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03 2021

„Besetzt! Geht da hin, wo Ihr wollt!“

Odeon Theater, Paris, März 2021

Brice Le Gall

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Seit etwa zehn Tagen sind verschiedene Kultureinrichtungen besetzt, um insbesondere die Rücknahme der Arbeitslosenversicherungsreform zu fordern. Diese Mobilisierung ist eine Reaktion auf den Zorn und manchmal auf die Hoffnungslosigkeit von Millionen von Arbeiter:innen, die in Frankreich um ihre Jobs gebracht wurden. Obwohl karitative Organisationen im vergangenen Jahr mehr als eine Million neue Arme und einen Anstieg der Zahl der Nahrungsmittelhilfe-Empfänger:innen um dreißig Prozent verzeichneten, hält die Regierung an der Durchsetzung einer ebenso ungerechten wie zynischen Arbeitslosenreform fest. Den meisten Schätzungen zufolge, wird sie zu drastischen Leistungskürzungen für mindestens 830.000 Menschen führen. Zu den am stärksten von der Reform betroffenen gehören die am meisten gefährdeten Arbeiter:innen: Das Arbeitslosengeld einer nach dem gesetzlichen Mindestlohn (SMIC – salaire minimum interprofessionell de croissance) bezahlten Person wird nunmehr 667 Euro betragen (statt 985 Euro nach den Berechnungsregeln von 2017). Diese Reform wird im Oktober 2021 durch eine Verschärfung der Bedingungen des Arbeitslosengeldbezugs vollendet werden.

Die Besetzung des Odeon-Theaters in Paris nimmt es mit diesem Krieg gegen die Armen und prekären Arbeiter:innen auf. Sie geht weit über den Fall der künstlerischen Professionen hinaus. Vor Ort treffen wir Künstler:innen (Schauspieler:innen, Musiker:innen, bildende Künstler:innen usw.), aber auch einen Teil der „Unsichtbaren“ aus der Welt der Unterhaltung und Events, wie Regisseur:innen, Kellner:innen, Reiseleiter:innen und Dozent:innen. Während das Überleben der intermittents du spectacle von einem weiteren année blanche abhängt, sind jene, die nicht vom diesem begünstigten Status profitieren können, schon seit einigen Monaten in einer kritischen Situation. Aufgrund fehlender Repräsentation und Anerkennung ihrer Berufe durch den Staat gehören die unregelmäßig im Gast-, Hotel und Tourismusgewerbe Beschäftigten zu denen, auf die in der Gesundheitskrise völlig vergessen wurde. Einige Kellner:innen beziehen schon heute das aktive Solidaritätseinkommen (RSA – revenue de solidarité active) und befinden sich damit in einer Situation der Überschuldung, die es ihnen nicht mehr erlaubt, für die Bedürfnisse ihrer Familien aufzukommen. Andere, vor allem Reiseleiter:innen, haben ihre Häuser zum Verkauf angeboten und waren gezwungen, eine Umschulung in Sektoren anzunehmen, die sich radikal von ihrem Fachgebiet unterscheiden (Busreparateur:innen, Arbeiter:innenkolonnen in Parks und Gärten, etc.). Vor allem alleinerziehende Mütter und Personen, die keine Ehepartner:in noch familiäre Ressourcen haben, um die Auswirkungen des jähen Einkommenseinbruchs abzufedern, ist die Inanspruchnahme von Hilfe unvermeidlich geworden.

Die Auswirkungen des Managements der Gesundheitskrise sind besonders heftig. Über die Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen hinaus erleben viele Menschen diese Situation als Zeichen der Verachtung seitens der Regierung, als Ablehnung ihrer Berufe und ihres Know-hows. Zu dieser durch die täglichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verursachten Demütigung kommt oft ein Gefühl des Unverständnisses gegenüber Sozialdiensten dazu, die selbst unter Druck stehen und dazu verdammt sind, die Umschulungsauflagen zu vervielfältigen. Neben der radikalen Destabilisierung der gesamten Lebensorganisation produziert die Unmöglichkeit zu arbeiten ähnliche Effekte wie die Langzeitarbeitslosigkeit: ein Gefühl der Disqualifikation, einen Vertrauensverlust, die Unmöglichkeit einer Projektion in die Zukunft. Mit der Gesundheitskrise verweist die Verallgemeinerung der sozialen Unsicherheit, die ehemals den prekärsten populären Klassen vorbehalten war, auf die Ausdehnung einer neuen Bedingung: die eines massenhaften Prekariats, das teilweise „klassenübergreifend“, „branchenübergreifend“ und „generationenübergreifend“ ist, und um dessen Vereinigung in einem einzigen kollektiven Kampf sich die Gewerkschaften noch bemühen.

Im Odeon hält die Ankündigung der nacheinander „fallenden“ Theater die Hoffnung auf eine Ausweitung der Bewegung aufrecht. Jeden Tag treffen sich unterschiedliche Ausschüsse und versuchen, Brücken zu anderen besetzten Kultureinrichtungen und vor allem zu anderen Bevölkerungsgruppen zu schlagen, die seit mehreren Monaten mobilisiert werden, oft ohne, dass dies in den großen Medien ein Interesse hervorgerufen hätte. Die Besetzer:innen, die von einigen erfahrenen Aktivist:innen unterstützt werden, organisieren sich selbst, um den Ort so lange wie möglich „zu halten“. Jeden Tag um 14 Uhr wird auf dem Platz vor dem Theater eine große Agora einberufen. Mehrere Kollektive wütender Bürger:innen, begleitet von einigen Persönlichkeiten aus Politik, Gewerkschaft und Kunst, ergreifen dort das Wort. Manchmal mischen sich Schaulustige unter die Menge. Sie kommen zu den Gittern vor dem Theater, um den Besetzer:innen aufmunternde Worte zukommen zu lassen, um Freunde zu begrüßen oder sie mit Essen, Kleidung, Reinigungsprodukten oder Getränken logistisch zu unterstützen. Von oben auf der Terrasse reagieren einige kämpfende Arbeiter:innen mit Shakespeare-Deklamationen oder improvisierten Monologen. Die Herausforderung besteht darin, immer sichtbar zu bleiben und sich nicht einsperren zu lassen, trotz der Beschränkungen, die von der Theaterleitung auferlegt werden.

Drinnen mussten sich die Besetzer:innen dazu verpflichten, nicht in den großen Theatersaal vorzudringen, in dem nach wie vor Proben stattfinden. Für ihre Treffen zogen sie sich in die Gänge und die Bar des Odeons zurück, die in ein „Foyer“ für die Vollversammlung und für Mahlzeiten verwandelt worden war. Die zahlreichen Techniker:innen kümmern sich vor allem um die technische Organisation der Besetzung (Beschallung, Live-Übertragung in soziale Netzwerke, etc.). Die zwei täglichen Generalversammlungen sind die Gelegenheit, regelmäßig über den Stand der Mobilisierung, die Perspektiven der Bewegung, die Beziehungen zu den Journalist:innen, die Lösung der praktischen Probleme des gemeinsamen Lebens zu berichten. Jede: versucht, zurechtzukommen, die eigene Situation kund zu tun, einen Beitrag zu leisten. Die Tagesordnungen sind oft voll. Die Vielfalt der Berufe bedeutet, dass jede:r die Möglichkeit haben muss, sich auszudrücken; es gilt, die Reflexe jener Personen zu zügeln, die kein Problem damit haben, das Wort zu ergreifen, und militante Selbstbezogenheit muss unterbunden werden. Davon hängt ob, ob die Bewegung fortbesteht und Wirkungen entfaltet.

An den Nachmittagen und Abenden werden Konzerte improvisiert. Die Freude der Musiker:innen, wieder ein Publikum und einen kollektiven Raum zu haben, ist auf einigen Gesichtern abzulesen. Wie um die drohende ungewisse Zukunft abzuwenden, ziehen sich die im Gastgewerbe Arbeitenden manchmal ihre weißen Hemden an und nehmen mit Freude, Bestellungen anderer Besetzer:innen entgegen. Dozent:innen improvisieren Führungen und erzählen voller Leidenschaft die Geschichte des Theaters. Auch sie sind Teil der „Show“. Trotz der Müdigkeit und Melancholie, die in einigen Augen abzulesen sind, versucht jede: auf ihre Weise, gut gelaunt zu bleiben. Im Verlauf des Abends ziehen sich die Besetzer:innen in die zu Nachtkojen umfunktionierten Zuschauer:innenlogen zurück. Einige haben ihre Teppiche oder Luftmatratzen oben auf den Balkon des großen Zuschauer:innensaals ausgelegt. Die Besetzer:innen versuchen, sich einige Stunden auszuruhen, während andere Wachdienste schieben, um ein mögliches Eingreifen der Polizei zu verhindern. Von Kopf bis Fuß dick eingepackt, das Walkie-Talkie in der Hand, hält Elsa gemeinsam mit ihrem Kollegen Wache, der mit dem Wach- und Reinigungspersonal Freundschaft schließt und ihnen heiße Getränke anbietet. Bald ist es sieben Uhr, die Ablöse trifft ein. Es regnet und ist kalt an diesem Sonntagmorgen. Draußen ist alles ruhig, aber der Wind nimmt zu: inzwischen sind in ganz Frankreich 42 Kulturstätten besetzt.


https://www.bricelegall.com/Mobilisations/Occupation-Odeon/i-pNPVDZq