05 2016
„Randalierer“: Die Anklage zum Kippen bringen
Übersetzt von Birgit Mennel
Seit zwei Monaten schafft es die Regierung nicht, einer Bewegung beizukommen, von der sie nichts versteht. Nachdem sie die Anti-Randalierer-Rhetorik ausgeschöpft hat, hat sie sich seit voriger Woche für eine neue Strategie entschieden, um zu vernichten, was sich ihr widersetzt. Diese Strategie besteht darin, auf Anraten der Geheimdienste „organisierte Gruppen“ zu isolieren, die polizeilich als „kriminellen Vereinigungen“ konstituiert werden und diesen dann Aktionen vorzuwerfen, deren Schwere übertrieben wird, um auf diese Weise sowohl die Bevölkerung als auch die Kämpfenden zu lähmen. So wurde etwa am Donnerstag, den 19. Mai in Rennes die Verhaftung einer Gruppe von 20 „Randalierern“ verkündet, „radikalisierte“ Jugendlichen, die zur „anarcho-autonomen Bewegung“ gehören, eine „kriminelle Vereinigung“, die im Begriff war, die U-Bahn der Stadt zu „sabotieren“. Nach Erkundigungen stellt sich heraus, dass es sich bei der fraglichen Sabotage um eine ökonomische Blockadeaktion handelte, die auf der berufsübergreifenden Hauptversammlung beschlossen und gemeinsam mit der CGT-Route, dem für den Transport zuständigen Bereich des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes durchgeführt wurde, wobei letzterer die Hauptachsen im Umkreis der Stadt blockierte. Die „kriminelle Vereinigung“ traf sich in den Räumlichkeiten von Sud-Solidaires und schickte sich an, Sticker auf Ticketentwerter zu kleben, wobei die Extremistischsten unter ihnen diese mit Füllschaum füllten.
Dieses Manöver gleicht dem, was am 18. Mai in Paris geschah, nachdem Demonstrant_innen einen Streifenwagen der Polizei angegriffen hatten. Während die Polizeigewerkschaft Alliance den Place de la République privatisierte und „Selfies“ mit Marion Maréchal-Le Pen, der Enkeltochter von Jean-Marie Le Pen, Eric Ciotti, einem Rechtspolitiker und Gilbert Collard, ein Mitglied der Front National, machte, bezwang eine wilde mit Tränengas zurückgedrängte Gegendemonstration die Straßen von Paris. Danach musste ein im Verkehr gefangener Polizeiwagen ein Konzentrat dieses Zorns einstecken, den man seit zwei Monaten auf jeder Demonstration ausbrechen sieht. Dass die friedfertigsten Demonstrant_innen nur wegen der Gewaltbereitschaft die Slogans „Alle verachten die Polizei“, „Selbst die Polizei mag ihre Arbeit nicht“, „Was die Polizei macht, sticht ins Auge“ angestimmt hat, sollte zumindest hinterfragt werden. Nach dem Brand des Autos eröffnete die Regierung ein Gegenfeuer, indem sie den Vorfall zum „versuchten Totschlag“ aufbauschte. Diesbezüglich wird im richtigen Moment verschleiert, dass der Polizist bei Anblick der ersten Demonstrant_innen seine Dienstwaffe zückte, um diese zurückzudrängen, und dass dieselben Demonstrant_innen der Polizistin geholfen haben, aus dem Auto zu klettern; das Plastikstück, gegen das sich der Polizist zur Wehr setzt, wird in eine „Eisenstange“ verwandelt, die Demonstrant_innen in eine „kriminelle Vereinigung“, und man begibt sich auf die Suche nach Schuldigen, die von den Geheimdiensten unter den Aktivist_innen der Antifaschistischen Aktion Paris-Banlieue (AFA) im Vorhinein ausgewählt worden waren, und denen man seit gut einer Woche die Teilnahme an Demonstrationen untersagen will. Diese groteske Konstruktion wird von allen Medien unisono aufgegriffen. Wen kümmert’s, dass der Innenminister nach zwei Tagen Polizeigewahrsam auf den Seiten von Le Monde selbst einräumt, dass es in diesem Fall kein einziges Element gibt, das es erlauben würde, die vier Aktivist_innen mit dem Brand des Fahrzeugs in Verbindung zu bringen.
Jetzt versteht man umso besser den Sinn der Erklärung von Manuel Valls, dem französischen Premierminister, im Senat am Dienstag, den 17. Mai: „Diese Black Blocks, diese Freunde von Herrn Coupat [einem der Gründer der Zeitschrift Tiqqun], all diese Organisationen, die die Demokratie eigentlich nicht wollen, die sie bekämpfen, die ihre Prinzipien bekämpfen, werden auf die größte Entschlossenheit von Staat, Polizei und Justiz treffen.“ In Rennes wie in Paris wurde also ein Manöver vorbereitet, das jenem glich, was Michèle Alliot-Marie und Alain Bauer damals mit dem Anti-Terror-Angriff von Tarnac versucht hatten: Auf Anraten der Geheimdienste auf eine Gruppe von zu eliminierenden Gegnern zielen, ihnen unwahre Taten zur Last legen, auf dieser Grundlage eine „kriminelle Vereinigung“ zu konstruieren und auf das durch die Medien bestimmte Mitläufertum und die entsprechende Feigheit zu setzen, um damit die Schuldzuweisung in der öffentlichen Meinung zu verankern.
Wenn dieses Manöver damals jämmerlich scheiterte, dann weil die zahlreich waren, die hinter dem Polizei- und Regierungsdiskurs eine politische Aktion witterten. Derzeit sind reihenweise „Tarnac-Affairen“ in Vorbereitung. Darum rufen wir dazu auf, die Anklagen von Rennes oder Paris zu unterstützen, ebenso wie die angeklagten Schüler_innen, Studierenden und Demonstrant_innen, die ihre Vorführung vor der Strafrichter_in manchmal in Untersuchungshaft abwarten. Wir rufen dazu auf, jeden Versuch ihrer Isolierung und Instrumentalisierung zu vereiteln und für die Einstellung der verrückten Anklagepunkte zu kämpfen, die sie belasten: kurz, die Anklage zum Kippen zu bringen.
Für die Liste der Erstunterzeichner_innen siehe die Website der Tageszeitung Libération: http://www.liberation.fr/debats/2016/05/26/casseurs-renverser-l-accusation_1455373.