10 2022
We Fight Because We Care. Für ein Sorge tragendes Kino
How many times have I been told, when filming in the Maori world, that, if we got it wrong, someone would die? Somebody on the crew. Somebody in the local community. We one had taonga. We once had guardians, we once had keepers… What we have now – if we are to believe what we hear – are owners. What we have now are properties.
Barry Barclay, Mana Tuturu, Auckland University Press, 2005, p65
Es gibt viele Filmmanifeste, etwa für ein fehlerhaftes, für ein militantes Kino oder für ein Frauenkino als Gegenkino. Sie alle sind von Filmschaffenden mit einem theoretisch-reflektierenden, aber auch formal-praktischen und unmittelbar Kino-Machenden, verändernden Anspruch formuliert worden. Was es noch nicht gibt und woran wir gegenwärtig arbeiten, sind das Postulat eines Kino of care oder eines healing cinema oder eines Kinos, das sich kümmert, sowie dazu gehörige Kontexte von Filmen, filmischen Experimenten und Akteuer:innen-Netzwerken. Ein sorgetragendes Kino soll ein Kino sein, das in das Verhältnis zwischen Zuschauer*in und zu Sehen-Gegebenem interveniert. Es führt dort Reziprozität ein, wo die Gesetze der Repräsentation uns an jene problematischen und oft kritisierten Ersetzungs- und Objektivierungsvorgänge gewöhnt haben, die wir durch Ermächtigung, Macht- und Repräsentationskritik zu kontern gelernt haben – oder, indem wir ein Recht auf Opazität einfordern oder auf Unübersetzbarkeiten hinweisen. Gegenwärtig stehen sich unter dem Vorzeichen eines planetarischen Kapitalismus an seinen äußersten Extremen das Kino als Franchise-Unternehmen und das indigene oder lokale Kino als gegensätzliche Pole gegenüber. Demgegenüber lautet die erste Regel des cinema of care: Es investiert in das Verhältnis von Gegenseitigkeit und dem, was man à part entière (vollwertig, uneingeschränkt, ganz und gar, wörtlich etwa: in seinem Anteil ganz ), englisch vielleicht in your own right nennt: Es geht um eine Reprise der Relationalitäten und Interdependenzen zwischen dem Sehen und dem Zu-Sehen-Gegebenen, dem Hören und dem Wissen, dem Verstehen und dem Erfahren. – Es geht um nichts Geringeres als um die Neuverhandlung von Verträgen unserer sensomotorischen Existenz. Wie wir im Kino erschienen sind, war niemals neutral. Das Bildrepertoire und die Grammatik des Kinos – dies kennen wir vor allem aus der Geschichte feministischer, aber auch Schwarzer Filmkritiken und -theorien – war vorwiegend heteronormativ und weiß strukturiert. Erinnert sei hier nur an die berühmte Szene von Frantz Fanons Besuch im Kino, bei dem er auf sich selbst wartet... 1952, schrieb er in seinem Buch Buch Peau noire, masques blancs:
„I cannot go to a film without seeing myself. I wait for me. In the interval, just before the film starts, I wait for me. The people in the theater are watching me, examining me, waiting for me. A Negro groom is going to appear. My heart makes my head swim.”[1]
Aus der großen und komplexen Geschichte der Erfahrung, sich weit weg von der eigenen Präsenz zum Objekt gemacht zu sehen, haben sich progressive, feministische, queere, BIPoC, cultural studies geprägte filmtheoretische Ansätze seit Mitte des 20. Jh. vor allem mit dem Sehen, dem Schauen, den Kinozuschauer:innen, dem spectatorship befasst – und natürlich auch – insbesondere Filmemacher:innen, Kunst- und Kulturproduzent:innen – mit der Frage, wie andere, weniger gewaltsame, verletzende, erniedrigende, beleidigende Bilder geprägt und verbreitet werden könnten. Sie alle waren vor allem von der Frage geleitet: Wie können wir zu einem anderen Sehen, zu einem anderen Rezipieren anstiften? Das cinema of care will diesen Zugang leicht anders akzentuieren und statt beim Zu-sehen-Gegebenen, also dem Film, beim Kino ansetzen, als Gesamtheit filmischer und kinematographischer Tatsachen in ihrem Zusammenspiel oder vielleicht treffender für die heute vervielfältigten audiovisuellen Konfigurationen und Kontexte – bei audiovisuellen Gefügen (frz. agencements, engl. assemblages). Kino hieß historisch immer auch, sich selbst an der Stelle eine:R anderen wahrzunehmen, sich anders, als jemand anderer erfahren zu können. Einen solchen zerlegten Blick hat etwa Fatima Tobing Rony als „drittes Auge“, das dem eigenen Körper entweicht, beschrieben.[2] Ein solches reflexives und diffraktives Vermögen tiefer auszuloten hinsichtlich des alltäglichen Sorgetragens gegenüber der Reproduktion des Lebens, ist das Projekt des cinema of care. Entgegen der nur allzuoft geringgeschätzten und entsprechend feminisierten und rassialisierten Immanenz von care geht es diesem Kino um nichts weniger als um Obacht-, Umsicht-, ja auch Pflege- und Heilungsprozesse, damit die Anordnung zwischen Sehen und Gesehen-Werden sowie zwischen Hören und Sehen wiederhergestellt und aufrechterhalten werden kann. Im cinema of care gibt es keine Bilder, die aufgenommen werden, no pictures that were taken. Demgegenüber sagt man auf Französisch „Ces choses me regardent“ und meint damit Dinge, die einen etwas angehen. Die Redensart bezeichnet einen Platz, an dem man von der äußeren Welt angeschaut wird. Von dort aus gibt das cinema of care Bilder zurück. Es steht im Dienst eines dritten oder stumpfen Sinns (sens obtus), den Roland Barthes mit dem Filmischen schlechthin in Verbindung gebracht hatte, dahingehend, dass es sich weder beschreiben noch darstellen lasse, sondern dort beginne, wo Sprache und Metasprache aussetzen (63). Das Filmische hat entsprechend wenig zu tun mit der Mehrheitspraxis der Bedeutung und der Signifikanz, sondern vielmehr mit jenem Schwebezustand zwischen Bild und Beschreibung, zwischen Definition und Annäherung, der sich als eine Politik von Morgen (61) als filmische Emergenz der Sorge und der Pflege erweist.[3] Filmisch ist entsprechend nie ein Inhalt, sondern vielmehr die Kon- und Transfiguration, ein produktives dynamisches Ineinandergreifen (die Haltung, Anordnung, das Gefüge oder Gebilde) heterogener Elemente, das wir als cinema of care bezeichnen wollen.
Wenn wir dabei Filmgeschichte involvieren, dann in einer Bewegung, die vom Zitieren – dieser Art der Bewegung des Wiederholens, die sich auf eine disziplinarische Autorität bezieht und diese bekräftigt – wegführt, hin zum Rezitieren, und damit zu einer Performance der Wiederholung, um neue Unterschiede zu erzeugen. Im Kino sind es immer viele Akteur:innen, die mannigfaltige Repertoire und ihren je eigenen Korpus mitbringen, um in poietischen, d.h. schaffenden Praktiken neue Fabulationen zu erwirken. Das Kino bezeichnet hier nicht einfach den Ort der Aufführung eines Films. Kino ist alles andere als ein transparentes Medium, vielmehr insistiert es auf seinem eigenen Prozess, der immer aus einer Vielzahl von Stimmen und Bildern, von Geschwindigkeiten und Dichten besteht. Ein weiteres Stück weg vom künstlerischen Individualismus umfasst er auch ein spekulatives und reparatives Zuschauen und Zuhören, welches in das, was rezipiert wird, verwickelt ist: risky & erotic.[4] Cinema of care bezeichnet auch all jene Gesten der Filmarbeit, die sich mit der Verbindung der zwischen vorfilmischer und diegetischer Welt sowie deren Wahrnehmung und Theoretisierung beschäftigen. Aber: Geht das überhaupt mit dem Kino: Zum Beispiel: I care because you do? Ließe es sich erreichen, dass es genauso sehr die bewegten Filmbilder und Töne sind, die einen im Kinoraum anblicken, wie wir sie als Zuschauer:innen ins Auge fassen? Kino als Eye-Contact-Experiment? Weder Wechselseitigkeit noch vollwertiger Anteil sind ganz möglich. Beide sind widerstrebende Wortfügungen: Reziprozität impliziert die Gleichheit von Lateinisch recus und procus, dass man zugleich oder zumindest denselben Weg beschreibend rückwärts und vorwärts gehen könnte, während jeder vollwertige und eigenständige Anteil, etwa als „à part entière“ einen fremden Teil mit einbegreift, ungeachtet dessen, ob man sich dessen bewusst wird, oder nicht.
Was aber, wenn wir die Interaktivität zwischen Film und Zuschauer:in im Kino in der Folge etwa von Brian Massumi tatsächlich als Wahrnehmungsereignis und als eine immanente Relation mit all ihren möglichen Dis/Kontinuitäten rekonzeptualisieren würden? Wie könnte dann ausgerechnet die historische Institution des Kinos zum Ausgangspunkt einer heilenden Instantiierung sensomotorischer Existenzen werden? Von „Healing imperialized eyes” hat die Filmemacherin und Filmtheoretikerin E. Ann Kaplan gesprochen, mit Bezug auf Toni Cade Bambaras Überlegungen zu Julie Dash‘s Film Daughters of the Dust von 1991: “Easing the pain of having had to endure the imperial gaze is most needed for those whose bodies were damaged by the camera.”[5] Und in der Tat ist es nicht bloß wichtig, sondern gar ganz und grundlegend, zu anerkennen und mitzudenken, dass die Erfolgsgeschichte des Films historisch als und durch die Erfahrung von verletzenden Trennungen, Brüchen und Separationen beginnt. Und dabei sind es gerade die aufspaltenden Zerlegungen räumlicher und zeitlicher Kontinuitäten (später auch in Bezug auf die A/Synchronität der bildlichen und den Ton betreffenden Dauer), die im Kino Teilhabe im Sinne der Anteilnahme überhaupt erst ermöglicht haben. Der filmische Raum ist ein geteilter Raum, ein Raum der Division, der Zerteilung. Ich sehe aus dem Dunklen, während ich nicht gesehen werde. Dort, auf der Leinwand sichtbar werden, wo man nicht mehr oder noch nicht ist. – Auch im Sinne der Szenografie ist Film immer geteilt, zwischen champ und hors-champ, dem sichtbaren und dem nicht-sichtbaren Feld der vom Film dargestellten Welt. Erst aus Aufspaltungen und Zerteilungen entsteht das narrative Kino – zunächst vor allem als Witz im frühen Kino – als humoristische Pointe, die immer auf Kosten anderer stattfindet – dieser anderen, die im Bild sind und die uns Schauenden nicht sehen, die aber auch dort, in diesem Bild d.h. im diegetischen Raum, nicht sehen, was wir als Zuschauer:innen sehen. Kategorien sozialer Hierachisierungen haben hierbei immer und insbesondere auch in der Frühzeit des Filmes eine zentrale Rolle gespielt – also auch race und nicht-normative Vergeschlechtlichungen. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist der Film What Happened in the Tunnel (1903).[6]
Eine weiße Frau und ihrer Kleidung nach vermutlich ihre Afroamerikanische Hausangestellte sitzen Seite an Seite in einem Zug. Ein handlungsreisender Weißer sitzt hinter der weißen Frau, die liest. Als sie ihr Taschentuch fallen lässt, hebt er es auf, beginnt sie anzuflirten, sexuell zu belästigen, würden wir heute wohl eher sagen, er nimmt ihre Hand etc. pp. Als der Zug in einen Tunnel einfährt, wird der Bildschirm schwarz. Und als die Dunkelheit nach einer kurzen Weile aufhört, sehen wir, dass sich der Mann weit nach vorne gelehnt hat, die schwarze und die weiße Frau haben aber inzwischen ihre Sitzpositionen gewechselt: Der Mann hat offenbar im Tunnel eine Annäherung zum Kuss gewagt, sobald das Licht diesen erhellt, zieht er sich entsetzt zurück. Die beiden Frauen lachen.
Auch wenn der Witz auf Kosten des Mannes zu gehen scheint, basiert er doch auf der rassialen Differenz und der rassistischen Abwertung der schwarzen Frau.[7] In der historischen Interpretation ließe sich aus herausstellen, dass das überwiegend weiße Publikum, welches dafür bezahlt hat, diesen Film von weniger als eine Minute zu sehen, offenbar nicht wirklich interessiert daran war, zu erfahren, was im Tunnel passiert, wie es der Titel What happened in the Tunnel suggeriert.[8] Diese Sichtbarkeit war weniger wichtig als die Blamage des weißen Mannes, der mit einem von ihm als unangenehm erlebt vorausgesetzten Kuss bestraft wird dafür, dass er sich gegenüber einer weißen Frau zu große Freiheiten herausgenommen hat.
Für heutige Augen wirkt dieser Film wie ein metafilmischer Kommentar. Im hors-champ der filmischen Sichtbarkeit, im Tunnel oder im filmischen Imaginären war das, was dem Mann geschah, ihm ganz offensichtlich nicht unangenehm: die Berührung und der Geschmack des Kusses. Die Schwierigkeiten und seine Ablehnung entstehen dem weißen Mann erst, als der Kuss sichtbar wird. Was der Kuss aber für die schwarze Frau – sowohl im hors-champ als auch im champ bedeutet – scheint demgegenüber extrem viel schwieriger zu dechiffrieren und zu imaginieren – trotz oder gerade wegen des schelmischen und direkten Blicks, den sie für einen kurzen Augenblick direkt an die Kamera richtet, nach dem getriebenen Spiel. Ihre Erfahrung erschließt sich im Film nur als Effekt ihrer De-Platzierung als fehlerhafte und falsche Identität. Sie wird durch die weiße heteronormative imaginäre Un/Ordnung aus dem filmisch-Imaginären exkludiert und versinkt damit, trotz oder gerade wegen ihres Blicks, der die Vierte Wand durchbricht, wie sich sagen ließe, in einem tieferen Tunnel als dem, den wir – als Schwarzbild – sehen, in einer schwärzeren Finsternis als es die Lücke darstellt, die filmhistorisch gesprochen zum Schnitt wird und der kinematographischen Zeit ihren Gang verleiht. Wenn wir über ein Kino nachsinnen, das jene an sexualisierten und rassisierten Hierarchien geschulten Augen heilt, über ein Kino, das die erlernten pleasures of looking und visuellen Ökonomien von maid and mistress zu reparieren vermöchte, dann scheint uns, gilt es zu diesen fundierenden filmgeschichtlichen Verbindungen von Begehren, sexueller Differenz und rassialer Pointe, die in diesem Film zum Tragen kommen, zurückzukehren. Dazu gehört auch und insbesondere die visuelle Produktion von race im historischen Kontext von Überwachungspraktiken und -technologien.[9] Paradigmatisch für die Strukturierung dieses sowohl materiell-semiotischen als auch imaginären Feldes, scheint uns die Figur der Hausangestellten, die Weise, wie sie auftaucht als image, ins hors-champ verschwindet als afterimage und in dieser Dynamik als prekäre und riskante Position einer gesellschaftlich abgewerteten Sorgearbeit als Effekt der internationalen und sexuellen Arbeitsteilung, der globalen Geschichte von Un/Abhängigkeit, Un/Gleichheit, Gewalt, Unterwerfung und Dienstbarkeit angeordnet wird.
Auch wenn das cinema of care Praktiken der Fürsorge und der Reparatur im sehr erweiterten Sinne einer sozialen und symbolischen Reproduktionskrise zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen und außer- oder nichtmenschlichen Welten versteht, so geht es darum, die Existenz des konstitutiven tieferen Tunnels als Ausgangspunkt besonders auch der eigenen epistemischen Praxen und ästhetischen Ökonomien nicht zu unterschätzen. Die spekulativen Fabulationen des cinema of care bleiben daher eng im Dialog mit der Geschichte des Bildrepertoires von care und setzen die Auseinandersetzung mit den historisch gewordenen Verhältnissen vergeschlechtlichter und rassifizierter Positionen der Hausarbeit, der Pflege und Sorge um Kinder, Alte und Kranke, um nicht-souveräne Körper und Subjektivitäten zentral. Im Kino bzw. in den postkinematographischen audiovisuellen Gefügen of care wird sicherlich weder ein didaktisches oder aufklärerisches noch ein kathartisches oder ein Unterhaltungs-Projekt verfolgt. Es wird sich sicherlich nicht mehr um ein Kino handeln, bei dem they vor dem Beginn des Films auf den eigenen Auftritt als Bild eines verletzenden Stereotyps wartet. Das cinema of care wird aber umgekehrt auch keinesfalls ein Ort sein, an dem sich die Unmöglichkeit der Partizipation, des Teilens von Erfahrung und der gegenseitigen Anteilnahme manifestiert. Der tiefere Tunnel steht im cinema of care weniger für einen konstitutiven Pessimismus als vielmehr für ein im Kino bisher ungelöstes Verhältnis und Versprechen. In Bezug auf die möglichen Deutungen von What happened in the tunnel? wollen wir die Differenz zwischen einem erklärenden Modus (What happened in the tunnel?) und einem fragenden Modus (What happened in the tunnel?), zwischen einem „racist joke“ und einem „joke on racist culture“ unterstreichen. Das cinema of care will den Tunnel für das What?, für den fragenden Modus öffnen, und das heißt, den kinematographischen Körper oder die Verkörperungen des Kinos für neue postkinematografische Verbindungen of care zu öffnen. Damit wird der Tunnel, dieses Intervall, aus dem sich die Narration gebiert hat, zum Durchgang und zur Brücke, auf der neue intensive Verbindungen gestiftet werden. Statt zum Ort der Obfuskation wird er zum Ort der ekstatischen Konstellation, zum Ereignis. Das cinema of care ist ein Kino der Antizipation und der Spekulation, an dem sich die extra-filmische Welt und die diegetische Welt genauso überlagern wie der fiktionale und der historiographische Charakter der filmischen Zeit. Die care-Ethik, die die Grundlage des Filmemachens bildet (beispielsweise seines ethischen Vertrags mit Protagonist:innen) besteht darin, dass die Filmemacher:in und die Filme keinen Schaden anrichten, kein Leid, keine Verletzungen zufügen, kein Unglück stiften. Diese Sorgfalt steht im Vordergrund und – in Weiterführung experimenteller, revolutionärer und bewegungspolitischer filmischer Praktiken etwa der 1960er und 1970er Jahren, die Film als Mittler von und in neue Subjektivitäten stiftenden Prozessen begriffen und praktiziert haben – die Frage, ob Kino statt Medium Remedium werden könnte. Als ein solches zielt das Kino weniger darauf, angesehen zu werden denn darauf als existentielle Territorialisierung gemacht zu werden, damit die Möglichkeit einer Veränderung der beteiligten sensomotischen Existenzen und ihrer Position in der Filmarbeit entsteht. Die Divison zwischen champ und hors-champ, das das die komplette Sättigung mit Bedeutung verhindert, sowie das Verhältnis zwischen Sehen und Gesehen-Werden spielen für die Neuanordnung kinematografischer Koexistenzen als cinema of care eine zentrale Rolle. Diese filmischen Intervalle werden zum Beweggrund, der sich öffnet gegenüber der Heterogenität der filmischen Zeichen, die auch a-signifikante Semiologien wie Texturen, Gesten, Rhythmen, Atmosphären etc. umfassen. Dort, wo der Übergang von einem Zeichen zu einem anderen stattfindet, herrsche eine „nuit d'encre infinie“, eine Nacht aus endloser Tinte, schrieb Félix Guattari[10]. Kino wird zum Ort der Produktion mit-förmiger Verschiedenheiten.
---
[1] Frantz Fanon, Black Skin White Masks, Pluto Press, 2008, S. 107.
[2] Fatima Tobing Rony, The Third Eye: Race, Cinema, and Ethnographic Spectacle, Duke University Press 1996.
[3] Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn - Kritische Essays III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990. S. 63, 61.
[4] Vgl. hierzu etwa auch Figuren wie die spekulative Fabulation nach Donna Haraway, das „reparative reading“ nach Eve Kosofsky Sedgwick oder den Forschungsansatz des „fictocriticism“ bei Anna Gibbs. Anna Gibbs, “Fictocriticism, Affect, Mimesis: Engendering Differences”, in: TEXT, Vol 9, No. 1, April 2005 http://www.griffith.edu.au/school/art/text/
[5] E. Ann Kaplan, Looking for the Other. Feminism, Film, and the Imperial Gaze, New York & Londing: Routledge, 1997, S. 219, 222.
[6] What Happened in the Tunnel, United States, Edison Manufacturing Co., 1903, 30 sec., production, camera: Edwin S. Porter, Gilbert M. Anderson, Thomas A. Edison, Inc.; Paper Print Collection (Library of Congress).
[7] Vgl. Linda Williams, “Of Kisses and Ellipses: The Long Adolescence of American Movies”, in: Critical Inquiry, volume 32 (2006), S. 288-340; S. 295-296.
[8] Vgl. Jane M. Gaines, Fire and Desire: Mixed-Race Movies in the Silent Era, Chicago & London: The University of Chicago Press; Jane M. Gaines, “What Happened to the Philosophy of Film History?” in: Film History, Vol. 25, No.1-2, “Inquiries, Speculations, Provocations (2013), S. 70-80.
[9] Vgl. Catherine Zimmer, Surveillance Cinema, New York University Press, 2015.
[10] Félix Guattari, „D'un signe à l'autre“, Recherches, No. 2 (février) 1966, S. 33-63.