet, als statistische Daten erfasst und als administrative Problemstellungen verhandelt werden. Die Beerdigung, die sich ereignete, gab eine mögliche Antwort auf die Frage, wie die unbetrauerten Leben als betrauerbare anerkannt werden können.