10 2016
Zwangsräumung des Anti-AKW-Camps in Tôkyô
Gedanken zu einer Nacht- und Nebelaktion
Quelle: IWJ http://iwj.co.jp/wj/open/archives/326651 (Die Zelte am 6. August 2016 vor ihrer Räumung)
Anlässlich der ersten Wiederkehr des Tages, an dem Nordost-Japan von der Dreifachkatastrophe verheert wurde, erschien in der Online-Ausgabe von „The Wall Street Journal“ vom 10. März 2012 ein Artikel, der mit „March 11, One Year On: Occupy METI” betitelt war. Der Journalist Obe Mitsuru beschreibt darin eingangs eine Szenerie, in der auf einem kleinen Eckplatz direkt vor dem mächtigen Ministerium für Ökonomie, Handel und Industrie (METI) im Tôkyôter Regierungsbezirk Kasumigaseki ein vergleichsweise „wackeliges Zelt“ steht, geschmückt mit bunten Bannern und Plakaten, auf denen Japans Ausstieg aus der Atomkraft gefordert wird. Mit einem „Welcome to ‘Occupy METI‘, Japan’s take on Occupy Wall Street“ (OWS) leitet Obe dann zum Hauptteil seines Artikels über. http://blogs.wsj.com/japanrealtime/2012/03/10/march-11-one-year-on-occupy-meti/
Nun, genau gesagt, sind es mittlerweile drei Zelte, die dort – gar nicht „wackelig“ – stehen; und auch das Gleichnis, ‚Occupy METI‘ sei eine Anlehnung an OWS, ist zumindest dahingehend zu präzisieren, dass mit dieser etwas später auftauchenden Bezeichnung zwar sehr wohl ein Bezug zu den New Yorker Ereignissen in Herbst 2011 hergestellt worden ist. Die Belagerung des Platzes vor dem mit der Atomwirtschaft besonders eng verbundenen METI aber hatte bereits wenige Tage vor dem 17. September – dem Beginn von OWS –, am 11. September begonnen. An jenem Tag waren genau sechs Monate seit „3.11“ vergangen, weshalb verschiedene Protestaktionen in Tôkyô (aber auch in anderen Teilen des Landes) stattfanden: Eine Menschenkette sollte das METI einkreisen, was auch gelang; im Subzentrum Shinjuku war eine weitere Genpatsu Yamero-Demonstration („Schluss mit den AKW“) mit anschließender Kundgebung geplant, ca. 20.000 Menschen nahmen daran teil; und direkt vor dem METI traten vier junge Leute unter der Losung „Nachdenken über die Zukunft“ in einen Hungerstreik. Sie waren extra aus Kaminoseki (Präfektur Yamaguchi) angereist, wo gegenüber der Insel Iwaishima in der zu den schönsten Landschaften Japans gehörenden Inlandsee (Setonaikai) bereits seit Anfang der 1980er Jahre ein AKW errichtet werden soll, was lokale Atomkraftgegner_innen lange Zeit verhindern konnten. Als dann Anfang 2011 mit Aufschüttungsarbeiten begonnen worden war, ereignete sich jedoch die AKW-Erdbeben-Katastrophe von Fukushima Daiichi, woraufhin das Vorhaben erneut auf Eis gelegt wurde. Vom Tisch ist der geplante Bau allerdings bis heute nicht, zumal laut Energieplan der jetzigen nationalkonservativen LDPJ-Regierung unter Abe Shinzô Atomstrom auch in Zukunft eine „Grundlastenergiequelle“ bilden soll (20-21% bis 2030).
Fuchigami Tarô渕上太郎(*1942) erinnert sich (vgl. in Oguma 2013: S. 79-82), dass ihm und einigen anderen Teilnehmer_innen der Menschenkette plötzlich die Idee gekommen sei, doch nicht einfach wieder auseinanderzulaufen, sondern dass es eines realen Raumes bedürfe, um der Anti-AKW-Bewegung zu mehr Kontinuität zu verhelfen. So sei noch am gleichen Abend – auf besagtem Eckplatz – ein erstes, sechs tsubo (reichlich 18m²) großes Zelt errichtet worden, in Nachbarschaft zu den vier jungen Leuten, die sie als eine Art Enkelgeneration wahrgenommen hätten. Letztere haben insgesamt 10 Tage, bis zum 19. September, ausgeharrt, während die wesentlich älteren „Zeltleute“ – unter ihnen auch (wie Fuchigami) ehemalige Kämpfer_innen gegen den Sicherheitsvertrag mit den USA, deren durchaus auch radikale politische und soziale Protesterfahrungen bis in die 1960er und 1970er Jahre zurückreichen – nach einigen Beratungen sowie Verhandlungen mit Beamt_innen des METI beschlossen haben zu bleiben . Sie stellten einen Antrag auf Erlaubnis der Nutzung des staatlichen Bodens. „Auf diese Weise wurde der Zeltplatz vor dem METI in Kasumigaseki , mitten in der Hauptstadt – eben dort, wo sich alle Ministerien und Behörden dicht aneinanderreihen – zu einer Willenserklärung des Protestes gegen die Befürworter_innen von Atomkraft, also gegen TEPCO als Verursacher der Havarie im AKW Fukushima Daiichi und gegen den Staat in Gestalt des METI.“ (80) Einen guten „Rundumblick“ über das Areal, in dem Tento hiroba liegt – eine vielbefahrene und sonst vor allem von Beamt_innen und Geschäftsleuten frequentierte Straßenkreuzung – bietet die folgende knapp eineinhalbminütige Videosequenz von „Voicesofprotest“ aus YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=WcMag_O45Tc ). Der offizielle Name des Camps lautet seither Datsu/Han-genpatsu keisanshô-mae tento hiroba (kurz: Tento hiroba): „Zeltplatz vor dem METI gegen AKW/für den Ausstieg aus der Atomkraft“.
In wenigen Tagen wäre dort der bereits in Vorbereitung befundene 5. Jahrestag begangen worden – wenn nicht in einer Nacht- und Nebelaktion der Polizei und staatlicher Behörden in den Morgenstunden des 21. August 2016 in nicht einmal zwei Stunden das Lager geräumt und damit der weltweit längsten „Occupy“-Aktion ein Ende bereitet worden wäre. Es war dies der 1807. Tag seit Beginn der Besetzung, ein Tag, an dem sich, wie einer meiner Student_innen in Erfahrung bringen konnte, einige der Aktivist_innen in Fukushima aufhielten, um dort an verschiedenen Veranstaltungen teilzunehmen – was darauf hindeutet, dass die Planer der Räumung über die Aktionen der (vermutlich rund um die Uhr beobachteten) Zeltbewohner_innen Bescheid wussten. Und es war auch der Abschlusstag der Olympischen Spiele in Rio, an dem die ohnehin große Aufmerksamkeit der Bevölkerung und der Massenmedien sich Stunden später noch einmal auf einen besonderen Höhepunkt richten wird: auf die Abschlussveranstaltung, bei der nicht nur die Olympische Flagge an Koike Yuriko überreicht wird, also an die gerade neu gewählte Gouverneurin von Tôkyô, dem Austragungsort der 2020er Spiele. Es wird auch Premier Abe Shinzô auftauchen, der als „Superma-Rio“ verkleidet ist und – vom Kasumigaseki-Regierungsviertel kommend – via Subzentrum Shibuya durchs Erdinnere mitten ins Maracana-Stadium gebeamt wird. Dort hält er einen roten Ball in der Hand, den er nach einer furiosen Laser-und Tanzshow in die Hände japanischer Olympiateilnehmer_innen legt und mit ihnen gemeinsam ruft: „See you in Tôkyô!“. Ein Gruß, der als Schriftzug auch in der Spielfeldmitte erscheint, darüber die illuminierte Silhouette der Megalopolis mit dem „heiligen“ Weltkulturerbe Fuji-san, dem Fuji-Berg, im Hintergrund (leider ist diese YouTube-Videosequenz aus urheberrechtlichen Gründen nicht mehr abrufbar).
Doch lange bevor dieser Gruß aus dem virtuellen Tôkyô auch über die Bildschirme japanischer Zuschauer_innen flimmerte, waren – ebenfalls dank Hightech und der Neuen Medien – bereits erste Protestaktionen gegen die sehr reale Zwangsräumung im realen Tôkyô im Gange, auch wenn diese sich von der Zahl der Teilnehmer_innen in Grenzen hielten. „Ein Gefühl tiefer Enttäuschung, des Verlustes geht einher mit stillem Zorn. Der Gedanke, etwas Unersetzbares verloren zu haben, Trauer, die wohl nicht so schnell verschwinden, nicht zu trösten sein wird, und von der ich auch nicht möchte, dass sie verschwindet. Ich schaue auf die kalt und hoffnungslos aussehenden Mauern der Macht, und möchte doch diesen Anblick nicht vergessen. Das bleibt als Erinnerung tief in mir erhalten, war vielleicht der Sinn für mich als Mitorganisator der Zelte.“ Das sind erste Reflexionen des Publizisten (und ebenfalls ehemaligen studentischen Aktivisten der 1960er/70er) Mikami Osamu三上治 (*1941), die er an den Tagen 1 und 2 nach den 1807 Tagen im „Zelt-Tagebuch“ (Tento nikki, vgl. hier: http://tentohiroba.tumblr.com/ ) niederschreibt. Ja – das ist die neue Zählung von Aktivist_innen wie Mikami, die von Beginn an dabei waren – und deren Sicht ist es vor allem, die ich in diesem kleinen Text referiere. Wurde also vom 11.9.2011 an die Zeit in Tagen gemessen, die das Lager bestand (und zwischendurch auch in Tagen, an denen ganz Japan atomstromfrei ist und war) , so wird nun in „Tagen danach“ gezählt. Und es sind keineswegs nur solch verhalten-nachdenkliche, in die vergangenen knapp fünf Jahre zurückschauenden Einträge, die das Tagebuch nun bestimmen, sondern schon wird zu den nächsten Aktionen aufgerufen, die an das, was bisher geleistet wurde, unmittelbar anknüpfen. So wird am „Tag 5 danach“ (26.8.2016) davon berichtet, was seit dem Tag 1807 (bzw. „Tag 1 danach“) eben dort passiert, wo bislang die Zelte gestanden haben, nun aber eine mit grünen Blättern bemalte Absperrung errichtet wurde: Sit-ins, Gesprächsrunden im Stehen, Ansprachen von den Zelt-Aktivist_innen selbst (von denen einer den originellen Gedanken äußert, dass die Zelte zwar beseitigt wurden, die AKW ja aber noch nicht, weshalb nun wohl nichts anderes übrig bleibe, als dass jede, jeder einzelne nun selbst zum Zelt werden und bleiben müsse), aber auch Beiträge von Leuten, die „Occupy METI“ in der einen oder anderen Weise unterstützt haben. Auch der Bauer Yoshizawa Masami吉沢正巳 (*1954) kommt aus seiner nur 14 km vom havarierten AKW Fukushima Daiichi entfernt in der „No go-Zone“ gelegenen „Farm der Hoffnung Fukushima“ (Kibô no bokujô Fukushima) angereist, wo er auch nach „3.11“ mit seinen etwa 300 kontaminierten Rindern lebt und sich weigert, die Tiere notschlachten zu lassen, wie die Regierung es ganz nach dem Motto „Was stinkt – Deckel drauf“ per Dekret eigentlich verordnet hatte (vgl. auch Richter 2013: 407-411). Ausführlich – in Form von Live-Video-Mitschnitten – informiert über diese Aktivitäten das unabhängige und alternative Live-Stream-Medium „Independent Web Journal“ (IWJ) von Iwakami Yasumi岩上安身 (*1959) und seinem Team, das am 21.8. ab etwa 9 Uhr vor Ort filmte; siehe hier: http://iwj.co.jp/wj/open/archives/326652 ; http://iwj.co.jp/wj/open/archives/326859 . In einer auf YouTube auch einzeln zugänglichen Sequenz der IWJ-Dokumentation (https://www.youtube.com/watch?v=gQ_ISk8jWr8) kann man Yoshizawa auf seiner „Nostalgie-Kuh“ (bôkyô no ushi) sitzen sehen – eine drahtige Skulptur, die er von der Künstlerin Tomotari Mikako (*1965) 2012 geschenkt bekommen hatte und mit der er seither an Anti-AKW-Demonstrationen auch in Tôkyô teilnimmt, stets mit einem Abstecher zum „Occupy METI“.
Quelle: http://torikyou2013.blog.fc2.com/img/CE4RYrIUsAEffHW.jpg/
Umringt von zahlreichen Polizist_innen, versucht Yoshizawa die im doppelten Sinne aufgeheizte Atmosphäre zu beruhigen, bevor er von seiner „Nostalgie-Kuh“ heruntergezerrt wird. Später von einem IWJ-Mitarbeiter interviewt, erzählt er, dass er natürlich am kommenden 11. September am (bereits vor dem 21.8.) geplanten „AKW-Ausstiegs-Wut-Festival“ (Datsu-genpatsu 9.11. ikari no festibaru) partizipieren werde, dafür habe er jetzt auch seine Kuh mitgebracht, die er dann in einen Mikoshi – einen tragbaren Schrein – verwandeln und mit ihr durch die Straßen prozessieren werde. Und im Hintergrund hört man ein knarzendes Saxophon, auf dem der auch als Punk- Rocker und DJ bekannte Kamuro Tetsu (alias Kaenbin (=Molotov) Tetsu, der auch die oben erwähnte Zelt-Idee äußerte http://fukusimatotomoni.blog.fc2.com/ ) „We shall overcome“ spielt.
Mit diesen wenigen Impressionen soll gezeigt werden: Die Aktionen gehen weiter, und zwar in der Weise, die auch bisher prägend gewesen war. Der schon mehrfach erwähnte Zorn (ikari) ging und geht stets auch mit einer Prise Humor einher; es wurde und wird diskutiert, gestritten, musiziert. Im Laufe der knapp fünf Jahre wurde zudem gemeinsam gekocht und gegessen, auch getanzt, geweint, getrauert – um verstorbene Aktivisten und Aktivistinnen. Mikami Osamu fasste, als das Zeltlager 500 Tage alt wurde, das Leben dort in seinem Bericht „Fast zwei Jahre: Der Zeltplatz an der Ecke vor dem METI (3)“ (Keisanshô no ikkaku ni datsu-genpatsu tetnto sonzokushiteiru (3)) folgendermaßen zusammen. „Viele Leute kommen her, um sich auszutauschen, treffen sich hier. Auch Versammlungen finden häufig statt, und traditionelle Tänze wie der „Kansho odori“ werden aufgeführt. Auch unschöne Dinge geschehen. Mal herrscht eintöniger Alltag, dann wieder passiert etwas und bringt alles durcheinander. Hier ist ein wirklich unbeschreiblicher Raum (Platz) entstanden … Mag sein, dass das nichts als unsere Sehnsüchte sind, doch ich jedenfalls empfinde es so.“ http://www.alter-magazine.jp/.
Zu den unschönen Dingen gehören sicher die Provokationen von rechtsextrem-nationalistischen und AKW befürwortenden Kräften, die mit ihren schwarzen, mit Mega-Lautsprechern bestückten Autos immer mal wieder aufkreuzen und Drohungen ausstoßen (zuletzt am 14.8., worüber auch IWJ berichtete, vgl. hier: http://iwj.co.jp/wj/open/archives/325531 ), zuweilen auch handgreiflich werden würden, würde nicht die Polizei zwischen beide Fronten gehen. Und sicher gehört auch die gerichtliche Klage dazu, die die staatliche Behörde gegen zwei der „Okkupanten“ (neben Fuchigami auch gegen Masakiyo Taichi 正清太一 (*1938) erstmals Ende März 2013 erhoben hat. Auch jetzt stehen noch und wieder jene Schilder vor der errichteten Absperrung, auf denen zu lesen ist: „Staatseigenes Land. Betreten für Unbefugte verboten“ (Kokuyûchi – kankeisha igai tachiiri kinshi). Da die Aktivist_innen als Unbefugte gelten (das heißt, ihrem Antrag auf Nutzungserlaubnis wurde nie stattgegeben) haben sie dieses Verbot verletzt und müssen sich wegen widerrechtlicher Besetzung staatlichen Landes vor dem Obergericht Tôkyô juristisch verantworten – die Räumung des Platzes wird gefordert und eine Schadenssumme in Höhe von ca. 33 Mio. Yen (= knapp 290.000 Euro; pro Tag 21.917 Yen = 292 Euro). Unterstützt von zahlreichen Rechtsanwält_innen wehren sich die Angeklagten natürlich gegen diese Vorwürfe und führen immer wieder die Gründe an, mit denen sie ihr widerständiges Handeln rechtfertigen. Denn was heißt schon „unbefugt“? Mit ihren Aktionen wollen sie auf das unverantwortliche Handeln des Fukushima Daiichi-AKW-Betreibers TEPCO wie auch des Staates/METI im Gefolge des Supergaus aufmerksam machen. Tento hiroba sei zu einem Ort geworden, an dem sich all jene treffen können, die den Ausstieg aus der Atomkraft verwirklichen wollen; ein Ort, an dem die Gedanken und Empfindungen der Menschen zusammenkommen, die aufgrund der Havarie haben fliehen müssen und die es in alle Winde zerstreut hat; ein Ort, der einer nach Tôkyô evakuierten Frau aus Fukushima zur „zweiten Heimat“ geworden sei – so ist es zu lesen auf der Homepage http://tentohiroba-saiban.info/ , die Materialien und Informationen über den laufenden Prozess und den Widerstand dagegen bereitstellt.
In der Tat ist der „Zeltplatz“, ist „Occupy METI“ seit dem 11. September 2011 zu einem zentralen Ort, zu einem Knotenpunkt der Anti-AKW-Proteste geworden, die bereits seit April des gleichen Jahres anschwellten und seither andauern. Über sie berichtet der Dokumentarfilm „Tell the Prime Minister“ des japanischen Soziologen Oguma Eiji小熊英二 (*1962) – mittlerweile selbst Aktivist –, der zu Beginn des Jahres 2016 auch in verschiedenen deutschen und europäischen Städten zu sehen war (vgl. auch das von Oguma 2013 auf Japanisch herausgegebene Buch „Leute, die die AKW stoppen. Von 3.11 bis zu den Protesten vor der Residenz des Premiers“, das auch Fuchigamis obigen Bericht enthält). Zu einem solchen rebellischen Raum konnte er sich dank des Zusammenwirkens der folgenden drei Momente konstituieren:
1. Die Präsenz und die verschiedenen Aktivitäten der „Okkupanten“ selbst, die sich in ihrer Anwesenheit einander abwechselten und so dafür sorgten, dass die Zelte stets, Tag und Nacht, bei Hitze und Kälte, während Taifunen und Erdbeben, besetzt waren: zunächst Zelt 1, seit Ende 2012 Zelt 2 als das „Atomkraft, nein danke!-Frauenzelt: an der Seite von Fukushima“, und 2013 kam ein drittes hinzu.
2. Von ebenso großer Bedeutung sind die vielen in- und ausländischen Besucher_innen der Zelte, die an diesem Ort aus unterschiedlichen Motiven zusammenkamen und mit ihren sehr verschiedenen Ideen, Aktivitäten und (finanziellen, logistischen, Ess- und Trinkwaren-) Unterstützungen dessen Langlebigkeit überhaupt erst ermöglichten. Am lebendigsten war, ist, und wird es wohl sein an den Freitagen, an denen viele Teilnehmer ´vor oder nach dem „Freitagsprotest vor dem Amtssitz des Premierministers“ (Kinyôbi kantei-mae kôgi) einen Abstecher auch zum nahegelegenen Zeltplatz machen. Diese Protestaktion fand erstmals am 29. März 2012 und dann seit dem 6. April freitags zwischen 18 Uhr und 20 Uhr statt, seither Woche für Woche um die gleiche Zeit – über die Zahl der Teilnehmer_innen gibt die eine Homepage Auskunft, die von den Organisatoren Metropolitan Coalition Against Nukes betrieben wird: http://coalitionagainstnukes.jp/?p=6199 ). Auch die künstlerische Komponente ist zu erwähnen, die zur Anziehungskraft des Platzes beitrug. So verwandelten die Frauen von Zelt 2 ihr Domizil Anfang Dezember 2015 zugleich in ein „Anti-nuclear Tent Museum“ (Han-genpatsu bijutsukan) um, in dem schon wenige Tage später, am 19. Dezember, ein „Anti-Atom(bombe wie auch –kraftwerk)-Holzschnitt-Workshop“ veranstaltet wurde, organisiert und durchgeführt vom “A3BCollective/ Anti-War, Anti-Nuclear and Arts of Block-print Collective”, Illcommonz, Misato Yugi und anderen Künstler_innen. Die dabei entstandenen Werke wie auch alle anderen Artefakte des Museumsbestandes wurden am 21.8.2016 ebenfalls von den Räumungsvollstreckern mitgenommen und einer Zwischenlager-Firma übergeben. Werden die Dinge innerhalb eines Monats nicht abgeholt, würden sie versteigert – meldet die Facebook-Seite des Museums am 27.8. (10:35 https://www.facebook.com/antinuketent2015/ );
3. Neben diesen beiden Formen der „physischen“ Präsenz spielt zudem die mediale Präsenz von Tento hiroba eine zentrale Rolle. Das Internet-(online-)Tagebuch wurde bereits erwähnt, hinzuzufügen ist vor allem auch der TV-Sender Aozora („Blauer Himmel“), der wesentlich von der Journalistin Matsumoto Chie 松本ちえgeprägt wurde. Wie vom Namen angedeutet, geht dieses Livestream-Fernsehen „unter freiem Himmel“ über den Äther – erstmals am 14. September 2012 und dann über Monate hinweg (fast) jeden Freitag ab 16 Uhr. Das ermöglichte Interessent_innen in Japan wie auch außerhalb, live vom Zeltplatz aus über aktuelle und / oder länger laufende Anti-AKW-Aktivitäten im ganzen Land informiert zu werden und Hintergrundwissen dazu zu erfahren – je nachdem, wer vor die Kamera geladen war und berichtete. Und wie die spontanen Protestaktionen unmittelbar nach der Zwangsräumung am 21.8.2016 zeigen, sind natürlich auch die sozialen Netzwerke wie Twitter, Facebook oder Mixi unverzichtbar für die Alltagskommunikation und damit den Bestand dieses umkämpften Raumes mitten im Regierungsviertel.
Ich fasse einstweilen zusammen – mit dem wohl überflüssigen Hinweis darauf, dass eine Analyse des Tento hiroba in seiner zeitlichen Gesamtheit, seiner Bedeutungsvielfalt, einschließlich der eben erwähnten medialen Quellen (unter denen das Tagebuch wohl die größte Herausforderung bildet), aussteht. Eine Analyse, die aber zweifellos eine lohnenswerte und notwendige Aufgabe darstellt, denn die Aktivitäten des „Frauenzeltes“ etwa wurden hier noch gar nicht berührt bzw. in den Blick genommen:
Vor knapp 50 Jahren (1967) erschien Henri Lefebvres inzwischen zum Klassiker gewordene Schrift „Recht auf Stadt“. Es war dies eine Zeit, in der Leute wie Mikami, Fuchigami oder Masakami mit Helmen und Knüppeln auf die Straße zogen und sich dort sowie in den Universitäten verbarrikadierten, um sich vor der Bereitschaftspolizei zu schützen; in der sie sich in den Dienst des proletarisch-antikapitalistischen Kampfes verschiedener radikaler Organisationen stellten. Auch darüber reflektieren sie im Tento hiroba-Tagebuch, diskutieren sie untereinander und mit Besuchern. So war auch Shiomi Takaya塩見孝也(*1941) mehrfach an und in den Zelten, der einstige Vorsitzende des „Bundes der Kommunisten – Rote Armee Fraktion (Kyôsanshugi –sha dômei – Sekigun-ha). Als er bei einem seiner Besuche gerade einem privaten TV-Mann ein Interview über seinen „Traum von der Weltrevolution“ gibt, taucht die Grünen-Politikerin Bärbel Höhn auf und wird Teil der Video-Aufnahmen, indem auch sie mit Shiomi über dessen Vergangenheit und seine Kontakte zu ehemaligen RAF-Aktivisten spricht. Ich erwähne das hier, weil diese YouTube-Sequenz zum Auslöser für den kleinen Text wurde: auch Frau Höhn soll erfahren, was es mit diesem Ort auf sich hat, wie wichtig und lehrreich es für hiesige Atomkraftgegner_innen sein kann, von ihm zu erfahren. In diesem Kontext, angesichts eines solchen Gastes war es dann wohl erlaubt, auch solche Themen zu berühren; ansonsten aber gilt im Prinzip, dass über die (Anti-)AKW-Problematik hinaus keine politischen Fragen diskutiert werden, um niemanden zu verschrecken (aber wo ist bei Anti-AKW denn die Grenze?!). Tento hiroba ist ein Forum, ein Ort, an dem Demokratie verteidigt und der Stimme „des Volkes“ Raum gegeben werden soll. Es geht, so Fuchigami, auch um die Verteidigung des Artikels 12 der japanischen Verfassung, der da lautet: „Das Volk wird unablässig bestrebt sein, die durch diese Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten aufrechtzuerhalten. Es wird sich jeden Mißbrauchs dieser Rechte und Freiheiten enthalten und immer dafür verantwortlich sein, daß sie im Interesse des öffentlichen Wohles wahrgenommen werden.“ Fuchigami fährt fort: „Die Zelte zu errichten und den Willen zum Protest Ausdruck zu geben, eben das ist unserer Meinung nach unablässiges Bestreben des Volkes, Recht und Freiheit aufrechtzuerhalten.“ (81). Dafür einen zentralen Ort, einen Raum zu konstituieren, wo den verschiedenen Forderungen der AKW-Gegner_innen immer wieder Gehör verschafft wird, ist auch eine wichtige Praktik, Recht auf Stadt und ein gutes Leben darin zu beanspruchen. Möge es auch weiterhin – ganz im Sinne von Kamuro Tetsu – viele Zelte geben.
Literatur:
Fuchigami, Tarô: „Keisanshô-mae tento wa gôhôsei o mezasu“. [Die Zelte vor dem METI streben nach Legalität]. In: Oguma Eiji (Hg.): Genpatsu o tomeru hitobito – 3.11 kara kantei mae made [Leute, die die AKW stoppen. Von 3.11 bis zu den Protesten vor dem Amtssitz des Premiers]. Tôkyô: Bungeishunjû, 2013, S. 79-82.
Richter, Steffi: „‘Fukushima‘. Wissen er/fahren: Vor Ort“. In: Gebhardt, Lisette/Richter, Steffi (Hg.): Lesebuch „Fukushima“. Übersetzungen, Kommentare, Essays. Berlin: EB-Verlag Dr. Brandt, 2013, S. 400-421.
Zuerst
erschienen:
http://japanologie.gko.uni-leipzig.de/news/zwangsraeumung-des-anti-akw-camps-in-tokyo/