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11 2021

Roads and Homes in the Seas of Desire

Genderation, Monika Treut, Deutschland 2021, 88 Minuten

Brigitta Kuster

“As gendernauts we seek through the sea of desire. As with personauts we thought through the sea of simple identity. With gender we are looking through the ways in which we differentiate ourselves from others in terms of a spectrum of desire.”
(Sandy Stone in Monika Treut, Gendernauts, 1999)


Keine Genealogien, keine Filiationen, aber Übersetzungen, Ansteckungen allenfalls, Verkettungen, jedenfalls Knoten und Einnistungen, um sich verwandt zu machen. „I’ve always felt a deep kinship with trans people“ lautet der erste Satz im Off, von Monika Treut eingesprochen, bevor wir sie dann sehen. Lederjacke mit Pailletten, Sonnenbrille, über eine Karte Kaliforniens gebeugt. Der Soundtrack von Mon Amour mit Twang-Gitarren und tief angeschlagenen Bass-Echos ist typisch treibende, bluesige Roadmovie Musik; sie ruft Bilder von frontier-Räumen und Flucht wach. Drogen, Wüste, Hippies und Kojoten, weißes Amerika halt. Filmische Tropen. Und dann der kybernetisch gewordene, nicht mehr Wilde Westen... das Verschwinden des Außen.[1] All das ist hier aber ein bisschen verschliert. Keine muskulös verzerrenden Feedbacks, sondern eher als würde man im nachschwingenden Klang über eine distanzherstellende Krete aus dem epischen Theater stolpern. Abweichlerisch eben. Dissident und delinquent. Das Umgreifende, die große atmosphärische Form hat sich aus den Bildern abgezogen. Sowohl die dystopische als auch die schwärmerisch illusionistische Weite hat in ihnen sichtbar Schaden genommen; er lässt sich nicht mehr verleugnen und verbergen.

Aber wie ging es dann weiter, wie leben die Protagonist:innen von damals, die glamourösen „Gender-Mixer“ und sexuellen Cyborgs des amerikanischen (Alp-)Traums der 1990er Jahre, in der heute stark veränderten Welt der San Francisco Bay Area und darüber hinaus?

Genderation handelt nicht so sehr von Aktionen, die zu neuen Situationen führten, sondern vom Überleben mit und nach den Katastrophen von Gig- und Silicon-Valley-Ökonomie, Hochtechnologie, class wars, Trump Regierung. Der Film erzählt eine Reise mit Auto, Folgen von street views: Fahrten-Gefühl, durch Match Cuts verbundene Weiten, die eruptive Momente atmen. Den Brennpunkt legt er auf die ausgedehnte Dauer nach den peak-moments des Experimentierens von Leben und Sein in der vibrierenden Queer, Trans- und Interszene in SF. Er betont Diskontinuität, zieht Verbindungen, zeigt durch Domizilwechsel geprägte Ansichten; meist sind die Bildkader auf die Fahrbahn zentriert. Stafford betreibt heute eine Umzugsfirma in Oakland und erzählt, das Normalste an ihm sei seine Transition. Das Eine als Minimaldifferenz, n-1, the binary is over, in a lot many ways. Sein Vater war LKW-Fahrer, ein guter Gewerkschafter. Die Temporalität monumentalisierender und physisch um- und ausgreifender Verbindungen zwischen Außen- und Innenwelten – die Fahrerkabine und diese Panoramenbilder! ... Ich denke an Marguerite Duras‘ Le camion von 1977. – Jedenfalls haben sowohl die nostalgischen als auch die unwiderbringlich gebrochenen Rekursionen zwischen dem intérieur und dem exterieur einer organischen Repräsentation hier dem Genderisieren Platz gemacht: Ein bisschen aus der Geraden ausschwenken und auf jeden Fall multiplizieren. Tschüss Vollständigkeit. Everything moves on.

Im Gespräch mit jungen Trans-Personen an der Uni erinnert sich die Historikerin und Professorin für Gender Studies Susan Stryker präzise an die Zeit ihrer Prekarität und die Politik der Großzügigkeit: „I knew that I could not make it on my own, I needed to have kinship networks, intellectual networks. I mean I lived in a collective household… I do have deep affinities for anarchism and collective practices and…“ Kleine Territorialisierungen, sich ein Zuhause machen, einen Ort, um sich zu behaupten, um alt zu werden.

Immer wieder führen die Wege zurück nach San Francisco oder gehen von dort aus. In der Klitoris der USA, wie Annie Sprinkle die Stadt nennt, können infolge der aggressiven Gentrifizierung heute nur noch wenige wohnen. Man muss Hausbesitzerin sein, wie sie selbst, zusammen mit Beth Stephens. Oder Susan Stryker, zusammen mit ihrer Partnerin Mimi. Max Wolf Valerio, Dichter und Autor von The Testosteron Files (2006), der seine Männlichkeit als radikalen Individualismus lebt, wurde aus San Francisco vertrieben und lebt mit seinen Eltern in der Umgebung von Denver.

Etwa nach dem ersten Drittel des Films sitzt Susan Stryker auf ihrer Terrasse aus grau ausgewaschenen Holzdienen im Mission District und sinniert über das Potential von Trans, die Verhältnisse grundlegend zu verstören durch die Veränderung der Verbindung zwischen sozialer Kategorisierung und Biologie. Sie evoziert den Science Fiction-Film Matrix der Wachowskis von 1999 bzw. die Szene, in der Neo das System, den Apparat aus dem Inneren seines Körpers herausreißt. – Im Anschluss wird die Drohung, dass die physische Welt in Flammen aufgeht, explizit: Über der Landschaft liegt nicht nur ein fire ban, sondern Brandwolken türmen sich in den ultramarinblau strahlenden kalifornischen Himmel. Die Feuer gehen von Stromleitungen aus... Infrastrukturen der digitalen Ökonomie wiederum sind das Metier der fabelhaften Sandy Stone, Medientheoretikerin, Autorin von „The Empire Strikes Back: A Posttranssexual Manifesto“ (1987), einem Gründungstext der Trans Studies, heute engagierte Ton-Ingenieurin eines Community Radios in Santa Cruz. Der Strom wird einfach abgeschaltet in Nordkalifornien, wenn es sehr heiß und trocken ist, berichtet sie. An der Pinnwand von Radio KSQD hängt ein Plakat: „Do not question authority. They don’t know either.“ Und dann kommt der Anruf der alternativen Maklerin: Du hast gerade dein eigenes Haus gekauft. Am Telefon ist Darcy, die darauf besteht, dass sie im Film als geliebte Ex repräsentiert wird; neben Sandy stehen Schwiegersohn Leslie und eine Fotogalerie mit Erinnerungen an ihr Paarleben mit dem verstorbenen Cynbe und ein Foto ihrer ausgedehnten queeren Familie: “We are home owners in the worst market of the world.” Freude und Selbstironie: Sandy Stone, alleinstehende alte Frau, achtzig Jahre alt, die nichts mehr tun wird, außer sich um ihr Haus kümmern, ohne Kinder und keine Haustiere...

Durch diesen Film führen alternde Personen, zwischen 58 und 84. Mut und Weisheit ermöglichen ihnen tiefgehende Verständnisse über die Zusammenhänge von Leben und Gesellschaft, von Körper und Umwelt und einen Humor, der sich aus der Fähigkeit speist, eine Pause von sich selbst zu machen.

Die ehemalige Sexworkerin Annie Sprinkle – „first porn star to get a PhD“ – und Beth Stephens machen Kunst und Leben zusammen, in aufsehenerregenden Kostümen im Partnerlook; sie betreiben das E.A.R.T.H. Lab an der University of California, Santa Cruz und erkunden, was sie Ökosexualität nennen: “I am very interested also in redefining what sexuality is. Because I think it has become a kind of a bit… certain norms and stereotypes that are not so interesting, especially if you are gender queer or menopausal, post-menopausal or in a cancer treatment or in prison. It’s about a sexuality that goes beyond the body. It’s about a sexuality with everything, with earth, sky, sea, connecting and expanding our pleasure potential through our senses: smell, touch, taste, sight. The beauty of nature can be incredibly erotic, and people are part of nature – so all sex is eco-sex, but it is much bigger than between humans.”

Inventiv sind die antifaschistischen, sozialen und ökologischen politischen Projekte, in die sie alle involviert sind. Fragilität wird als Stärke gezeigt. Wie die vielen parallel verlaufenden feinen Falten auf Sandy‘s Schultern vor dem riesigen Mischpult, von wo aus sie Myriaden von Soundpartikeln steuert. Oder wie Stafford, der seine in der Wüste südöstlich von Los Angeles abgestellten Container voller Verkaufsware, die ihm einen Lebensunterhalt garantieren soll, wenn er keine schweren Transporter mehr steuern kann, mit einem Elektromobil anfährt. Nie werden solche von Elfi Mikeschs fantastischer Kamera eingefangene Miniaturen oder die wiederkehrenden Intermezzi ihrer bestechend schönen Landschaftseinstellungen dramatisiert. Ein entschiedener Schnitt unterbricht aufkommendes Pathos. Stattdessen ist die Ethik der Zusammenhänge, die der Film herstellt, seine kosmische Ordnung, der Reparatur, dem Weitermachen geschuldet – in wackeligen, manchmal fast schüchtern angelegten Resonanzen, die durch ihre Schönheit überwältigen... Wenn Max Wolf Valerio davon erzählt, dass er auf eine Reparationszahlung für die seiner Mutter und ihm vorenthaltenen „treaty rights“ hofft. Sie würde es ihm erlauben, nach Boulder (Colorado) zu übersiedeln, wo er sein dort in den 1970er Jahren an der „Jack Kerouac School of Disembodied Poetics“ begonnenes Universitätsstudium abzuschließen versucht. Wenn Susan Stryker das transhistory writing anspricht und Sandy Stone sagt “We were programmed to disappear“, dann macht dies deutlich, dass es sich um subterrane, unterschwellige, multigenerationale und more-than-human Ströme und Gewebe handelt, um eine genderation, die sich zwischen den Gendernauts, den titelgebenden mutigen Fahrer:innen in den Ozeanen von Geschlechtlichkeit und Begehren in Monika Treuts Film von 1999, und den alltäglichen, preziosen und singulären Momenten, aus denen sich das gelebte Leben zusammensetzt, entspinnen – dort wo es sich verausgabt, unterwegs ist und auf Dinge trifft, die vor sich gehen.

Sandy denkt über Altern als „growing into oneself“ nach. Allerdings bedeute dies für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge. – Und dann kommt es, das Meer mit dem Sound und der Kraft seiner Wellen und der Idee der im Offenen, auf Sicht navigierenden gendernauts. Annie Sprinkle hat den Wunsch geäußert, vor ihrem Tod auf Walbeobachtung zu gehen. Und als sie da alle – Annie, Beth, Sandy und Naio, Nachwuchs in Sandys ausgedehnter queer family – im Wind stehen und Ausschau halten nach den riesigen Meeressäugern, sagt Sandy: „I don’t know, it might be interesting to be an octopus trapped in a women’s body because of the weird neurology... Your limbs would have lives of their own... You would wake up to find them off in the other room…”

Genderation ist ein Portraitfilm, dessen wunderbare Protagonist:innen die Filmemacherin „lifelong inspirations“ nennt. Genderation ist aber auch ein Film über US-Amerika, ein vom Kino erschaffener Mythos, aber nicht einer, der vom großen Traum und von der Nation handelt, sondern vom Unterstrom der Geschichte, von Trans, von der Zerbrechlichkeit und der Sensibilität. Elfi Mikesch hat dafür eine unprätentiöse Bildsprache gefunden: „Our sense organs are the compass for the world of tomorrow.”

 

 

 

© Hyena Films/ZDF/3sat/Salzgeber

 

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[1] Vgl. Diedrich Diederichsen und Anselm Franke „The Whole Earth“, Berlin HKW 2013.