05 2016
Manifest für einen politischen Antirassismus
Übersetzt von Birgit Mennel
Sollten die Kouachi-Brüder und Amedy Coulibaly posthum doch noch die Schlacht der Ideen gewonnen haben? Die öffentliche Debatte richtet sich seit dem 7. Jänner 2015 an falschen Alternativen aus. Für oder gegen Terrorismus? Selbstverständlich sind alle dagegen (dermaßen, dass sogar die progressive Ausweitung seiner Definition akzeptiert wird). Für oder gegen Meinungsfreiheit? Wohlgemerkt, alle sind dafür, oder zumindest fast (außer im Falle der Schüler_innen, die der Verherrlichung des Terrorismus bezichtigt werden). Das Ergebnis: Sechs Monate nach dem Antiterror-Gesetz folgt das Nachrichtendienstgesetz, das unsere Freiheiten auch erheblich zu beinträchtigen versucht. Und die Litanei setzt sich fort. Für oder gegen die Republik? Alle sind dafür, im Namen eines Patriotismus, der (Manuel Valls zufolge) all jenen entgegengehalten werden muss, die „nicht mehr an Frankreich glauben“. Der Beweis? Die UMP [Union pour un mouvement populaire] bedient sich wieder des Begriffs „Republicains“ und der Front National lässt den der „Patrioten“ patentieren. Voller Ungeduld wird der neue Name der Sozialistischen Partei erwartet: Warum nicht „Säkulare“? Immerhin wir werden unablässig gefragt: Für oder gegen den Laizismus? Alle sind dafür, oder fast …
Eine solche Einmütigkeit bringt verzweifelte Reaktionen hervor: die schönen Worte dürfen die Wirklichkeit nicht vergessen lassen. Man kann „den Schwindel“ kritisieren; sich trotzdem dem „Geist des 11. Jänner“ widersetzen, nicht wahr? Aber kann man sich noch an dieser Debatte beteiligen, wenn die Begriffe nicht die unseren sind? Der Premierminister, der zur Verteidigung des heiligen Bundes in die Arena lässt sich davon nicht beirren. Nehmen wir die Herausforderung, die Initiative zu ergreifen, lieber an: nicht reagieren, sondern mit unseren eigenen Worten agieren. Wir müssen uns weigern, uns in falschen Debatten einsperren zu lassen. Jetzt geht es nicht darum, zu antworten, sondern unsere Begriffe durchzusetzen. Es ist an der Zeit, von etwas anderem zu reden. Die Demokratie wird von denen bedroht, die die französische Gesellschaft zersetzen. Und das macht nicht die (und auch nicht eine) Religion; das macht der Rassismus, der einige von uns – Migrant_innen aus Afrika oder Roma und Romnia aus Europa und auch Französ_innen, Erb_innen der Sklaverei, der Kolonisierung und der Migration mit schwarzem Erscheinungsbild oder maghrebinischer Herkunft – als rassisierte „Andere“ bezeichnet.
Wenn man heute die Fahne des Laizismus schwenkt, dann nur selten, um die öffentliche Finanzierung katholischer Schulen, das Konkordat in Elsass-Mosel oder den Druck der Bischöfe gegen die „Heirat für alle“ anzuprangern. Gewöhnlich geht es darum, sich wegen des Islams Sorgen zu machen. Was uns jedoch alarmieren sollte, ist die Islamophobie. Hören wir auf um den heißen Brei herumzureden und schauen wir uns die Sache an. In einem Land, in dem der ehemalige Präsident einen „muslimischen Präfekten“ nominieren und von „Franzosen muslimischen Aussehens“ sprechen konnte, geht es weniger um Religion als um eine beschönigende Rassisierung. Marine Le Pen hat das ganz genau verstanden: Ihr Vater griff die Araber an, sie sucht die Schuld beim Islam. Unter dem Antijudaismus erkennen wir den Antisemitismus, der sich – unabhängig von ihrer Religion – auf die Jüd_innen richtet. Dasselbe gilt für den Islam: man muss nicht Muslim_in sein, um der Islamophobie zum Opfer zu fallen, ja um sich wohl oder übel als solche zu identifizieren.
Gewiss, unsere Regierenden verurteilen den „Rassismus und Antisemitismus“ (auch wenn sie diese einander entgegensetzen). Aber bekämpfen sie sie wirklich? Der moralische Antirassismus, der sich über ein Phänomen empört, dessen Ursachen er ignoriert – weil er sie nicht sieht, das heißt, weil er sie nicht sehen will – muss überwunden werden. Wir müssen dringend wieder an einen politischen Antirassismus anknüpfen. In den 1980er Jahren glaubte man, dass sich der Rassismus auf eine Ideologie und eine Partei beschränkt. In den 1990er Jahren hat man begriffen, dass die systematischen und systemischen Diskriminierungen einen strukturellen Rassismus bilden: Rassistisch oder nicht, man hat an sozialen Logiken teil, deren Ausschlusseffekte sich als rassistisch erweisen. Die Intellektuellen, die Politiker_innen und die Journalist_innen – sie alle streben nach einem Antirassismus und dabei sind fast alle weiß. Rassismus bemisst sich weniger an den mutmaßlichen Absichten derer, die sich im Übrigen seiner erwehren, sondern vielmehr an den nachweislichen Konsequenzen, die er auf jene hat, denen er widerfährt.
Aber da ist noch mehr: Seit den 2000er Jahren erweist sich der Staat immer weniger als Rechtsmittel gegen den Rassismus. Er entpuppt sich ganz im Gegenteil mehr und mehr als der Hauptakteur eines institutionellen Rassismus. Das ist zweifellos nicht neu: Tatsächlich sind wir Erb_innen einer Geschichte – vom kolonialen Imperium zum postkolonialen Frankreich, von den Kolonien zu Outremer und von Outremer zur „Metropole“ , von der Sklaverei zur Negrophobie, von den muslimischen Französ_innen Algeriens gestern zu den Muslim_innen Frankreichs heute und von der Internierung der „Nomad_innen“ (zwischen 1940 und 1946) zu den Roma-Barackensiedlungen. Es geht nicht um Reue. Die Vergangenheit ist zweifellos irreparabel. Dennoch drängt sich die Reparation umso mehr auf, als sie weiterhin auf unserer Gegenwart lastet: wie lässt sich „rassistische Ungleichheit“ anders verstehen? Doch die Rolle des Staats tritt neuerlich sehr deutlich zu Tage – von der Debatte über die nationale Identität bis zu den Angriffen auf Muslim_innen, ohne die Jagd auf die Roma und Romnia zu vergessen, die sich unter François Hollande verschärft.
Zunächst schafft der Staat – durch seine Stadt-, Wohn-, Transport- und Schulpolitiken sowie durch seine Institutionen wie Polizei und Justiz – die objektiven Bedingungen für den Rassismus, die Segregation und die Verbannung. Dann ergänzt er diese durch subjektive Bedingungen: Er legitimiert den Rassismus, indem er zwei Kategorien von Menschen jeweils unterschiedliche Bestimmungen zuweist – „Sie“ und „Wir“. „Sie“, das sind jene, die man im Mittelmeer, aber auch auf Mayotte sterben lässt oder vielmehr tötet, und die, deren Leben man in den Barackensiedlungen der Roma und Romnia oder im „Dschungel“ von Calais unerträglich macht. Die Xenophobie, die den Rassismus nährt, betrifft auch jene Französinnen und Franzosen, bei denen man es für viel natürlicher hält, sie würdelos leben oder ungestraft sterben zu lassen – trotz unserer gemeinsamen Nationalität, sollen sie nicht so sein wie „wir“. Es sind Landsleute, die ständig auffordert werden, sich zu integrieren, um ihnen so besser zu verstehen zu geben, dass sie niemals wirklich zu uns gehören werden.
Antirassistisch-Sein bedeutet heute also nicht nur, gegen den Nationalstaat kämpfen; es heißt nicht nur, die rassistischen Stereotype abzulehnen, die die systemischen Diskriminierungen schüren. Es heißt auch, die Politiken zu bekämpfen, die die französische Gesellschaft rassisieren. Dass man nun nicht sagt, dieser Antirassismus sei eine Abkehr von den Klassenproblemen, als ob die „Frage der Rassisierung“ die „soziale Frage“ vertuschen würde. Die auf der Herkunft oder dem Erscheinungsbild basierenden Diskriminierungen verstärken die sozioökonomischen Ungleichheiten. Sich ihnen zu widersetzen, heißt vor allem in eine Falle gehen. Ebenso wie die Europäische Union auch die „Festung Europa“ ist, so sind auch neoliberale Politiken in Frankreich und andernorts mit einem Staatsrassismus verbunden: Die einen werden gegen die anderen ausgespielt, die „populären Klassen“ gegen die „Rassisierten“, ganz so als würden letztere nicht mehrheitlich zu Ersteren gehören.
Es gilt, das Ressentiment zu erschüttern, um den Zorn, der durch die von den einen und den anderen erfahrene Ungerechtigkeit hervorgerufen wird, von seinem Objekt abzuwenden. Die, die mit der Xenophobie, der Romaphobie, der Negrophobie und der Islamophobie politischen Handel treiben wie andere mit dem Antisemitismus, folgen einer Logik: Die einen werden gegen die anderen ausgespielt, um letztlich jene zu disqualifizieren, die sich aufregen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, während der „alte Antisemitismus“ fortwährt, der „Jüd_innen und Araber_innen“ gleichermaßen verwirft. Die jüngste Untersuchung der CNCDH [Nationale Beratungskommission für Menschenrechte] zeigt, dass die Rassismen miteinander verbunden sind. Doch die Konkurrenz, die manche zwischen den weißen Arbeiter_innen und ihren Nachbar_innen „ausländischer Herkunft“ oder auch zwischen Muslim_innen und Jüd_innen zu etablieren versuchen, während sie die einen wie die anderen gegen die Roma und Romnia aufhetzen, verhindert jene Fragen, die dringend aufgeworfen werden müssten. Es ist nicht die Schuld der Roma und Romnia, auch nicht der Migrant_innen aus Afrika, der Schwarzen oder der Muslim_innen, wenn sich Ungleichheiten auftun, genauso wenig wie es zu Lasten der Jüd_innen geht, wenn diese Rassisierten jeder Art Opfer sozialer und staatlicher Diskriminierungen sind.
Gegen Diskriminierungen, gegen ökonomische Ungleichheiten, gegen Islamophobie oder gegen Antisemitismus kämpfen? Das sind immer noch falsche Alternativen, die jede Koalition verhindern, die all jene entzweien, die sich zusammentun sollten, und die vereinen, die entzweit werden sollten. Um das zu bekämpfen, muss diese Frage beantwortet werden: Wozu dienen die Rassismen politisch, jenseits der wirklichen oder proklamierten Absichten? Es ist an der Zeit die politisch Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen und ihnen ihre Verantwortung vorzuführen. Das heißt es, die Fundamente eines erneuerten, weil repolitisierten Antirassismus zu errichten. Die Initiative ergreifen gegen Politiken der Rassisierung: Diese Arbeit wurde am 9. Mai 2015 auf dem Forum von Gennevilliers in Angriff genommen. Sie wird mit den ersten Betroffenen fortgesetzt werden, den Frauen und Männern, die den Preis dafür zahlen. Und dieser Kampf wird auch mit uns allen geführt werden, die wir diese politische alptraumartige Phantasma eines weißen Frankreichs ablehnen. Es ist wirklich an der Zeit, aber es ist noch Zeit, auf die Rassisierung mit Politisierung zu antworten.
Das Manifest kann hier unterzeichnet werden: http://reprenons.info/manifeste-pour-un-antiracisme-politique/.