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09 2015

In Spanien entsteht ein „Netzwerk von Zufluchtsstädten“

Ludovic Lamant

Aus dem Französischen von Birgit Mennel

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Auf Initiative Barcelonas mobilisieren sich „empörte“ Städte, um mehr Geflüchtete aufzunehmen, und lancieren Solidaritätskampagnen. Ihre Ziel: Den Druck auf die rechte Regierung von Mariano Rajoy aufzubauen, die sich im Vorfeld der allgemeinen Wahlen in das Thema verbeißt.

Während sich die Regierung von Mario Rajoy weigert, die Anfragen aus Brüssel hinsichtlich der Aufnahme von Migrant_innen zu beantworten, wollen Barcelona, Madrid und andere Städte im spanischen Staat, die seit Mai von Plattformen der „Empörung“ regiert werden, ein Netzwerk von Zufluchtsstädten aufbauen. Die katalanische Bürgermeisterin ergriff – mit ihrer Ankündigung, ein Register von Freiwilligen-Familien zu schaffen, um Migrant_innen auf der Durchreise zu helfen (durch Wohnungsangebote und bescheidene materielle Unterstützung) – als erste die Initiative.

„Es handelt sich nicht um Wohltätigkeit. Asyl ist ein Menschenrecht, das in internationalen Verträgen, aber auch in der Charta von Barcelona niedergeschrieben wurde“, erklärt Gerardo Pisarello, am Dienstag, den 01. 09. 2015, Bürgermeisterin-Stellvertreter in Barcelona, ein Argentinier, der sich 2001 in Katalonien niedergelassen hat. Am Freitag hatte Ada Colau, die aus der Zivilgesellschaft hervorgegangene Bürgermeisterin Barcelonas, auf ihrer Facebook-Seite einen „Appell an die Empathie“ gerichtet, der in den sozialen Netzwerken stark zirkulierte: „Entweder wir setzen uns mit dieser der Humanität eigenen Fähigkeit zu lieben mit einem menschlichen Drama auseinander, oder wir werden alle entmenschlicht. Und es wird noch mehr Tote geben. Der Kampf, dem wir beiwohnen, ist kein Kamp, um uns „vor anderen“ zu schützen. Der gegenwärtige Krieg ist ein Krieg gegen das Leben.“

Das Projekt eines Registers von Familien ist noch sehr unausgereift. „Viele Familien, die sich bereit erklären, Geflüchtete bei sich aufzunehmen, haben uns Briefe geschickt“, erzählt Ada Colau. Pisarello lässt sich nicht darauf ein, genaue Zahlen preiszugeben.  Der Stadtrat pocht auf die Notwendigkeit für Städte im Netzwerk zu arbeiten – als Antwort auf die Herausforderung durch Migration. „Die Generalitat (die katalanische Exektuive) verfügt nur über 28 Betreuungsplätze für Asylwerber_innen, für einen Aufenthalt von bis zu sechs Monaten“, also genau für die Zeit, in der sie eine Antwort für ihren Antrag erhalten sollten, präzisiert El País. Den Unterstützungsorganisationen für Fremde zufolge, warten derzeit etwa 783 Asylwerber_innen, die sich gegenwärtig auf katalanischem Boden befinden, auf eine Antwort. Im Vereinsmilieu zirkuliert die Zahl von 400 Geflüchteten, die Barcelona in den kommenden Wochen aufnehmen könnte, sie wurde aber vom Rathaus nicht bestätigt.

Die Bürgermeisterin von Madrid, Manuela Carmena, hat den Ball aufgenommen: „Ich werde mit Colau sprechen, das interessiert mich, wir sind unterschiedliche, große Städte, aber wir sind Aufnahmestädte“, erklärte sie am Mittwoch in Radio Onda Cero. „Wir sind bereit, das Notwendige tun, um jene aufzunehmen, die es brauchen, aber wir hoffen, dass die Regierung uns sagt, wie viele Personen nach Madrid kommen werden“, so Carmena weiter. Viele Bürgermeister_innen, wie etwa die von Madrid, Barcelona, Cadix, La Corogne oder Saragossa , die aus der Bewegung der Empörten kommen, haben sich am Freitag in Barcelona getroffen, um ihre jeweiligen Perspektiven seit der Machtübernahme im Frühjahr zu diskutieren. Dieser bisher erste Austausch wird zweifellos Gelegenheit bieten, die Konturen dieses hypothetischen Netzwerk von Zufluchtsstädten zu präzisieren.

Auch der Bürgermeister von Valencia, der drittgrößten Stadt Spaniens, zeigte sich interessiert, wiewohl er zunächst wissen will, „was die Generalitat von Valencia und die Regierung zu tun gedenken.“ Joan Ribo ist eigentlich kein Bürgermeister der Bewegung der „Empörten“ vom 15-M (ein Verweis auf den 15. Mai 2011, als sich die Spanier_innen der Plätze des spanischen Staats bemächtigten), aber auch diese Figur aus der Bewegung Compromis steht für die Erneuerung der politischen Klasse des spanischen Staats. Auch die Städte Pamplona (die Hauptstadt von Navarro), La Corogne (Galizien) oder Las Palmas (Kanaren) haben Interesse bekundet, sich diesem Netzwerk anzuschließen. Pamplona „wäre geeignet, weil es anders nicht geht“, erklärte sein Bürgermeister, Joseba Asiron (aus der Koalition Bildu, unabhängige Linke).

Am Dienstag trat Pisarello, der Bürgermeisterin-Stellvertreter von Barcelona, mit einem anderen sensiblen Thema auf den Plan, nämlich der von der EU-Agentur Frontex freigegebenen Gelder, die die Mitgliedsstaaten bekommen, damit sie sich dem humanitären Handlungsbedarf stellen können. „Es handelt sich um die am besten geeignete Städte, um mit dieser Herausforderung umzugehen, urteilte er. El País zufolge, muss der spanische Stadt muss in den nächsten sechs Jahren von Frontex 527 Millionen Euro erhalten.

Die noch sehr fragile Offensivpolitik der „empörten“ Bürgermeister_innen tritt zu einer Zeit auf den Plan, in der der spanische Staat nur den Wenigsten einen Flüchtlingsstatus erteilt. Im Frühjahr hatte die Kommission in Brüssel Geflüchteten-Quoten festgelegt, die jeder der 28 Mitgliedsstaaten erfüllen muss, davon 5849 Personen für Spanien. Doch Mariano Rajoy hat diese Zahl eigenmächtig auf weniger als die Hälfte reduziert. Bis heute hat Madrid der Aufnahme von 1300 Geflüchteten zugestimmt, die sich schon auf europäischem Boden befinden, sowie von 1439 anderen, die noch in ihren Herkunftsländern sind. Während einer Deutschlandreise am Dienstag war Rajoy, auf Druck von Kanzlerin Angela Merkel, immerhin zu einer Konzession bereit und schloss nicht aus, dass er seine Position verändern werde: die Quote „kann sich ändern“, etwa anlässlich des nächsten Treffens der europäischen Innenminister_innen am 14. September in Brüssel.

„Wir werden, dank diesem Netzwerk solidarischer Familien, aus den Städten heraus Druck machen, damit Rajoys Regierung ihre Politik ändert und in die Aufnahme von Geflüchteten die Gelder investiert, die sie dafür bekommt“, warnte Ada Colau. Als Reaktion hat die unabhängige Informationswebsite Contexto einen ziemlich energischen Appell online gestellt, der die Exekutive von Madrid dazu anhält, angesichts „dieses moralischen und politischen Schiffbruchs damit aufzuhören“, „Schande über ihre Bürger_innen zu bringen“. Die Autor_innen plädieren dafür, dass die Regierung „umstandslos die von der EU aufgestellten Quoten“ akzeptiert und „darüber hinaus, die Zahl der Geflüchteten, die sie aufzunehmen bereit ist, ein wenig erhöht – entsprechend dem Ausmaß der humanitären Katastrophe, die sich im Mittelmeer abspielt.“

Die Vorgangsweise der Bürgermeisterin von Barcelona zog in den besonders angespannten Wochen vor den Regionalwahlen in Katalonien (am 27. September) Reaktionen ihrer politischen Gegner_innen nach sich. „Barcelona allein kann nicht alle Probleme der Welt lösen. Das muss koordiniert und den Kompetenzen entsprechend geschehen“, führte der Chef von PP in Barcelona (der Partei der Rechten, die in Madrid an der Macht und in Barcelona in der Minderheit ist) ins Feld. Auch Ciudadanos (Bürger, Anm. d. Übers.), die neue Mitte-Rechts-Partei unter der Führung des Katalanen Albert Rivera prangerte die individualistische Vorgehensweise der Bürgermeisterin Barcelonas an. Und die katalanischen Sozialist_innen (die die Wahl von Colau an die Rathausspitze ermöglichten, auch sie eine Minderheit in Katalonien) unterstützen die lokale Exekutive und hoffen, dass es sich nicht nur um eine Ankündigung handelt.

Dieser Text erschien am 03. 09. 2015 auf Französisch in der Internetzeitung Mediapart.fr.