02 2025
If all you have is Staatsräson, every Palestinian looks like Grandpa
Dem Staatsräsonieren widerstehen
„Was? Opa war ein Nazi?!?“, bricht es aus dem Teenager heraus. Den habe sie aber „doch so lieb!“. Der Vater versucht zu beruhigen, der Opa habe sich eben verrannt gehabt und an „Hitlers Sieg“ geglaubt.[1] Diese Urszene postnazistischer Generation-X-Sozialisation bildet einen der Höhepunkte einer knapp zehn Folgen langen Storyline der Serie Lindenstraße, die im Herbst 1990 ausgestrahlt wurde, und spiegelt zentrale Motive deutscher Erinnerungskultur(en) wider.[2]
Nachdem die Figur der 14-jährigen Valerie Zenker die KZ-Tätowierung ihres jüdischen Nachbarn Enrico Pavarotti zu Gesicht bekommen hat, weint sie sich nachts auf der Suche nach mehr Information über den Holocaust über den Fotos von Leichenbergen in Gerhard Schoenberners Bildband „Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933-1945“ in den Schlaf. Ähnlich wie Valeries Vater vertrat Schoenberner die bis in die 1980er Jahre verbreitete intentionalistische Deutung des Nationalsozialismus, nach der sich die Verfolgung der Jüdinnen_Juden direkt aus den Zielen und Plänen Hitlers ergeben habe und die deutsche Bevölkerung schlimmstenfalls verirrt und verwirrt gewesen oder ‚nur‘ Befehlen gefolgt sei – ein Entlastungsnarrativ.[3]
Was den Teenager von nun an durch die Story treibt, ist die Frage, wie Juden_Jüdinnen denn in ihrer Gegenwart der Wendezeit in Deutschland leben und vor allem gut bzw. „glücklich“ leben könnten. Die Erwachsenen reagieren hilflos. Jüdinnen_Juden kennt keiner. Und reden will auch keiner. Außer der Bruder, der gleich Israel und dessen Reaktionen auf die 1. Intifada mit dem Nationalsozialismus assoziiert und belehrt, „die Israelis“ seien „genauso militant“. Als Enrico Pavarotti schließlich Valerie in Gegenwart seiner nicht-jüdischen Partnerin Isolde über seine Verfolgungserfahrung im NS erzählt, endet die Szene damit, dass er seine weinende Partnerin trösten muss.
Später begibt sich Valerie auf der Suche nach jüdischem Leben in Deutschland auf den offenbar für sie schlüssigsten Ort, den jüdischen Friedhof. Zwischen den Gräbern trifft sie einen Holocaustüberlebenden aus Israel und kommt mit ihm ins Gespräch. Sie wolle aus Solidarität mit den Toten Hebräisch lernen, weil sie „alles wieder gut machen“ wolle. Ob sie denn nicht zum Judentum konvertieren könne, um „auf der richtigen Seite“ zu stehen, fragt sie den entgeisterten Mann. Die Lindenstraßenmacher_innen lassen ihn daraufhin mahnen, die Vergangenheit könne nicht geändert werden, dürfe nur nicht in Vergessenheit geraten. Kurz darauf lässt sich Valerie ‚in Solidarität mit den toten Juden der Konzentrationslager‘ eine Glatze scheren. Sehr zur Unbill des ‚Schlusstrich‘-Altnazis der Lindenstraße, Onkel Franz, der von der „ewig aufgewärmten Vergangenheitsbewältigung“ verschont bleiben möchte. Und in der Serie auch weitestgehend bleibt.
Die Reise durch die westdeutsche Erinnerungskultur kumuliert für Valerie in einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau. Sie verlässt den Ort vermeintlich geläutert. Die Frage nach dem guten Leben, praktische Solidarität mit den, in einem parallelen Erzählstrang von Neonazis terrorisierten, Nachbar_innen und eine antifaschistische Auseinandersetzung mit den noch lebenden Altnazis – dem geliebten Opa und Onkel Franz – bleiben außen vor. Nicht nur in der Lindenstraße.
Staatsräson
Dreißig Jahre und über 200 neonazistische Morde, zwei Pogrome, etliche Brandanschläge und nicht nur eine Verstümmelung des Rechts auf Asyl später. Die deutsche Staatsräson wird in Kunst und Wissenschaft mit Ausladungen, Absagen, Shitstorms, Rauswürfen, Exmatrikulationsdrohungen, Finanzierungsentzug oder dessen Androhung durchgesetzt. In den Straßen Berlins wird sie dem demonstrierenden migrantisierten Prekariat mit Pfefferspray, Prügeln, Hausdurchsuchungen und Strafanzeigen eingetrichtert. Eine Bundestagsresolution zur Bekämpfung von Antisemitismus, „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ lässt selbst linke israelische NGOs befürchten, künftig von deutschen Fördergeldern wegen Antisemitismus ausgeschlossen zu werden.[4] Der Resolutionsentwurf ist neben seiner primär repressiven Ausrichtung von einer Antisemitismusbekämpfung im Zeichen der Schwarzen Null und des Migrationsregimes geprägt: Der Kampf soll primär mit den Mitteln des Straf-, Aufenthalts-, Staatsangehörigkeits- und Asylrechts und überdies mit den haushaltsrechtlichen Regelungen für die Mittelvergabe angegangen werden.[5] Als könne man sich des Antisemitismus’ wahlweise mittels Sparsamkeit oder Abschiebung entledigen.
In den Shitstormdynamiken der Sozialen Medien schlägt sich der Diskurs der Staatsräson in bizarren Lesarten deutscher Geschichte und rassistischen, externalisierenden Projektionen antisemitischer Codes nieder: Ein ehemaliger Grünen-Politiker photoshoppt Hitler auf ein Magazin-Cover, das ursprünglich eine junge palästinensische Frau aus Deutschland zeigte, die – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eine Seltenheit – über den 7. Oktober und seine Folgen aus deutsch-palästinensischer Perspektive berichtete. Ein Stimming-Spielzeug in Form einer Plüschkrake auf einem palästinasolidarischen Instagrambild von Greta Thunberg wird als geheime Botschaft interpretiert, die darauf hindeute, dass Thunberg Anhängerin einer antisemitischen Verschwörungserzählung im Sinne der „Protokolle der Weisen von Zion“ sei und wird tagelang auch in der Presse diskutiert. Die BILD-Zeitung publiziert Listen politisch unliebsamer Wissenschaftler_innen und diffamiert sie als „Universitäter“.
Im letzten Jahr hat sich für die autoritäre Wende gojtoffeliger Erinnerungspolitik das Schlagwort ‚Staatsräson‘ durchgesetzt, das ursprünglich vor allem die gegenwärtige Phase deutscher Israelpolitik beschreiben sollte.[6] Diese entwickelt sich, so Daniel Marwecki, nach einer „Rehabilitationsphase“ der Nachkriegszeit und einer „Normalisierungsperiode“ ab Mitte der 1960er Jahre schließlich in den Wendejahren, also der Zeit der Lindenstraßen-Urszene, hin zur Idee, israelische Sicherheit stelle deutsche Staatsräson dar.[7] Für Marwecki ist die Staatsräson gekennzeichnet von Versöhnungspostulaten und Bekenntnissen unerschütterlicher Solidarität, zugleich stelle sie aber auch eine spezifisch deutsche Identitätspolitik und eine Art Ersatznationalismus dar.[8] Außenpolitisch bedeutet die Staatsräson heute eine bedingungslose Unterstützung Israels trotz dokumentierter massivster Völker- und Menschenrechtsverletzungen und wird innenpolitisch herangezogen, um verschiedene Rechtsverschärfungen zu rechtfertigen.[9] Im Diskursfeld der Staatsräson, wie es sich nach dem 7. Oktober 2023 entfaltet hat, ist Staatsräson moralisch aufgeladen, hat sich von Auseinandersetzungen mit tatsächlicher israelischer Politik weitgehend gelöst und verhandelt vor allem deutsche Identität, steht für einen neuen deutschen Chauvinismus, normalisiert Rassismus und Ausgrenzungspraktiken und ermöglicht repressive staatliche Maßnahmen.[10] Der Diskurs ist Teil der gegenwärtigen autoritären Transformation und ermöglicht eine „Politik der Entsolidarisierung von oben“, wie es Vanessa E. Thompson und Pinar Tuzcu analysieren.[11] Für Simon Strick erlaubt die „Wunschmaschine Staatsräson“ es in letzter Konsequenz, Kritik an den Mechanismen der Staatsräson selbst als antisemitisch zu betrachten, Antisemitismus ansonsten primär als ‚importiert‘ zu denken, ihn somit zu rassifizieren, und fast ausschließlich punitiv zu bekämpfen.[12]
Staatsräsonieren
Mir geht es im Folgenden weder um den außenpolitischen Komplex mit verheerenden innenpolitischen Auswirkungen, also um eine Staatsräson, die sich selbst außerhalb des Rechts stellt und ohne demokratische Legitimierung auskommt, noch um Staatsräson als Dispositiv oder Wunschmaschine mit ihren dezidiert rechten Instrumentalisierungen, sondern um etwas, das ich ‚Staatsräsonieren‘ nennen will. Eine alltägliche Praxis, die die Akzeptabilitätsbedingungen für den großen Komplex der Staatsräson erst schafft. Ein Räsonieren in merkwürdiger Übereinstimmung mit der undemokratischen raison d’etat, das sich von der Kritik am ‚So regiert werden‘ verabschiedet hat und in Shitstorms und statistisch-affektiven Assemblages[13] – den Moral Panics des Social Media Zeitalters – Sagbarkeitsgrenzen neu steckt und Akzeptanz für repressive Maßnahmen und autoritäre Politiken schafft. Staatsräsoniert wird in den Sozialen Medien, in Kneipendiskussionen, in Clubs, Stiftungen, auf Buchmessen, Podien, in Jurys, Ministerien, Zigarettenpausen und Feuilletons. Ein Kennzeichen dieser dominanzkulturellen, gojnormativen Alltagspraxis sind neben einer unerschütterlichen Unterstützung Israels – oft womöglich ehrlich gemeinte, aber kenntnisarm vorgetragene oder komplett misslingende – Kritiken an tatsächlichem und vermeintlichem Antisemitismus. Darunter vor allem Antisemitismus, der migrantisierten_queeren_linken – auch jüdischen – Positionen zugeschrieben wird und dem mit repressiven Maßnahmen aus dem Feld der Versicherheitlichung begegnet werden soll.[14] Anna-Esther Younes hat bereits vor Jahren darauf hingewiesen, dass in Deutschland staatliche Antisemitismusbekämpfungsstrategien in Logiken des War on Terror funktionieren.[15] Allgemeine Prozesse der Versicherheitlichung und die ihr zugrunde liegenden Epistemologien haben auch die Praxis des Staatsräsonierens geprägt. Ich verstehe das Staatsräsonieren als eine Form, Wissen zu organisieren, zu kategorisieren und zu bewerten, die von Rationalitäten des War on Terror durchzogen ist.
Seit dem Ende des Kalten Krieges und verstärkt mit dem War on Terror nach 9/11 haben Versicherheitlichungsprozesse eine neue Dynamik erreicht, die von einer binären, manichäischen Kriegslogik geprägt ist, für die George W. Bushs „You’re either with us, or you’re with the terrorists.“ exemplarisch steht.[16] Teil dieser Technosecurity-Kultur sind spezifische Formen der Wissensproduktion, wie die Prämediation, die mediale Vorwegnahme aller nur erdenklichen Ereignisse in einer als bedrohlich und gefährlich wahrgenommenen Welt.[17]
Postulate ständiger Gefährdung und das Agieren in Verdachtshermeneutiken gehören auch zur Rationalität des „paranoid reading“ im Sinne Eve Kosofsky Sedgwicks.[18] Sie versteht Paranoid Reading nicht als pathologisierende Diagnose oder Geisteszustand, sondern als Lektüreweise und epistemologische Praxis.[19] Paranoid Readings sind antizipatorisch, reflexiv und mimetisch, auf die Vorwegnahme von zukünftigen Überraschungen fokussiert und damit in einem spezifischen Verhältnis zur Zeit gefangen. Sie sind geprägt von einem unerschütterlichen Glauben an die Kraft von Enthüllungen und stellen eine Strong Theory negativer Affekte dar, die aber ihren affektiven Gehalt verleugnet und sich als reine Wahrheitsfindungspraxis imaginiert.[20] Sie strukturieren binär, rastern in Freund_in/Feind_in und sind unfähig, komplexere Verhältnisse jenseits von Binaritäten zu begreifen.
Zeitengewendetes: Staatsräsonierende Temporalität
Im Staatsräsonieren manifestiert sich die paranoide Rationalität in repressiven Präventionsfantasien, in bizarren Temporalitäten, im Kontaktschulddenken der Netzwerklogiken des War on Terror, im Glauben an die Wirkmächtigkeit von Skandalisierungen in Form von Shitstorms und in Selbstpositionierungen als Teil eines vermeintlich geläuterten nationalen Kollektivs, das gerade durch seine – angeblich aufgearbeitete – vernichtungsantisemitische Vergangenheit privilegierten Zugang zur Wahrheit über Genozidalität und Antisemitismus im Allgemeinen habe und daher zum rationalen, von Affekten bereinigten Urteilen prädestiniert sei.
Paranoid Readings fokussieren darauf, böse Überraschungen zu vermeiden, ja selbst die böse Überraschung einer bösen Überraschung zu verhindern. Sie sind damit einerseits wachsam auf eine Zukunft gerichtet, die aber andererseits immer schon bekannt sein, also antizipiert werden muss, und deswegen ebenfalls auf paradoxe Weise rückwärtsgerichtet.[21] Im Staatsräsonieren zeigt sich diese Temporalität vielleicht am deutlichsten im zeitengewendeten ‚Nie wieder!‘, dem nun ein ‚ist jetzt‘ hinzugestellt wurde. Hier wird das ‚Nie wieder‘ semantisch aus seinem Ewigkeitsanspruch entlassen. In der vorwärtsgewandten Rückwärtsgewandtheit des Paranoid Readings nimmt der Holocaust eine dominante Stellung als Deutungsraster ein, um gegenwärtige Phänomene zu interpretieren und Zukünfte zu antizipieren: Wenn ‚Nie wieder!‘ nun ‚jetzt‘ ist – und eben gerade nicht gestern war, als es beispielsweise darum gegangen wäre Oma, Opa und Onkel Franz zu entnazifizieren – und auch nicht erst morgen eingelöst werden darf, sorgt diese zugleich in die Zukunft und Vergangenheit gerichtete Temporalität dafür, dass zur Bewertung jeglicher Handlungen von Palästinenser_innen und mit ihnen solidarischen Menschen – von Hamas-Anhänger_innen über zornig demonstrierende Teenager auf der Sonnenallee bis zu offene Briefe unterschreibenden Wissenschaftler_innen – primär Raster und Kategorien herangezogen werden, mit denen gemeinhin der Holocaust historisch analysiert wird.[22] Getragen wird diese Projektion von den antimuslimischen Rassifizierungen und Dehumanisierungen der letzten Jahrzehnte. Zugleich häufen sich im Schatten der doppelten Zeitenwende sowohl rhetorische als auch politische Angriffe auf postnazistische – freilich nicht perfekte – Errungenschaften wie das Asylrecht, die Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht, das Völkerstrafrecht, internationale Gerichtsbarkeiten, die UN, und die Ablehnung des Militarismus.[23] Hier fügt sich das Staatsräsonieren in seinem verzweifelten Begehren, auf der ‚richtigen Seite‘ stehen zu wollen, in einen internationalen Diskurs des autoritären Drifts und der Faschisierung ein.
Enthüllungen und Angstproduktion
Teil der Praxis des Paranoid Reading und des Staatsräsonierens ist der feste Glaube an die Kraft der Enthüllungen.[24] Staatsräsonieren ist dabei aber ungeeignet, auf Situationen zu reagieren, in denen Sichtbarkeit und Öffentlichkeit an sich Teil der Gewalt sind. Staatsräsonierer_innen sind im Aufdecken tatsächlicher oder vermeintlicher Grenzüberschreitungen beteiligt, was sie zu skandalisieren suchen, zu reproduzieren oder manchmal sogar erst zu produzieren. Was löst die BILD-Zeitung in jüdischen Studierenden aus, wenn sie mehrere Hundert Hochschullehrende pauschal als antisemitische „Universitäter“ beschreibt, weil sie einen Brief gegen einen Polizeieinsatz an einer Hochschule unterschrieben haben? Tragen Shitstorms, die über Wochen einzelne, manchmal vielleicht auch versehentlich oder impulsiv getätigte Social-Media-Likes oder überinterpretierte Zeichen permanent reproduzieren, die ohne den Shitstorm niemals größere Öffentlichkeit erreicht hätten, zur Bekämpfung von Gewalt bei? Oder produzieren sie vielleicht eher ein Klima der Angst, in dem überdies – durch die ständige Wiederholung des zu Skandalisierenden – gewaltvolle Motive weiter normalisiert werden?
Die viel diskutierte und ohne Zweifel existierende „Angst jüdischer Studierender“ droht somit in staatsräsonierenden Paranoid Readings von denen mitproduziert zu werden, die durch Aufdeckung selbst kleinster Verfehlungen und deren maximale Skandalisierung, Antisemitismus zu bekämpfen glauben. Wobei hier die Grenzen zwischen staatsräsonierenden Enthüllungspraktiken und rechter Ereignisproduktion fließend sind und beide sich gegenseitig befeuern können.[25] Tatsächliche Befürchtungen und Ängste von Jüdinnen_Juden vor steigendem Antisemitismus im Allgemeinen, die Angst, für paranoid gehalten zu werden, die Angst um geliebte Menschen in Israel, Gaza, im Westjordanland, dem Libanon…, die Angst vor einem Verlust von Meinungspluralität, vor auseinanderbrechenden Freund_innenschaften, vor autoritären Strömungen etc. spielen im Staatsräsonieren nur unter bestimmten Bedingungen eine Rolle.[26] Sie werden nur dann rezipiert und thematisiert wenn sie sich in die Logik der Staatsräson einfügen lassen und sich Staatsräsonierer_innen durch ihre Thematisierung als mutige Retter_innen inszenieren können, die als Antwort auf die Frage nach dem Ende der Angst immer nur das Phantasma der Sicherheit durch Repression anzubieten haben – statt beispielsweise Sorge. Ängste von Palästinenser_innen, ihre Trauer und die tiefe Erschütterung ob der kompletten Eskalation antimuslimisch-rassistischer Politiken der letzten Monate wiederum kommen schlicht nicht vor.[27] Die Vorstellung, dass Jüdinnen_Juden und Palästinenser_innen gemeinsam trauern oder mit Ängsten und Wut umgehen könnten, scheint in der binären Logik des Staatsräsonierens undenkbar. Unter Verdacht stehen oft gerade diejenigen, die darauf beharren, in Differenz gemeinsame Perspektiven auf israelisch_deutsch_palästinensisches Leben zu entwickeln, für ein ganz anderes Zusammenleben – in Deutschland, aber auch in Israel/Palästina – zu kämpfen und solidarische Praktiken zu entwickeln.[28] Diese Verbindungen waren auch vor dem Oktober 2023 nie unkompliziert und wurden schon vor Jahren – insbesondere aus antideutschen Kontexten – scharf angegriffen.
Reparative Reading
Kosofsky Sedgwick stellt dem Paranoid Reading die Praxis des Reparative Reading zur Seite, das Überraschungen nicht generell zu vermeiden sucht, sich aus Hoffnung speist und offen dafür bleibt, dass alles auch ganz anders sein könnte.[29] Es kann Gewalt und Unterdrückung trotzdem analysieren, aber geht dabei transparent mit seinen affektiven Aufladungen um und beharrt nicht auf einer einzig richtigen Position der Wahrheitsfindung.[30] Staatsräson und Staatsräsonieren als nicht komplett in eins fallende Phänomene zu denken, stellt den Versuch eines Reparative Readings dar, das nach einem Ausweg aus der gegenwärtigen Polarisierungsspirale sucht. Mit Donna Haraways Konzept des situierten Wissens verstehe ich Reparative Reading als eine Verweigerung der Abgeschlossenheit, Endgültigkeit und der „Vereinfachung in letzter Instanz“, also als situierte Praxis feministischer Objektivität, die Verwundbarkeit zulassen kann und „eine unstillbare Neugier auf Netzwerke unterschiedlicher Positionierungen“ hegt.[31] Um solche Netzwerke zu schaffen, müssen Reinheitsfantasien aufgegeben, fehlerfreundliche Praktiken entwickelt und Räume für geteilte Verwundbarkeiten geschaffen werden. Hier können Verunsicherung und Angst nicht als abzusichernde Gefahr gelten, auf die mit Ausschluss reagiert werden muss, sondern Anlass für geteilte Sorgepraktiken sein. An die Stelle von binärem Freund_in/Feind_in-Denken treten Praktiken der Ambiguitätstoleranz, der Verweigerung, zu Feind_innen gemacht zu werden und Räume, in denen Angst, Verunsicherung oder politische Ratlosigkeit ebenso Platz haben können, wie die Bekämpfung von Gewalt und Unterdrückung und letztlich auch Valeries in Vergessenheit geratene Frage nach dem guten Leben und zwar für alle.[32]
Leicht überarbeitete Fassung, zuerst erschienen in: Kämpf, Katrin M., Bromley, Anna (Hg.): Nicht so regiert werden/Not being governed like that. Not a Sammelband for Isabell Lorey. Festschrift/Zine, Band 2, Köln 2024
[1] Lindenstraße: Bilder der Vergangenheit, Folge 248, Buch: Maria-Elisabeth Straub, Regie: Maria Neocleous-Deutschmann, 09/1990.
[2] Vgl. hier und im Folgenden: Lindenstraße: Folgen 248-256, Buch: Maria-Elisabeth Straub, Regie: Maria Neocleous-Deutschmann, 1990. S. dazu auch: Loewy, Hanno: Lindenstraße. Eine Erledigung. In: Heikaus, Ulrike (Hg.): Das war spitze! Jüdisches in der deutschen Fernsehunterhaltung. München 2011.
[3] Vgl. Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin 1998, S. 143-178, S. 143; Schoenberner, Gerhard: Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945. Gütersloh 1987 [1960].
[4] Montell, Jessica: Am Ziel vorbei, IPG-Journal, 24.09.2024, https://www.ipg-journal.de/regionen/naher-osten/artikel/am-ziel-vorbei-1-7795/ [25.09.2024]. Weitere Kritik am Entwurf s. Bartal, Yossi: Die Wiederkehr des »Schutzjuden«, nd-aktuell.de, 15.09.2024, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185261.antisemitismus-die-wiederkehr-des-schutzjuden.html [13.10.2024].
[5] ENTWURF der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP,
https://fragdenstaat.de/dokumente/249679-antrag-entwurf-der-fraktionen-der-spd-cdu-csu-buendnis-90-die-gruenen-und-fdp/ [10.10.2024].
[6] Zur Erinnerungspolitik aus nicht-dominanzdeutscher Perspektive s. exemplarisch: Özyürek, Esra: Subcontractors of Guilt: Holocaust Memory and Muslim Belonging in Postwar Germany. Stanford 2023; Czollek, Max: Versöhnungstheater. München 2023; Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg 1996.
[7] Vgl. Marwecki, Daniel: Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson. Göttingen 2024, S. 143.
[8] Vgl. Ebd., S. 192.
[9] Vgl. Michaels, Ralf: #Staatsräson. Zum Gebrauch des Begriffs nach dem 7. Oktober, Geschichte der Gegenwart, 22.11.2023, https://geschichtedergegenwart.ch/staatsraeson-zum-gebrauch-des-begriffs-nach-dem-7-oktober/ [24.09.2024].
[10] S. dazu exemplarisch Daub, Adrian: Psychozionism, N+1, 03.07.2024, https://www.nplusonemag.com/online-only/online-only/psychozionism/ [25.09.2024]; Rübner Hansen, Bue: The New German Chauvinism - Part I, Lefteast, 19.03.2024, https://lefteast.org/the-new-german-chauvinism-part-i/ [16.09.2024]; Ders.: The New German Chauvinism - Part II, Lefteast, 16.04.2024, https://lefteast.org/the-new-german-chauvinism-part-ii/ [16.09.2024]; Teixera Pinto, Ana: Shrinking Horizons: The German Struggle against Universalism, Third Text, 26.07.2024, http://www.thirdtext.org/thinkinggaza-teixeirapinto-shrinkinghorizons [07.10.2024]; Donatella della Porta: Moral Panic and Repression: the contentious politics of anti-Semitism in Germany, Partecipazione e Conflitto, 17(2) 2024, http://siba-ese.unisalento.it/index.php/paco [07.10.2024], S. 276-349.
[11] Thompson, Vanessa E./Tuzcu, Pinar: Intervention – Policing Palestine Solidarity: Moral Urban Panics and Authoritarian Specters in Germany, Antipode Online, 15.05.2024, https://antipodeonline.org/2024/05/15/policing-palestine-solidarity/ [07.10.2024].
[12] Strick, Simon: Wunschmaschine Staatsräson. Pt.1, Substack, 30.03.2024, https://dieausnahmeunddieregel.substack.com/p/wunschmaschine-staatsrason [23.08.2024]; Ders.: Wunschmaschine Staatsräson. Pt. 2, Substack, 29.04.2024, https://dieausnahmeunddieregel.substack.com/p/wunschmaschine-staatsrason-staatsrason [25.09.2024]. Ähnlich argumentierte bereits vor Oktober 2023 die Redaktion Jewish Currents: Bad Memory, Jewish Currents, 05.07.2023, https://jewishcurrents.org/bad-memory-deutsch [24.09.2024].
[13] Kämpf, Katrin M.: German Pedophilia Discourse and its Authoritarian Populist Instrumentalizations. In: Kühl, Richard/Link, Daniela/Heiberger, Lisa: Sexualitäten und Geschlechter. Historische Perspektiven im Wandel. Bielefeld 2024.
[14] Zum Begriff der Gojnormativität vgl. Coffey, Judith/Laumann, Vivien: Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen. Berlin 2021.
[15] Younes, Anna-Esther: Fighting Anti-Semitism in Contemporary Germany. Islamophobia Studies, 5(2) (Fall 2020), S. 249-266.
[16] Bush, George W.: PROMOTING COMPASSIONATE CONSERVATISM, PARKSIDE HALL, SAN JOSE, CALIFORNIA APRIL 30, 2002. In: Selected Speeches of President George W. Bush, 2001-2008, S. 115-124, S. 117.
[17] Vgl. Krasmann, Susanne: Die Regierung der Sicherheit – Über das Mögliche und das Fiktive, Foucaultblog, 12 (2013). www.fsw.uzh.ch/foucaultblog/blog/30/die-regierung-der-sicherheit-ueber-das-moegliche-und-das-fiktive [8.1.2014]; Grusin, Richard: Premediation: Affect and Mediality After 9/11. New York 2010; Weber, Jutta/Kämpf, Katrin M.: Technosecurity Cultures: Introduction. Science as Culture, 29(1) (2020), S. 1-10.
[18] Kosofsky Sedgwick, Eve: Paranoid Reading and Reparative Reading; Or, you’re so Paranoid, you probably think this introduction is about you. In: Dies. (Hg.): Novel Gazing: Queer Readings in Fiction. Durham 1997, S. 1-37.
[19] Ebd., S. 7.
[20] Ebd., S. 8, S. 15, S. 17f., S. 22.
[21] Ebd., S. 1-3, S. 10.
[22] Gegenläufige, aber verwandte Lektüren israelischer Handlungen finden sich schon seit Langem in gojnormativer deutscher Alltagskultur, wie das Beispiel aus der Lindenstraße zeigt.
[23] Neben der ›Zeitenwende‹ der Remilitarisierung Deutschlands in Folge des Ukrainekrieges wie in Scholz, Olaf: Regierungserklärung. 27.02.2022, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356 [12.10.2024], wird das Motiv neuerdings auch für Innenpolitik nach dem 07. Oktober verwendet: Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: Die Zeitenwende in der Innenpolitik umsetzen, 05.09.2024, https://www.gruene-bundestag.de/themen/innenpolitik/die-zeitenwende-in-der-innenpolitik-umsetzen [12.10.2024]; Scholz selbst spricht von der »größten Wende im Umgang mit Migration«, die er zustande gebracht habe: Berlin direkt – Sommerinterview, 08.09.2024, https://www.zdf.de/uri/9e85fd2b-f156-4edd-927a-f230b4e0b0fe [12.10.2024], Min. 14:00.
[24] Kosofsky Sedgwick, Eve: Paranoid Reading and Reparative Reading; Or, you’re so Paranoid, you probably think this introduction is about you. In: Dies. (Hg.): Novel Gazing: Queer Readings in Fiction. Durham 1997, S. 1-37, S. 18.
[25] Zu rechter Ereignisproduktion vgl. Strick, Simon: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Bielefeld 2021, S. 167f.
[26] Thematisierungen von Ängsten und Auseinandersetzungen mit ihrer Instrumentalisierung nach dem 07. Oktober 2023 finden sich beispielsweise bei: Waldman, Ofer/Salzmann, Sasha Marianna: Gleichzeit. Briefe zwischen Israel und Europa. Berlin 2024; Dotan-Dreyfuß, Tomer: In Deutschland ist das jüdische politische Denken geregelt, AK, 09.10.2024, https://www.akweb.de/bewegung/antisemitismus-staatsraeson-judentum-in-deutschland-ist-das-juedische-politische-denken-geregelt/ [09.10.2024]; Alfandari, Julia Yael: Gleichzeitigkeiten, AK, 06.10.2024, https://www.akweb.de/bewegung/gleichzeitigkeiten-antisemitismus-rassismus-krieg-israel-palastina/ [07.10.2024]; Hoare, Liam: ›We Don’t Feel at Home in Germany Anymore‹: How October 7 and Gaza Changed Jewish Life in Berlin, Haaretz, 10.10.2024, https://archive.is/KFuBW [10.10.2024]. Und den in mancher Hinsicht anderen französischen Diskurs betreffend, aber in Bezug auf Angst und (Selbst)Zuschreibungen von Paranoia relevant: Herz, Alicia: Mon ami, je t’écris cette lettre, Daï ! Nouvelle Revue Juive, 26.06.2024, https://www.dai-la-revue.fr/articles/lettre-mon-ami [05.10.2024]; Herz, Alicia: Ma paranoïa juive, Daï ! Nouvelle Revue Juive, 04.09.2024, https://www.dai-la-revue.fr/articles/202409/paranoia-juive [05.10.2024].
[27] Zain, Osama: Deutsche Realitäten, AK, 21.05.2024, https://www.akweb.de/politik/deutsche-realitaeten-die-palaestinensische-gemeinschaft-ist-heterogen-die-stigmatisierung-trifft-alle/ [12.10.2024]; Hill, Molly: »A lot of Palestinians here have the feeling of being invisible« – Interview with Anna Younes, The Left Berlin, 20.04.2024, https://www.theleftberlin.com/a-lot-of-palestinians-here-have-the-feeling-of-being-invisible/ [07.10.2024]; Günther, Inge: Palestinians in Germany since 7 October: ›This is no longer my country‹, Qantara.de, 02.10.2024, https://qantara.de/en/artikel/This-is-no-longer-my-country [12.10.2024]; El-Khatib, Jules: Ist palästinensisches Leben weniger wert?, JACOBIN, 09.10.2024, https://jacobin.de/artikel/nahost-palaestina-israel-gaza-7-oktober [12.10.2024].
[28] Sa’Ed Atshan und Katharina Galor haben diese Berliner Verbindungen als »Moral Triangle« analysiert: The Moral Triangle: Germans, Israelis, Palestinians. Durham/London 2020.
[29] Kosofsky Sedgwick, Eve: Paranoid Reading and Reparative Reading; Or, you’re so Paranoid, you probably think this introduction is about you. In: Dies. (Hg.): Novel Gazing: Queer Readings in Fiction. Durham 1997, S. 1-37, S. 24f.
[30] Ebd., S. 7, S. 17.
[31] Haraway, Donna: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Bauer, Susanne/Heinemann, Torsten/Lemke, Thomas (Hg.): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Berlin 2017 S. 369-403, S. 394.
[32] Zum Begriff der Ambiguitätstoleranz vgl. Quindeau, Ilka: Ambiguitätstoleranz: Wie wir über Antisemitismus reden, Deutschlandfunk Nova, 14.08.2024, https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/ambiguitaetstoleranz-wie-wir-ueber-antisemitismus-reden [10.10.2024]. Eine Gruppe, die nach ähnlichen Prinzipien arbeitet sind Palestinians and Jews for Peace: https://palestiniansandjewsforpeace.wordpress.com/ [09.10.2024].