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12 2017

Wilde Sorge

Politiken der Sorge in der zapatistischen Konjunktur

Manuel Callahan / Annie Paradise

Aus dem Englischen von Michael Grieder

Unmittelbar nach der Tötung von Colby Friday durch den städtischen Polizeibeamten David Wells im August letzten Jahres (2016) in Stockton, Kalifornien, ging Dion Smith an den Ort, wo Colby ermordet wurde und weigerte sich mit einigen anderen, ihn zu verlassen. Sie wollte zwei Wochen lang über den Ort wachen und das provisorische Mahnmal der Community beschützen, bis Colbys Körper beigesetzt wurde. Über ihr eigenes Handeln sagt Dion: «Wir wollten der Community zeigen, dass wir uns sorgen. Die können uns nicht einfach umbringen.» Dions eigener Sohn, James Rivera Jr., wurde sechs Jahre zuvor von zwei städtischen Polizisten und einem Hilfssheriff aus San Joaquin getötet. Colbys Mutter Denise Friday, die zwei Stunden entfernt in Hayward lebt, kehrt regelmäßig zu dem Ort zurück, um da zu sitzen und die Anwohner_innen aufzufordern, sich der Auslöschung und der Angst zu verweigern, die aufkommt, wenn die Polizei versucht, die Geschichten ebenso zu bestimmen wie das Schweigen darüber. Diese Akte des Wachens gingen mit anderen Versammlungen und Aussprachen der Community einher und waren Räume, in denen Mütter zusammenkamen, um Gerechtigkeit zu suchen und aufzuzeigen. Dies sind die leisen Momente der Sorge unter dem trotzigen Aufschrei der Proteste und den Arresten. Es sind sichtbare Mahnungen einer Community im Kampf, die sich der ihr auferlegten Kriminalisierung verweigert.

Als das Schuljahr in Kalifornien Anfang Juni 2017 endete und das Austeilen der Schulmahlzeiten während der Sommerpause unterbrochen wurde, begannen dieselben Mütter, sich einmal pro Woche zu versammeln und unzählige Essenspakete zu machen. Sie händigten diese den örtlichen Schulkindern in Stockton aus und halfen den hungernden Kindern, die Sommermonate, in denen die Schule geschlossen ist, zu überbrücken. Wenn Essen übrig war, verteilten sie es an die Community der Obdachlosen, die sich unter der Autobahnüberführung versammelt hatten. In einem anderen Fall brachten sie Verpflegung, kaltes Wasser und Säfte zu Leuten, die am Morgen desselben Tages von einem Feuer aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Sie kamen in den darauffolgenden Tagen und Wochen einige Male mit Essen und Wasser zurück zu den temporären Unterständen, bis alle sicher in vorläufigen Unterkünften untergebracht waren. Während einer Hitzewelle später im Juni brachten sie kaltes Wasser und Säfte zur Obdachlosen-Community. Als der August und somit der Gedenktag der Ermordung von Colby Friday näherkam, machten sich diese Mütter grimmig an das Sammeln von Geldern für eine Schulbeginn-Rucksack-Kampagne. Die Töchter Colbys, die beide im Schulalter sind, hatten sich das Projekt zusammen ausgedacht: Im vorangehenden August war ihr Vater an dem Abend getötet worden, als sie als Familie dabei waren, die Schulmaterialien zu besorgen. Als Antwort darauf erinnerte ihre Aktion, Schulmaterial zu organisieren, ein Jahr später an das gestohlene Leben ihres Vaters und ging zugleich auf andere Kinder und Familien zu, um die notwendigen Materialien für die Schule zu teilen. Dies ist das Herz der Kämpfe in Stockton, wo Mütter, deren Kinder vom Staat getötet wurden, nun «offiziell» als Stockton’s Mobile Response Team ein komplexes Gebilde der Verweigerung und Sorge weben.

Wir erzählen diese Geschichten weiter und erinnern uns an eine andere Geschichte aus Oaxaca, wo uns Genoss_innen erzählten: «Wenn wir hören, wie Kugeln abgefeuert werden, rennen wir nicht weg. Wir rennen zum Klang der Kugeln, um uns gegenseitig zu finden und zusammen einen Weg zu suchen, sie aufzuhalten.»

Der Sturm ist über uns, sagen unsere Genoss_innen in Oaxaca. Diese miteinander verbundenen Handlungen charakterisieren den Einsatz für die Schaffung eines Raums, um alltägliche Momente der Sorge zu verwirklichen und zugleich aus dem Innern dieses Sturms den Kräften der Gewalt entgegenzutreten und Familie und Community zu schützen. Wir sind nicht nur in der Lage, die Sorge anzuerkennen und der Sorge verpflichtet zu bleiben; manchmal, finden wir, kann die Sorge wild sein. Was unterscheidet die Sorge – die täglichen Bemühungen, die Leute um uns zu pflegen und von ihnen gepflegt zu werden – von anderen Praktiken, die wir beginnen, als «wilde Sorge» zu verstehen? Gegen die individualisierenden Technologien und Konkurrenzbedingungen des Kapitalismus, gegen die Institutionalisierung, die die Graswurzelsysteme der Sorge demontiert und dann privatisiert, gegen das Spektakel und gegen die neoliberale Austerität weigern wir uns aufzugeben, was wir im Allgemeinen unter Sorge verstehen. Wir erwarten von den Leuten, umsichtig zu sein, sich gegenseitig umeinander zu kümmern und Wege zu finden, diejenigen, die um uns sind, zu unterstützen, zu pflegen und zu heilen. Darüber hinaus gibt es aber ein wachsendes Bewusstsein von der Notwendigkeit, den herrschenden Kräften und zunehmend militarisierten Systemen der Gewalt direkt entgegenzutreten, die bewusst spezifische Gruppen ins Visier nehmen und es zum Ziel haben, bestimmte Communities zu stören, zu enteignen und zu ersetzen. Vermehrt gibt es einen organisierten Versuch, Projekten entgegenzutreten, die versuchen, die soziale Infrastruktur der Community zu zerschlagen und das soziale Gebilde zu entflechten – eine Verweigerung von Leuten, die der kapitalistischen Entwicklung hinderlich zu sein scheinen, vor allem von denjenigen, die der kapitalistischen Extraktion und Ausbeutung im Weg stehen.

Von den Zapatistas wissen wir: das ist der Vierte Weltkrieg.i Vor geraumer Zeit hat Raúl Zibechi geschrieben, wie die «Supermächte» in diesem Kontext über die wachsende städtische Peripherie beunruhigt sind, über die Zonen des Nicht-Seins an den Rändern der großen metropolitanen Zentren wie auch in der Peripherie überhaupt.ii Zibechi analysiert das extraktivistische Modell als eine neue Form des Neoliberalismus: «Durch den Extraktivismus entsteht eine dramatische Situation, die als campo ohne campesinos, als Acker ohne Bauern beschrieben werden könnte: Ein Teil der Bevölkerung wird nicht mehr benötigt, weil er nicht mehr länger in die Produktion einbezogen, nicht mehr notwendig ist, um Waren zu produzieren.» Für Zibechi «tendiert das extraktivistische Modell dazu, eine Gesellschaft ohne Subjekte zu produzieren: In einem Modell der verbrannten Erde wie dem Extraktivismus kann es keine Subjekte, sondern nur Objekte geben.»iii Wie sieht Sorge am Ende des Kapitalismus aus, wenn wir nicht länger an die Beziehungen einer Waren-Gesellschaft gebunden sind?iv

Im ganzen System überlappen die Ersetzbarkeit als Technologie und der Extraktivismus als Operation. Sie verfahren in einem gewaltsamen Gleichklang, während der Kapitalismus in eine neue Phase eintritt. Die Ersetzbarkeit lässt den Zerstörungstrieb des Siedler-Kolonialismus wiederaufleben, in dem der Sieger alles für sich beansprucht. Der Extraktivismus folgt seinem eigenen Auftrag des totalen Raubbaus an allen Ressourcen, auch dies ein System, alles an sich zu reißen.v Ist Ersetzbarkeit eine Bedingung des Kapitalismus in seiner Endphase oder wird sie nur sichtbarer in einem neuen rassistischen Regime? «Ersetzbarkeit manifestiert sich auch», wie uns Martha Biondi erinnert, «in der Gleichgültigkeit der breiteren Gesellschaft gegenüber der hohen frühzeitigen Sterblichkeit von Afroamerikaner_innen und Latin@s». Es ist nicht nur die «Pipeline von der Schule zum Knast», die «strukturelle Arbeitslosigkeit» und «hohe Raten von Todesfällen durch Schusswaffen», die die Ersetzbarkeit nach sich ziehen.vi Es ist auch die Art, wie wir über Wasser, Gesundheit und kollektive Seinsweisen denken. Vor kurzem hat Lorenzo Veracini Patrick Wolfes Intervention um «Rasse» und Siedler-Kolonialismus aufgenommen und geltend gemacht, dass heute Indigene und die Nicht-Indigene annähernd gleich behandelt werden – als ersetzbare Leute. «Die Working-poor wachsen zahlenmäßig fast überall», warnt Veracini. «Wie indigene Menschen, die einem Angriff der Siedler-Kolonialisten gegenüberstehen, werden die ‹Ausgestoßenen› als wertlos markiert. Die ‹systemische Transformation› produziert Modalitäten der Herrschaft, die aussehen wie Siedler-Kolonialismus.» Anders gesagt, werden immer mehr Leute als ersetzbar behandelt, und das System würde sie lieber eliminieren, als sie in verwertbare Arbeit zu verwandeln.vii

Genealogisch gesehen erweist sich der gegenwärtige Fokus auf die Ersetzbarkeit schlicht als weitere Rechtfertigung des Einsatzes von Aufstandsbekämpfung und low-intensity-Konfliktstrategien gegen die Zivilbevölkerung in Regionen der Welt, die für die Vereinigten Staaten immer noch von strategischem Interesse sind. Genauer sind diese Strategien und Praktiken in Ökonomien der sozialen Kontrolle, die zunehmend auf historisch unterrepräsentierte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen in den USA zielen, darauf angelegt, Systeme, Netzwerke und Praktiken der Sorge-Arbeit zu demontieren. Vor Ort zeigt die ansteigende Militarisierung der städtischen Polizei den wachsenden Einsatz im low-intensity-Krieg als Strategie der Kontrolle von städtischen Bevölkerungsgruppen, die als Bedrohung gelten. Was wir erleben, ist mehr als der zunehmende Transfer von hoch entwickelten neuen Waffen vom Militär zur Polizei. Während Familien, die tief in Communities wie Oakland verwurzelt sind, in abgelegene Zonen wie Vallejo oder Stockton vertrieben werden, haben paramilitärische Formationen und low-intensity-Konfliktstrategien die auf spezifische Einzelne gerichtete Gewalt verstärkt, sind in Häuser bestimmter Nachbarschaften eingedrungen und haben familiäre Beziehungen marginaler Communities zerstört.viii Immer mehr staatliche Gewalt schlägt am helllichten Tag zu, junge People of Color werden niedergeschossen, wenn sie kurz einkaufen gehen oder in einigen Fällen von multifunktionalen Einsatzkräften auf der Straße gejagt werden, wie in den Fällen von Colby Friday (16.8.2016) oder James Earle Rivera Jr. (22.7.2010) in Stockton.

Ebenso erleben wir in anderen Momenten die Privatisierung und Militarisierung der Sorge. So im Fall von Kayla Moore, einer schwarzen Transgender-Frau, die mit Schizophrenie lebte und 2013 in ihrem eigenen Zuhause von der Polizei von Berkeley getötet wurde, nachdem diese nach einem psychologischen Notruf zuerst vor Ort war.ix In zunehmendem Maße ist es die Polizei, die auf Hilferufe in psychischen Krisen reagiert – Anrufe, die oft von verzweifelten Familienmitgliedern kommen. Was wir miterleben, ist die Demontage von New Deal-Institutionen, die ihrerseits vernakulare Praktiken und Netzwerke der Sorge zerstört hatten, indem sie «Bedürfnisse» kreierten.x So folgt dem Abbau des Wohlfahrtsstaats die Privatisierung und Militarisierung, und die New Deal-Institutionen lösen sich auf. Noch besteht aber ein vernakulares Netzwerk der wilden Sorge. Es erstreckt sich über die Bay Area und den ganzen Staat, als Antwort der Familien auf die Tötungen derer, die der Sorge bedurft hätten: Idriss Stelley (San Francisco); Peter Stewart (Eureka); Yanira Serrano (Half Moon Bay); Errol Chang (Pacifica); Jesus De Geney (Santa Clara); Anthony Nuñez (San Jose). Diese Namen und die vielen Namen, die wir gemeinsam auf Straßen, auf Trottoirs, in Parks und Community-Räumen wiederholen, sind ein Widerhall der Kämpfe. Sie antworten auf die Grundbedürfnisse der Community, während sie dem Exzess des Staates und des Kapitals entgegen treten.

Ausgehend von unseren unterschiedlichen, verwobenen Oppositionen verstehen wir den beständigen Kampf um die Sorge und das Auftauchen der wilden Sorge. Die Precarias a la Deriva bringen uns ins Bewusstsein, wie fantasievoll Frauen in der urbanen Peripherie von Madrid auf die Versuche des Systems reagierten, Praktiken und Systeme der Sorge zu demontieren. Sie warnen, dass Prekarität aus vier Richtungen kommt: dem Abbau des Wohlfahrtstaates und der Verschiebung hin zu Strategien der «Eindämmung von Risikofaktoren»; dem Abbau von Community-Räumen und der Ausbreitung von kommerziellen Räumen, und parallel dazu der «Hegemonie des Autos»; dem Abbau von Systemen und Fertigkeiten, Essen zu kultivieren und zu teilen, Kleidung und andere Notwendigkeiten zu produzieren, ein Prozess, der Hand in Hand mit dem Aufkommen von vorgefertigtem Fastfood geht; und dem Übergriff, der auf die Zeit, die Ressourcen, die Anerkennung und den Wunsch zur Sorge um Kinder, Ältere und Kranke zielt.xi So ist die Prekarität, wie die gegenwärtige Strategie des Kapitalismus von einigen seiner Gegner_innen bezeichnet wird, nicht alleine eine Situation von unbeständigen, unterbezahlten und ungeschützten Lohnarbeitsbedingungen, sie kommt auch daher, dass Bereiche der Sorge unseres Alltagslebens privatisiert werden und nicht länger in unserer kollektiver Kontrolle sind. Aber trotz dieser Realität weigern sich die Leute, insbesondere die Frauen und oft diejenigen mit den niedrigsten Ressourcen, die Verpflichtungen zur Sorge einzustellen oder aufzugeben. Es gibt auch Leute, die sich nicht mit den Mindesterfordernissen der Sorge zufrieden geben. Trotz der Auflagen und Restriktionen des Kapitalismus, der sich als Austerität und Wettbewerb manifestiert, gibt es diejenigen, die sich weigern, die Praktiken der Sorge auf unmittelbare Netzwerke wie z.B. die Familie zu beschränken und vielmehr auf der Sorge als Verpflichtung und Praxis bestehen, die fortfährt, die Community jenseits einer erweiterten Familie zusammenzuhalten.

Für uns ist der Begriff der «wilden Sorge» ein Konzept, das die Menge von Strategien in Erinnerung ruft, die in der und durch die «sozialen Fabrik» in Opposition zu den vielfältigen, intersektionalen Gewaltformen des Kapitalismus in dessen Spätphase entstehen, die von Extraktivismus beherrscht scheint. Mit der Universidad de la Tierra Califas nähern wir uns der sozialen Fabrik als Kategorie, durch die wir die «Bemühungen des Kapitals, die Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft zu den Communities, Haushalten und Frauen zu verschieben», verstehen können. Das Konzept bietet einen Weg, «die ‹Community› als wesentlicher Ort des Kampfes anzuerkennen, mit Frauen als Schlüsselpersonen, die die Versuche des Kapitals unterminieren, uns kapitalistische soziale Beziehungen aufzuerlegen, und neue Reproduktionsweisen einer würdevollen und autonomen Community generieren»xii. Autonome Feministinnen des frühen Operaismus situierten die Familie als eine vom Kapital strukturierte «hervorragende Zelle der Organisation und sozialen Ordnung».xiii Die soziale Fabrik des Heims und der Familie ist nicht nur ein Ort für die Konsumption, die Wertschöpfung und die Ausbeutung wie das Unsichtbarmachen der Arbeit, die durch das Fehlen eines Lohns verdeckt ist, sondern auch ein Ort der Stabilisierung von Kapital und Staat entlang einer ganzen Anzahl von Vektoren. Sie ist ein Set von Beziehungen, die die weiße soziale Ordnung reproduzieren. Sie ist in diesem Kontext auch ein Ort der «differenziellen Inklusion» und der «differenziellen Stabilität». In den USA werden indigene und schwarze Bevölkerungsgruppen vom Kapital aufgegeben und in ersetzbare Bevölkerungsgruppen verwandelt. Brown Communities und Migrant_innen gruppieren sich, um neue Netzwerke der Stabilität zu erschaffen, um die «Familie» neu zu erfinden und mit ihrer Ausbeutung und ihrem Missbrauch umzugehen. Der Staat kann es sich nicht leisten, diese Gruppierungen aufzugeben; es braucht eine ständige Unterbrechung der Stabilität, wie die vom Kapital gestaltete Familie oder das Heim sie bieten. Die Herstellung und die Unterbrechung der Stabilität und das Auseinanderreißen von Beziehungen wird gegenwärtig als low-intensity-Kriegxiv organisiert.

Unser Ziel ist es, sichtbarer zu machen, wie Kapital und Staat die Sorge privatisieren und militarisieren, indem wir auf die vielen Arten und multiplen Momente des Widerstands gegen die vielfältigen Formen der Gewalt im Spätkapitalismus fokussieren. In diesem speziell gewaltsamen Kontext (in dem die Gewalt strukturell, materiell, symbolisch und alltäglich ist, gelebt und überlebt wird), enthüllt die «wilde Sorge» nicht nur die privatisierte und militarisierte Gewalt des Kapitalismus, sondern auch die konvivialen Praktiken und damit zusammenhängenden Mittel der Sorge, die außerhalb der Rhythmen der kapitalistischen Reproduktion liegen. In diesem Fall bauen wir auf die «wilde Sorge» und die «soziale Fabrik» als strategische Konzepte, die uns helfen, kollektiv eine Analyse der gegenwärtigen Bedingungen zu erstellen.xv Als strategische Konzepte tauchten die «soziale Fabrik» und die «wilde Sorge» im Zusammenhang mit Kämpfen für die Sicherheit der Community in der Bay Area gegen den Ansturm des Vierten Weltkriegs auf. Das ist es, was die zapatistische Konjunktur bestimmt: ein kollektives Benennen der Gewalt, die wir kollektiv erleben, sodass wir ihr kollektiv entgegentreten können durch eine Praxis der «zivilen Pädagogik», die die Rolle des geteilten Lernens und der kollaborativen Wissensproduktion als zentral für unsere Kämpfe hervorhebt, insofern Lernen und Forschung für die Frage, wie wir uns in der Gegenwart organisieren, wesentlich sind. Wir müssen, wie die Zapatistas fordern, «eine neue Weise des Politikmachens erlernen».xvi

Wir sehen wilde Sorge als eine Verweigerung, eine Antwort, eine Überlebensstrategie und eine Verpflichtung, das Leben zu pflegen und zu bejahen. Durch die Kategorie der wilden Sorge hoffen wir zum Beispiel von den Bemühungen von Müttern und Familien zu lernen, sowohl die Polizeigewalt zu beenden als auch die militarisierte Überwachung und den Gefängnis-Apparat, der gegenwärtig gegen historisch marginalisierte Communities in ganz Amerika gerichtet ist. Indigene Kämpfe und die schwarze und braune Arbeiter_innenklasse verweigern und verweigerten die Ersetzbarkeit. Dies wird hörbar im unerbittlichen Schlachtruf: Black lives matter!, und ebenso in den Haltungen zum Schutz der Mutter Erde, die indigene Gruppen und ihre Unterstützer_innen in der ganzen Welt einnehmen. Vermehrt werden wir daran erinnert, dass die indigenen Communities an den Frontlinien des Kampfes stehen. Sie sind oft die erste Verteidigungslinie gegen die räuberischen und zerstörerischen extraktiven Industrien. Es ist diese Schlachtlinie, die auch signalisiert, dass die USA eine Nation des Siedler-Kolonialismus ist und als solche verantwortlich für das Auslöschen indigener Leben war und bleibt. Die jüngste Verfolgung der Standing Rock Sioux und anderer an der Dakota Access Pipeline machte Beschützer_innen der heiligen Wasserstätte zu Zielen der fortschrittlichsten militarisierten Polizeirepression, indem hochentwickelte Waffen, Infiltration und Überwachung gegen sie eingesetzt wurden, und gleichzeitig die Beschützer_innen der heiligen Wasserstätte in den Mainstream-Medien kriminalisiert wurden. Können wir aus diesen Kämpfen lernen und verstehen, wie Raum, auch städtischer Raum, verteidigt und durch kollektive Aktion zurückerobert werden kann? Gegen diesen Angriff fungieren die Praktiken der Sorge, die Pflege, die das Überleben ermöglicht, als die größte Bedrohung von Seiten der Communities, die in «Blechwäldern» Schutz suchen oder sogar jenen unterirdischen Netzwerken der Sorge, die nahezu komplett unsichtbar sind, in den «Betonschluchten» der smart cities. Wenn die rebellische Armee sich für ihr Überleben immer auf Sorge und starke Verbindungen zur Community verlassen hat, so sind es vielleicht diese Netzwerke, die den Widerstand im gegenwärtigen Moment stärker bestimmen als die Ideologie und Identifikation, die Flaggen und Formationen.

In diesem Kontext des Kampfes ist ein wachsendes Engagement für Räume des Lernens offenbar ein zunehmend zentraler Teil der Mobilisierungen, ein politischer Prozess, den wir begonnen haben, Vernakularisierung zu nennen. Wir haben argumentiert, dass viele der dynamischsten und provokativsten Mobilisierungen, z.B. der Zapatistas, «aufständisches Lernen» und «konviviale Forschung» ins Zentrum ihres politischen Prozesses gestellt haben.xvii Konkret hat das bedeutet, Räume des Lernens als wesentlichen Teil des Kampfes einzubeziehen, das Lernen zur Artikulation der Zukunft in der Gegenwart zu machen. Im Falle der Zapatistas wurden Räume des Lernens und der Forschung als zentrale Weisen eröffnet, die Menschen zu versammeln und ein sichtbares Solidaritätsbestreben aufzubauen, kollektiv neue Strategien gegen den Kapitalismus zu verkörpern, neues und bewährtes Wissen über die Neuentstehung der Community außerhalb von Kapital und Staat zu teilen, verschiedene lokalisierte Praktiken des lokal verwurzelten Community-Lebens zu vergleichen und zusammen die Entstehung eines kollektiven Subjekts als einer neuen entscheidenden politischen Agentin auszumalen. Als Teil dieses aufständischen Lernens und des konvivialen Forschens haben wir begonnen wahrzunehmen, wie viele dieser Bemühungen aus vernakularen Weisheiten, Wissen und Praktiken resultieren und um deren Rückgewinn kämpfen – lokal verankerte kollektive Seinsweisen, die konviviale Tools produzieren oder zurückerobern, die die Neuentstehung der Community möglich machen. Es gibt mehrere Probleme und Übergänge, die einen autonomen Raum der konvivialen Wissensproduktion in diesem Umfeld dringend erscheinen lassen. Etliche politische Mobilisierungen, die in verschiedenen Formen und Größenordnungen auf die erhöhte militarisierte Polizeigewalt von Brasilien bis Kanada antworten, stellen wichtige Fragen darüber, wie wir die Community ohne Staat und Kapital neu entstehen lassen können. Ebenso lädt die Opposition gegen den Extraktivismus, vor allem von Seiten der indigenen Communities in ganz Amerika, zu neuen Theoretisierungen über die Rolle von Kultur, Arbeit und Land als wesentliche Elemente, die sich durch Gegenseitigkeit und Verpflichtung zu einem kollektiven Leben außerhalb der Gewalt des Post-Neoliberalismus verbinden. Die aktuellen Kämpfe beim Unist'ot'en Camp und bei der Dakota-Access-Pipeline wie auch die der Lenca People in Honduras sind bedeutend für das gegenwärtige Momentum.

Wir stellen Kämpfe und Geschichten ins Zentrum des Fierce Care Ateneo, eines offenen autonomen Raums für Reflexion und Aktion, der im Spätsommer 2016 zustande kam und durch die Universidad de la Tierra Califas ermöglicht wurde.xviii Im Laufe des vergangenen Jahres versammelten sich Genoss_innen aus verschiedenen Formen des Widerstands, die mit Räumen und Projekten in der Bay Area und darüber hinaus verbunden sind, einmal im Monat in Oakland, um die «wilde Sorge» als strategisches Konzept und konviviales Werkzeug zu erforschen und zu erarbeiten. Wenn wir es ein konviviales Werkzeug nennen, beziehen wir uns auf Ivan Illich und auf die Möglichkeit etwas anzuerkennen, das wir gemeinsam produzieren, um unsere Communities kollektiv zu beleben.xix Wie könnte «wilde Sorge» uns erlauben, über unsere Kämpfe auf neuen Weisen nachzudenken? Könnte sie die oftmals ruhige beständige Militanz erhellen, die die Vereinnahmung und das Spektakel verweigert? Hilft sie uns, indigene Kämpfe gegen den Extraktivismus zu verstehen und die Kämpfe von Müttern und Familien um Gerechtigkeit für ihre Kinder, während sie ihre Communities sicher halten? Könnte sie uns helfen, den industriellen Non-profit-Komplex als Ort der Aufstandsbekämpfung zu verstehen und die aktuelle Konjunktur des Kapitals zu reflektieren? Könnten wir sie nutzen, um besser zu verstehen, wie wir unsere Beziehung zum Kapital unterbrechen können? Könnte sie ein präfiguratives Prisma der Gegenwart sein?

Wie unsere Genoss_innen an der Universidad de la Tierra Oaxaca jüngst sinnierten: «Wir müssen zusammenkommen und zuhören, anerkennen, dass wir voneinander lernen müssen, als Akt des Teilens und der Sorge – und nicht, um die_den Andere_n zu vernichten».xx – Wir finden, dass auch dieses Statement der Herzlichkeit und der Verweigerung wilde Sorge ist.


Dies ist eine Vorveröffentlichung aus dem in Kürze bei transversal texts erscheinenden Band Ökologien der Sorge.

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i Zum zapatistischen Konzept des Vierten Weltkriegs vgl.: El Kilombo Intergaláctico, Beyond Resistance: Everything, An Interview with Subcomandante Marcos (Durham: PaperBoat Press, 2007); Critical Thought in the Face of the Capitalist Hydra I: Contributions by the Sixth Commission of the EZLN (Durham: PaperBoat Press, 2016).

ii Raúl Zibechi, “Subterranean Echoes: Resistance and Politics ‘desde el sótano’”, Socialism and Democracy 19:3 (March 5, 2011). http://sdonline.org/39/volume-19-no-3/subterranean-echos-resistance-and-politics-desde-el-sotano1/.

iiiRaúl Zibechi, “‘Extractivism creates a society without subjects’: Raúl Zibechi on Latin American Social Movements,” übersetzt von Seth Kershner. Upside Down World, July 30, 2015. http://upsidedownworld.org/archives/international/extractivism-creates-a-society-without-subjects-raul-zibechi-on-latin-american-social-movements/.

ivNach Anselm Jappe argumentiert die Schule der Wertkritik, dass wir uns alle von der Subjektform emanzipieren müssen. Anselm Jappe, The Writing on the Wall: On the Decomposition of Capitalism and its Critics (Washington: Zero Books, 2017): 19.

vJ. Kēhaulani Kauanui und Patrick Wolfe, “Settler Colonialism Then and Now: A Conversation between J. Kēhaulani Kauanui and Patrick Wolfe,” Politica e Società, 2:2 (June 2012): 235–258.

viVgl. Taylor, Keeanga-Yamahtta: Von #Blacklivesmatter zu Black Liberation, übersetzt von Gabriel Kuhn, Unrast Münster 2017, 27.

viiLorenzo Veracini, “Settler Colonialism’s Return,” unveröffentlichtes Manuskript, Mai 2017.

viiiKristian Williams, “The Other Side of the COIN: Counterinsurgency and Community Policing,” Interface 3:1 (May 2011): 81-117.

ixBerkeley Copwatch, “People’s Investigation: In-custody Death of Kayla Moore,” (October 2013).

xvgl. Ivan Illich, “Disabling Professions,” in Ivan Illich et. al., Disabling Professions (London: Marion Boyars, 1977): 11-40; Ivan Illich, Toward a History of Needs (Berkeley: Heyday Books, 1977).

xiPrecarias a la Deriva, „Ein sehr vorsichtiger Streik um sehr viel Fürsorge (Vier Hypothesen)“, übersetzt von Jens Kastner, in: transversal 07 04, http://transversal.at/transversal/0704/precarias2/de.

xiiCenter for Convivial Research and Autonomy, Convivial Research and Insurgent Learning, “Social Factory,” Accessed September 17, 2017, http://ccra.mitotedigital.org/ateneo/social_factory.

xiiiMariarosa Dalla Costa, Family, Welfare, and the State, (Brooklyn: Common Notions Press, 2015): 25.

xiv Zur sozialen Fabrik als Ziel des low-intensity-Kriegs vgl.: Annie Paradise, Militarized Policing and Resistance in the Social Factory: The Battle for Community Safety in the Silicon Valley, PhD. dissertation, California Institute for Integral Studies, 2015.

xvManuel Callahan definiert ein strategisches Konzept durch vier zentrale Aspekte: 1. Es ist ein Ort des Streits, der als analytische Kategorie dienen kann, um Widersprüche zu erkennen und zu feiern. 2. Es eröffnet Raum für Reflexion und Dialog und fördert die Bemühungen, die bestehenden Bedingungen der Ungleichheit zu ändern. 3. Es offenbart eine Praxis, die sich aus politischen Verpflichtungen und verwandten Praktiken zusammensetzt, die geprägt sind durch die theoretischen Einsichten, die durch Räume kollektiver «Reflexion und Aktion» entstehen. 4. Es produziert neues Wissen über bestehende Bedingungen und Ansätze, die imstande sind, diese Bedingungen zu verändern, im Zuge der Anerkennung des Widerstands und der Behauptung von Raum und Räumen als Weise, diese Praxis in Angriff zu nehmen. Vgl. Manuel Callahan, “Rebel Dignity,” Kalfou 3:2 (2016): 259 – 277.

xviManuel Callahan, “Zapatista Civic Pedagogy,” unveröffentlichtes Manuskript, August, 2017.

xviiManuel Callahan, “In Defense of Conviviality and the Collective Subject,” Polis, 33 (2012): 1–22; Manuel Callahan, “Repairing the Community: UT Califas and Convivial Tools of the Commons,” Ephemera, im Erscheinen.

xviiiUniversidad de la Tierra, Califas organisiert zwei ateneos. Für Information über die Universidad de la Tierra, Califas und die ateneos vgl. http://ggg.vostan.net/ccra/#18; Callahan, “In Defense of Conviviality,” op. cit. und “Insurgent Learning and Convivial Research: Universidad de la Tierra Califas,” http://artseverywhere.ca/2017/01/26/insurgent-learning-convivial-research-universidad-de-la-tierra-califas/.

xixIvan Illich, Tools for Conviviality (London: Marion Boyars, 1973).

xxUniversidad de la Tierra, Oaxaca, http://unitierraoax.org.