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08 2020

Zwischen zwei gleichen Rechten entscheidet die Gewalt

Raúl Sánchez Cedillo

Übersetzung: Birgit Mennel

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Einleitung

In diesen Wochen verdeutlicht sich die politische Misere der Coronavirus-Pandemie nicht nur im Königreich Spanien, sondern in Europa und im atlantischen System. Was wahrscheinlich war, bestätigt sich: Die Eliten nutzen die diversen Alarmzustände und Eindämmungsmaßnahmen durch einen Rückgriff auf höhere Gewalt, um ihre Agenden einer extraktiven Kapitalakkumulation durchzusetzen, sich demokratischer Gegenmächte zu entledigen und neue Maßnahmen zur Einschränkung von Protest und zur Ausübung „souveräner“ Biomacht einzuführen. Dies sowohl gegenüber denen, die ihren Lohn zu behalten versuchen, indem sie zur Arbeit zurückkehren und so die eigene Gesundheit und die der anderen gefährden, als auch gegenüber denen, die während der Pandemie keinen Zugang zu Lohn- oder Arbeitseinkommen haben. Am 26. März 2020 einigte sich der erste virtuelle G20-Gipfel auf eine Investition von fünf Milliarden US-Dollar in die Weltwirtschaft. Dabei fehlte es nicht am gebetsmühlenhaft wiederholten „whatever it takes to overcome the pandemic“. Während wir noch auf seine Konkretisierungen in der Finanz- und Steuerpolitik warten, sehen wir, wie sich am Horizont eine neue ursprüngliche kapitalistische Akkumulation abzeichnet, ein brutaler Extraktionsprozess von Wert und Macht im Zeitalter ökosystemischer Unsicherheit. Währenddessen spitzt sich nicht so sehr der Handelskrieg zwischen den USA und China zu, vielmehr entbrennt ein hegemonischer Disput, der Ähnlichkeiten damit hat, was die chinesischen Generäle Qiao Liang und Wang Xiangsui schon 1999 als „uneingeschränkten Krieg“ bezeichneten und Qiao Ling anlässlich seiner Aktualisierung 2016 zusammenfasste als „Einsatz aller Mittel, militärischer und nichtmilitärischer, tödlicher und nicht-tödlicher Art, um den Feind zu zwingen,  die eigenen Interessen zu akzeptieren“. In den Sitzungen des Nationalen Volkskongresses spricht Außenminister Wang Yi davon, dass „sich amerikanische politische Kräfte der amerikanisch-chinesischen Beziehungen bemächtigen“. In diesem grenzenlosen Krieg verliert der europäische Frankenstein alles oder er riskiert, sich für die Konstruktion einer neuen kapitalistischen Kreatur in Teile zerstückelt zu sehen.

Hier wie dort heißt das, an der Situation zu profitieren. Doch an ihr zu profitieren hat nichts damit zu tun, die Situation selbst geschaffen zu haben, was bedeuten würde, dass das, was wir leben, die Ausgeburt einer Verschwörung wäre. In diesen für alle unsicheren Zeiten gibt es nichts Schädlicheres als einen paranoiden Zusammenbruch unserer Wahrnehmung dessen, was passiert und seiner Konsequenzen, unter anderem deswegen, weil uns dies die Ambivalenzen der Situation und die Schwachstellen der neoliberalen Vorherrschaft in dieser x-ten, aber beispiellosen kapitalistischen Krise verkennen lässt. Was passiert, entspricht eindeutig einem Prozess ökosystemischen Chaos, einem Prozess also, dessen Entwicklungen kein Rechenzentrum kurzfristig vorherzusehen vermag. Doch selbst inmitten des ökosystemischen Chaos, wenn grobe Vorhersagen nicht möglich sind, haben vorausschauende Handlungen die Funktion, das Chaos zu lenken und auf die möglichen Handlungen der anderen Akteur_innen einzuwirken. Die Vorhersage ist ein performativer Akt, der aus chaotischen Prozessen die günstigste Wahl zu treffen sucht. Die politische Vorhersage ist sowohl für die Agent_innen des Kapitals wie für die antisystemischen Bewegungen untrennbar mit Glauben verbunden, mit einer partiellen Hypothese, die den Ausgangspunkt bildet. Wir wissen längst, dass uns treffende politische Vorhersagen nicht sagen, was wahr oder falsch ist. Vielmehr helfen sie uns, den Weg zu finden. Sie sagen uns, was wir hören müssen, ohne dass wir die Differenz vergessen, die darin besteht, den Weg zu kennen und ihn zu beschreiten.


Spanien auf demselben Weg

Schauen wir uns einige Beispiele dafür an, wie an der Situation profitiert wird. Im Königreich Spanien protestieren die alten baskischen, katalanischen und spanischen Arbeitgeber_innenverbände sowie ihre reichlich verfügbaren Kommunikationsmedien wegen der Verlängerung der Einschließung ihrer Arbeitskraft, vor allem im Baugewerbe, in der Hotellerie und im Tourismus sowie in geringerem Maß auch in der Industrie. Bald darauf gibt die Regierung Sanchez nach und lockert die Einschließungsmaßnahmen. Was soll’s, dass den IBEX-Unternehmen die Rettung durch Kredite der EZB, der EIB sowie des kürzlich geschaffenen europäischen SURE-Programms garantiert wurde, um ihnen die Kosten für das Ansuchen auf vorübergehende Regelung der Beschäftigung (ERTE) zu zahlen, damit sie weitermachen können. Unterdessen steigt die offizielle Zahl der Personen, die ihre vertraglich gesicherte Arbeit verloren haben, auf fast vier Millionen, und es ist unklar, wann die Talsohle erreicht ist. Die Zahl der Selbstständigen und Scheinselbständigen, die das Ende ihrer Tätigkeit erklärt haben, wird auf eine Million geschätzt. Der Einbruch des spanischen BIP um 5,2 Prozent im ersten Quartal und eine optimistische Schätzung von 9,2 Prozent für das Jahr 2020 ist ein Vorbote der Situation der Erpressung durch Armut, Räumung und Unterernährung, der sich die subalternen Klassen den Forderungen der Arbeitgeber_innen nach „Erholung“ stellen werden müssen. Die Bank von Spanien ist auf sich allein gestellt und kündigt die Notwendigkeit einer x-ten Anpassung an, sobald sich der Sturm gelegt hat. In Madrid, dem am stärksten von der Pandemie betroffenen Gebiet, sind bereits rund 100.000 Personen von Lebensmittelbanken abhängig, die zu einem Gutteil von Nachbarschaftsgruppen und –Verbänden selbst verwaltet werden. Auf das Gegengewicht, das Unidas Podemos in diesem Szenario darstellt, werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen. Aber zumindest lässt sich diesbezüglich sagen, dass UP einen Beitrag leisten kann, um die Konsequenzen für die verletzlichsten und am stärksten ausgebeuteten Personen zu mildern. Allerdings ist dies völlig unzureichend, um dem während und nach der Pandemie vorbereiteten Prozess der ursprünglichen Kapital- und Machtakkumulation eine andere Richtung zu geben.

Nirgends lässt sich der „rationale Kern“ der Arbeitgeber_innenlogik besser herausschälen als bei der Funktionsweise des „Fremdenrechts“: Die absolute Notwendigkeit, die Ernten im spanischen Agrobusiness einzubringen, macht das absolute Primat des Profits über das Leben der Arbeiter_innen deutlich. Dieses Axiom, das seit dreißig Jahren ohne Gegengewicht auf den spanischen Äckern regiert und lokale Apartheidsysteme errichtet hat, kommt wegen der Aufmerksamkeit ans Licht der Öffentlichkeit, die allem gilt, was mit der Pandemie zu tun hat. Das Arbeitsministerium von Yolanda Díaz sieht sich gezwungen, die spärliche Belegschaft der Arbeitsinspektor_innen zu mobilisieren, um die Praktiken der Sklaverei auf den Äckern einzuschränken: Was normal war, erscheint außergewöhnlich. In Italien verdeutlicht die Pandemie die absolute Notwendigkeit einer migrantischen Arbeitskraft in der Landwirtschaft und führt zur Regularisierung von 250.000 Personen, die wie Sklav_innen ohne Papiere arbeiteten, oftmals in Betrieben von Arbeitgeber_innen der Lega Salvini. Die Realität der Migration als ein Problem der Kontrolle und Hierarchisierung der Ausbeutung sowie der Rechte der Arbeitskräfte sind eine weitere nackte Wahrheit des Klassenkampfes, die durch die Pandemie sichtbar wird.


Ein Europa selbstmörderischer Automaten?

In der europäischen Antwort auf die bisher schwerste Krise ihrer Geschichte gab es bis heute viele unbekannte Größen. Nachdem die Regierungen Deutschlands, Österreichs, Finnlands und der Niederlande beim Treffen der Eurogruppe vom 9. April 2020 den Vorschlag von Corona-Bonds (eine erste Form der Mutualisierung der Staatsschulden der Euro-Länder) entschieden blockiert hatten, wurde schließlich eine Einigung erzielt, die hinter einem technokratischen Jargon und einer Suppe aus Abkürzungen von Agenturen und Programmen den europäischen Stabilitätsmechanismus MEDE wieder einführte, ein Strukturanpassungsprogramm, damit die Schuldnerstaaten ihre Sozialausgaben drosseln, um so ihre Schuldenfälligkeiten tilgen zu können. Anders gesagt wird die griechische Behandlung angewandt, die wir, sollte sie sich durchsetzen, letztlich italienische oder spanische nennen können. Der einzige Vorbehalt (der von der großen europäischen Austeritätskoalition, zu der sich vier Fünftel der Regierung Sanchez mit Nadia Calviño an der Spitze bekennen, dieses Mal als Vereinbarung verkauft wurde,) besteht darin, dass ihnen ein falsches und kurzes Jubeljahr zugestanden wird und der für Gesundheitsausgaben, zur Rettung von Unternehmen oder zur Finanzierung der ERTEs verwendete Kredit nicht als Schulden verbucht wird. Doch das gilt nur während der besonderen Zeit des Kampfes gegen die Pandemie, der noch gar nicht aufgenommen wurde. Danach wären die Finanzierungsbedingungen jene der alten Troika, und die um Sozialausgaben gelegte Schlinge würde zugezurrt, bis kaum noch Spielraum bleibt.

Damit bestätigt sich, dass das Blindekuh-Spiel für die stärksten Regierungen der Eurogruppe noch immer funktioniert, für die mit den gesündesten Finanzen, die Gläubiger, die Gewinner der europäischen Staatsschuldenkrise 2010–12, die den Finanzstürmen am besten trotzen können, die vom Bankensystem mit Sicherheit entfesselt werden, um die Staatsschulden der gefährdeten Länder zu vernichten. Wir sprechen davon, dass diese Regierungen sich gegenüber Italien, der drittgrößten Volkswirtschaft im Euro-Raum, und gegenüber Spanien, der viertgrößten, durchgesetzt haben, und dass sie Frankreich, die zweitgrößte Volkswirtschaft zu einem taktischen Rückzug gezwungen haben.

Unterdessen nutzen eben jene Banken und Unternehmen, die von den Regierungen gerettet wurden, als Automatismus oder strategische Kooperation die von der EZB besicherten Darlehen mit Negativzins, um Anlageinstrumente zu entwickeln, mit denen durch Gelegenheitskäufe Kapital extrahiert werden kann. So etwa im Fall von BlackRock, dem im Stile von private equity maskierten Auftragskiller-Unternehmen, das die großen Banken des atlantischen Systems dafür nutzt, „Shock and-Awe“-Geschäfte durchzuführen und auf den Märkten aller möglichen grundlegenden Güter Angst und Schrecken zu verbreiten. Was das Kapital mit Sitz in Spanien angeht, hat BlackRock bereits 4 Prozent von Bankia übernommen und sich damit zur zweitgrößten Aktionärsgruppe gemausert, wenn auch mit großen Abstand zu der vom Staat mittels FROB verwalteten Aktiengruppe. Adam Tooze weist in einem ausgezeichneten Artikel zur Realität der Staatsschuldenmärkte[1] auf Folgendes hin: „[…] Die Anleihenmärkte agierten tatsächlich als Auftragskiller. Sie spielten dabei jedoch nicht unbedingt die Rolle von Wächtern des Markts, die sich in Absprache mit den Behörden wie paramilitärische Todesschwadronen der Plünderung anheimgaben. Die schwache Struktur der kollektiven Steuerdisziplin wurde erweitert um die Bedrohung durch Terror auf den Anleihemärkten.“ Neben den Geierfonds, das heißt anderen von der Bank des atlantischen Systems genutzten Instrumenten (in Madrid kannten wir Blackstone bereits, das 2013 den öffentlichen Wohnbestand in Madrid von der Partido-Popular-Regierung des aufkaufte), ist der Plattformkapitalismus die andere siegreiche Branche, die von der Situation profitiert: Amazon, Facebook und Google sind perfekt darauf vorbereitet, die Nachfrage nach Konsum und Beschäftigung auszunutzen. Sie erweisen sich als sehr ausschlaggebende Kräfte, wenn es um die Orientierungen des postpandemischen Kapitalismus geht. Dank der kriminellen Freiheit innerhalb der EU selbst Steuerparadiese zu schaffen, umgehen sie nicht nur die Zahlung von Steuern, vielmehr verfügen ihre Plattformen über ein schier unerschöpfliches, durch und durch erpressbares und verwundbares Arbeitskräftepotenzial. Gleichzeitig verwandelt die private Akkumulation von Daten über Personen, ihr Verhalten, ihre Mobilität und ihre Beziehungen diese Plattformen in eine künstliche kapitalistische Intelligenz, die in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen und Vorhersagen zu machen (das heißt, auf die möglichen und wahrscheinlichen Entscheidungen anderer einzuwirken).

Nach dem Europäischen Rat vom 23. April 2020, auf dem über Substanz und Form des Wiederaufbauplans oder – für die Gutgläubigeren – über den neuen „Marshallplan“ gesprochen wurde, begannen die Karten mehr Sinn zu machen. Aufmerksamkeit erregte zunächst das nahezu vollständige Schweigen der wichtigsten, vor allem aber der spanischen Kommunikationsmedien in Bezug auf den Rat. Das ist seltsam, denn, wenn von Runden gesprochen werden kann, so schloss diese mit einer erdrückenden Niederlage der italienischen und spanischen Position. Es wird eine lange Verhandlung, was angesichts der Dringlichkeiten bereits ein erster Sieg des Status Quo ist, mit Fristen, in denen die Planposten bestenfalls 2021 verfügbar sein werden.

Doch das Schweigen ist beredt: Nicht von Coronabonds sprechen, nicht vom spanischen Plan gegenseitiger Dauerschuldtitel als Finanzierungsinstrument für den Plan. Damit bleiben nur noch die gängigen Instrumente, Kombinationen aus Subventionen und Krediten aus dem Gemeinschaftshaushalt innerhalb des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU, und in Dimensionen, die immer noch jämmerlich sind im Vergleich zu den Dimensionen der globalen Rezession. Aber es ereignete sich ein Erdbeben von einiger Bedeutung: Das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschied am 5. Mai 2020 im entscheidenden Moment über das Public Sector Purchase Programme (PSPP), das Programm der EZB zum Ankauf öffentlicher Vermögenswerte. Es ist das Hauptinstrument, das den Euro seit 2015 über Wasser gehalten hat, als Konsolidierung der außerordentlichen Maßnahmen zum Ankauf von öffentlichen und Unternehmensvermögenswerten, was neben Mario Draghis „whatever it takes“ die Aussetzung von Zahlungen der Regierung von Mariano Rajoy im Juli 2012 verhinderte. Das Karlsruher Gericht warnt in seiner Entscheidung, die alles nur kein Frontalangriff auf das PSPP ist, vor der mangelnden Verhältnismäßigkeit des Ankaufsprogramms. Es wirft der EZB und der Kommission vor, ihre Befugnisse zu verletzen und ultra vires zu handeln. Mit einiger Arroganz gibt das Gericht Christine Lagarde drei Monate, um die Verhältnismäßigkeit des Ankaufprogramms zu belegen. Die Antwort des EuGH, des Hauptangeklagten bei Amtsmissbrauch, lässt nicht lange auf sich warten und lautet wie folgt: „Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten geschaffene EuGH befugt, festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstößt.“ Die Europäische Kommission kündigt daraufhin ein mögliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof an.

Dies bedeutet eine weitere Verzögerung hinsichtlich der Vorlage eines „Wiederaufbauplans“ seitens der Kommission, die zudem eine Änderung der Wettbewerbsregeln plant, um eine vorübergehende Verstaatlichung von Unternehmen zu ermöglichen. Bis an die Grenzen gehen, warten, wer zuerst aus dem fahrenden Auto springt. Angela Merkel wendet sich am 13. Mai 2020 an den Bundestag. Die Faschist_innen der AfD geben, angespornt durch das Karlsruher Gericht mit seinem jüngsten Urteil zum PSPP, den Ton an bei der Verteidigung der „Ewigkeitsgarantie“ des deutschen Grundgesetzes: „Was sagen Sie zu den Kritikern dieser Entscheidung, die dem Bundesverfassungsgericht eine Spaltung Europas vorwerfen? Spaltet das Bundesverfassungsgericht Europa? Spaltet unser Grundgesetz Europa?“ Merkels Antwort konnte die europäische Öffentlichkeit beruhigen, aber es wäre falsch zu glauben, dass sie auf eine Position der Stärke zurückzuführen ist. Vielmehr ist es eine Position des Widerstands innerhalb der eigenen Partei und innerhalb des politischen und medialen Systems des vereinten Deutschlands. Merkel bekennt sich zum Euro und zur „Solidarität“, wagt es aber nicht, das Ende der „Steuersouveränität“ der kapitalistischen Macht Deutschlands zu fordern: „Meine Aufgabe in diesem Bereich liegt darin, das Urteil zu respektieren. Das Bundesverfassungsgericht hat über Bundestag und Bundesregierung genau das gesagt, was Sie gesagt haben. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wie gesagt: Wir werden in klarer europäischer Ausrichtung dann unseren Beitrag dazu leisten. […]. Aber wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dass ein starker Euro weiterbestehen kann.“

Angesichts dieser Blockade, auf die eine Reaktion der EU dringend notwendig wäre, könnten wir meinen, die europäischen Eliten verhielten sich wie Roboter, unfähig ihre eigene Programmierung zu ändern, wenn sie unsinnige Automatismen wiederholen und im Umgebungslärm die Zeichen des nahen Abgrunds nicht wahrnehmen. Das gilt zweifellos für den Großteil der Finanz- und Bankakteur_innen und im Umfeld hoher Wirtschafts- und Finanzbeamt_innen. In Deutschland scheinen sich in Erwartung einer „v“-förmigen Rezession ordoliberale Thesen durchgesetzt zu haben, weshalb die Aufwärtskurve der Erholung und ihre fiskalischen Auswirkungen nicht mit öffentlichen und privaten Schulden belastet werden soll. Es ist auch normal, dass sich die Annahmen des stärksten Akteurs bei allen Parametern durchsetzen, dessen, der sich eine Spritze von 156 Milliarden Euro gegen die Pandemie leisten und seine sakrosankte „Schuldenbremse“ aussetzen kann, unter anderem weil seine Staatskasse nicht zahlt, um sich zu finanzieren, sondern um für das Platzieren von Anleihen zu kassieren; dessen, der es sich außerdem leisten kann, die Lufthansa mit einer Kapitalspritze von mehr als neun Milliarden Euro zu retten und praktisch zu verstaatlichen. Aber das trifft nicht den Kern der Sache. Vielmehr wird deutlich, dass die materielle und nicht nur die formale Verfassung der gegenwärtigen EU, wie sie durch die Grundverträge definiert wird, die Formierung eines kohärenten und effektiven kapitalistischen Willens verhindert. Unter materieller Verfassung der EU müssen wir den grundlegenden politischen Willen und seine Ziele im europäischen Projekt verstehen, das heißt, die Gemeinschaftsinstitutionen und ihre relative Autonomie, die Mitgliedstaaten, die Banken, die mit ihnen verbundenen Unternehmen sowie ihre strategischen Beziehungen aus Wettbewerb, Zusammenarbeit, Agonismus und gegenseitiger Abhängigkeit.

Wenn das sogenannte „europäische Sozialmodell“ zu Beginn des Projekts der europäischen Gemeinschaften innerhalb einer durch den Vertrag von Jalta geteilten Welt im Kern sowohl durch Antikommunismus wie Antifaschismus definiert wurde, so haben sich die Kräfte der materiellen Verfassung der EU seit ihrer neoliberalen Konsolidierung mit dem Vertrag von Maastricht 1993 verändert: Der einzige solide und dauerhafte Konsens war die Konstituierung eines finanziellen und kommerziellen Großraums[*] mit gemeinsamen Außengrenzen und regionaler Arbeitsteilung, innerhalb derer die inneren Ungleichheiten zwischen den subalternen Klassen der Mitgliedsländer ebenso gebilligt werden, wie die unumstrittene Hegemonie Frankreichs und des vereinigten Deutschlands.

Es brauchte die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, damit der Kräftekonsens der neuen materiellen Verfassung Risse bekommen und – wie der Lauf der Ereignisse seither zu zeigen scheint – an eine absolute Grenze stoßen wird, die nur zwei grundlegende Optionen zulässt: Regression oder Auflösung. Die Kräfte der materiellen Verfassung der EU können den autoritären Neoliberalismus der Visegrad-Gruppe oder die Anständigkeit des Austrofaschismus in den Regierungsformen akzeptieren. Sie können sogar den Brexit und das ausschlaggebende Gewicht der extremen Rechten in den nationalen und europäischen Institutionen akzeptieren. Aber sie können keine Steuerunion akzeptieren, die unumkehrbare Schritte unternimmt hin zu einem föderalen System mit eigenem Gravitationszentrum.

Seit die offizielle Arbeiter_innenbewegung aus der Formierung des nationalen Interesses verschwunden ist, hat keine Elite aus Finanz, Arbeitgeber_innen oder nationaler Bürokratie Interesse am Abbau von Steuer- und Bürger_innenschaftsgrenzen, die es ermöglichen, die Mobilität der Arbeitskraft zu kontrollieren, die Unterschiede bei Einkommen und sozialen Rechten auszubeuten und die Ausübung politischer Rechte auf eine nationale Sphäre zu beschränken. Je weniger das Nationale bei der Regulierung von Kapitalbewegungen ins Gewicht fällt, umso mehr theologische Verehrung erfährt es von neuen Faschismen und rot-braunen Illusionen eines nationalen Sozialismus. Unsere Prognose ist daher wenig vielversprechend: Die gegenwärtige Blockade des „Wiederaufbauplans“ wird sich nur durch einen Riss innerhalb der Governance der EU lösen lassen, was wiederum das durch die neue ursprüngliche Akkumulation von Macht und Kapital in Folge der Coronavirus-Pandemie entfachte Feuer des sozialen und politischen Unbehagens schüren wird.

Die Kritik der europäischen Vernunft darf den dogmatischen Schlummer nicht länger akzeptieren, den banalen Progressismus, der darauf hofft, dass die Epigonen der Gründerväter in letzter Minute zur Rettung des europäischen Projekts auf den Plan treten. Etwas davon machte sich wenige Tage nach dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts bemerkbar, nach der Ankündigung, dass auf gemeinsame Initiative von Deutschland und Frankreich ein mit einer halben Milliarde Euro dotierter Fond geschaffen werden sollte, als Teil des Wiederaufbauplans der Kommission. Einmal mehr: Einheit, Kohäsion, Solidarität, mehr Europa. Und einmal mehr kommt in Merkels Worten vom 20. Mai 2020 die Unmöglichkeit der Vereinbarkeit zwischen der europäischen Solidarität („[…] Europa muss gemeinsam handeln, der Nationalstaat alleine hat keine Zukunft. Und ich sag’s für Deutschland: Deutschland wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es Europa gut geht, das ist vollkommen klar, und zwar im Blick auf Frieden und Freiheit und im Blick auf Wirtschaft und Wohlstand.“) und den nationalen Strukturen einer staatlichen Macht der Klasse zum Ausdruck („Das ist also das Entscheidende: Der Wiederaufbaufond muss auf einer sicheren Rechtsgrundlage stehen und auch die Haushaltsautonomie der jeweiligen nationalen Parlamente widerspiegeln“). In den Spannungen, die Deutschland erschüttern, werden die unlösbaren Widersprüche des neoliberalen Machtgefüges in der EU sichtbar. Um die Unterschiede in der Intensität dieser Krise im Vergleich zur Staatsschuldenkrise von 2010 bis 2015 zu veranschaulichen, ist es aufschlussreich, die Haltung des angesehenen Oberfalken der ordoliberalen deutschen Rechten, Wolfgang Schäuble zu prüfen. Derselbe Schäuble, der – im Gegensatz zur sadistischen Theatralik des damaligen Vorsitzenden der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, den Varoufakis in seinem Buch Die ganze Geschichte – Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment so gut nachgezeichnet hat – kaltblütig die griechische Behandlung anwandte, unterstützte die Pläne Merkels am vergangenen 24. Mai 2020 mit den Worten: „[…] Weitere Kredite an die Mitgliedsländer wären hingegen Steine statt Brot gewesen, denn eine Reihe von ihnen ist jetzt schon hochverschuldet, [sondern] die EU-Kommission soll den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Europa vorantreiben.“ Dagegen wenden sich nicht nur die Regierungen der „sparsamen Vier“ (Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden), die einen auf altmodischen „günstigen Krediten“ basierenden „Alternativplan“ präsentiert haben, aber ohne „Risiken einzugehen“. Vielmehr geht es auch um das Vertrauen des Systems europäischer Finanz- und Unternehmensmacht in die Zukunft der Mutualisierung von Risiken und ihrer Folgen. In jedem Land stehen Privilegien und Hierarchien auf dem Spiel, die die wohlhabenden (sparsamen, besitzenden, gealterten) Mittelschichten mit den Finanz- und Konzernoligarchien verbinden. Hegemoniale Verbindungen, die bis jetzt funktioniert haben, wenn man von den tiefen Krisen dieser Hegemonie in Spanien und in geringerem Maße in Portugal, Griechenland und Italien absieht.


Die neuen Bedingungen von Protest und Antagonismus: Grenzen und Probleme

Ein problematisches Faktum stellt für die Politik auf der Höhe dieser Zeit das Haupthindernis dar. Es lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Vervielfältigung von Konflikten muss mit den Strukturen und Systemen der Governance brechen, um ein neues vielfältiges Subjekt schaffen zu können, das aber einheitlich zu handeln in der Lage ist. Inmitten der objektiven Gewalt von Rezession und ökosystemischem Chaos wirkt der bloße Lauf der Zeit selbst als Erpressung für jeden teilweise isolierten oder sektorisierten Kampf. Stattdessen muss ein System aus vernetzten Gegenmächten aufgebaut werden, um sich vielleicht irgendeine Form von Verhandlung vorstellen zu können, damit gemeinsame Ziele erreichbar werden.

Zurück zum Königreich Spanien: Der Coup der Vereinbarungen der Eurogruppe machte sich in den Handlungen der Regierung Sanchez bemerkbar, die wie auf Befehl mit einem Kurswechsel reagiert hat. Die anfängliche Bipolarität zwischen den beiden Gesichtern der Koalition, dem Sozialen und dem „des Staats“, hat sich eindeutig dem „Staatssinn“ zugeneigt. Diese Koalitionsregierung wird jetzt nur noch durch die inakzeptablen Opportunitätskosten geeint, die ihre Auflösung bedeuten würde. Die komische Oper der neuen „Pakte von Moncloa“ war genau das, ein Entertainment, an das vielleicht nur der Pfarrer Enric Juliana[2] glauben kann. Doch sie dient einzig dazu, Zeit zu gewinnen und dem Aufbau einer Atmosphäre des Putschs seitens Vox und vor allem seitens der Partido Popular entgegenzuwirken, die am meisten von einer Regierungskrise profitieren würden. Dennoch ist für die beiden Hauptpfeiler der Verfassungsordnung der Ausgleich der Opportunitätskosten alles andere als eindeutig. Für den PSOE sind die Modalitäten der Großen Koalition zur Verwaltung der Austeritätsprogramme ein sicherer Weg zum Verlust von Millionen von Stimmen, die zu Unidas Podemos übergehen könnten. So auch beim Partido Popular, der wegen Stimmenthaltungen und Vox verlieren würde und den Resten von Ciudadanos ein weiteres Leben gewährleisten würde. Im Guten wie im Schlechten ist eine Rückkehr zum Zweiparteiensystem, in welcher Form auch immer, eher unwahrscheinlich. Das gilt umso mehr mitten in einer beispiellosen globalen Rezession und mit einer europäischen Antwort, die das Gift der Austerität höchstwahrscheinlich in anderer Gestalt als im vergangenen Zyklus verabreichen wird, aber auch systemische Gewalt mit sich bringt.

Denken wir kurzfristig: Das in den letzten Wochen aufgebaute Szenario ist das einer „wirtschaftlichen Notlage“, die den „Gesundheitsnotstand“ überwiegt und in der das Recht auf Leben und Gesundheit der Reproduktion der Macht der oligarchischen Klasse über die Mittel zur Produktion des Lebens untergeordnet bleibt. Inmitten von Ungewissheit und infotoxischem Klima in Bezug auf den Zeitraum und die Modalitäten einer „Rückkehr zur Normalität“ präsentiert die sogenannte Reaktivierung der Wirtschaft bereits einige allgemeine definierte Parameter: Kontrolle der Dimensionen des sozialen Elends (das ist, Rhetorik beiseite, das Ziel der Mindestrente, Standarte der Vizepräsidentschaft von Pablo Iglesias) im Kontext einer massiven, überwältigenden Arbeitslosigkeit, die im Rahmen der Bedingungen der Eurogruppe kurzfristig unmöglich aufgefangen werden kann; allgemeine Verschlechterung der Lohnniveaus, begleitet von einer noch weiter verschärften Dualisierung des Status von Lohnarbeit und selbstständiger Arbeit.

Das einzige, was sich stabilisiert, ist die fundamentale dreigliedrige hierarchische Struktur zwischen (a) mit dem Staat verbundenen Mittelschichten, das heißt Beamt_innen, öffentlichen Ämtern für Wettbewerbsprüfungen und Führungspositionen in Unternehmen und Banken; (b) Lohnverträgen und Scheinselbstständigkeit, die der aktuellen Arbeitsreform unterliegen, bei der in der Praxis die freie Kündigung weiterhin in Kraft bleibt; und schließlich (c) der Galaxie der informellen Halbsklav_innenarbeit in der Pflege von Personen, in der Hausarbeit sowie in einem wachsenden Bereich der Hotel-, Tourismus-, Transport-, Logistik- und Bauindustrie. Diese Klassifikation ist durch die transversale, aber politisch entscheidende Teilmenge der beitragszahlenden Rentner_innen zu ergänzen. Sie ist eine transversale Teilmenge der hierarchischen Struktur, die aber der staatlichen Erpressung durch Zahlungsfähigkeit und der finanziellen Erpressung durch Austerität besonders ausgesetzt ist. Um es anschaulich auszudrücken: Die Kluft zwischen dem Norden und Süden sowie dem Osten und Westen Europas wird sich nach dieser pandemischen Krise auf Distanzen ausdehnen, die eine Annäherung von Lebensstandard und Wohlstand für ein oder zwei Generationen undenkbar machen. No future.

Unter Bedingungen von Gesellschaften wie denen Südeuropas, die zunehmend überaltern, und mit einem Migrationsexodus der arbeitenden Jugend wird sich die seit 2010 wegen der Austeritätswelle bereits dramatische demographische Situation immer weiter zuspitzen: Die Ausweitung der Arbeitsmöglichkeiten zwischen Nord und Süd lässt eine neue Migrationswelle erwarten, die für das so genannte „leere Spanien“ verheerende Auswirkungen haben wird. Darüber hinaus ist es ein unheilverkündendes Zeichen, was die Hypothese einer unabhängigen Entwicklung Spaniens oder einer internen Abwertung betrifft, die die Peseta zurückholt und auf wettbewerbsfähige Exporte setzt.

Das Problem von Unidas Podemos spiegelt sich in dieser Situation trefflich in der tragikomischen Episode vom 20. Mai 2020 und dem parlamentarischen Pakt zwischen PSOE, UP und EH Bildu für die Aufhebung des bestehenden Arbeitsreformgesetzes – das legitime Erbe der Troika, 2012 von der Regierung Mariano Rajoys in die Welt gesetzt. Nur wenige Stunden nach der Ankündigung des Pakts erklärte die PSOE selbst, der erste Punkt, das heißt die vollständige und sofortige Aufhebung des Gesetzes, werde nicht erfüllt werden, was, wie wir uns erinnern, bedeutete, die wenigen Garantien zu eliminieren, die es im Statut der Arbeitnehmer_innen in Bezug auf Kündigungserleichterungen, extremer Prekarisierung der Verträge und Abschaffung der Tarifverhandlungen noch gab. Die Sprecherin der spanischen und europäischen Finanzoligarchie, die Ministerin Nadia Calviño, sprach klare Worte und erklärte, „[…] es wäre absurd und kontraproduktiv, eine solche Debatte zu eröffnen und gerade jetzt die geringste Rechtsunsicherheit zu erzeugen. Die Steuerzahler_innen zahlen uns, wie ich glaube, dafür, Probleme zu lösen, und nicht dafür, sie zu schaffen.“ Es wird also keine Aufhebung des Gesetzes geben. In dieser Alarmsituation und angesichts einer drohenden sozialen Katastrophe sieht sich Unidas Podemos vor die Alternative gestellt, Pedro Sánchez seine Unterstützung zu entziehen und die Regierung zu verlassen. Dies wäre Auslöser einer politischen Krise, die wegen nicht vorhandener aktiver Kämpfe und Bewegungen in dieser Konjunktur schlimme Folgen zeitigen könnte. Gezeigt hat sich jedenfalls, dass sich die Regel von Profitherrschaft und Klassenmacht selbst angesichts der seit vielen Jahrzehnten schlimmsten sozialen Katastrophe nur unter Androhung der Selbstzerstörung der reformistischen Regierungsmehrheit eindämmen lässt.


Division als Bedingung einer antagonistischen Demokratie

Die Pandemie wurde als Krieg interpretiert und auch als Bedrohung für alle Staatsangehörigen oder für die gesamte Menschheit. Die Pandemie war das Instrument einer erzwungenen Vereinigung der gesamten Bevölkerung um den Staat herum, was insbesondere im Königreich Spanien die Form eines einheitlichen Kommandos angenommen hat. Die öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und ihren Journalist_innen stellen nicht das Eine in Frage, sondern vielmehr, wer die Führung übernehmen soll. Aber weder Gesetzeskraft noch höhere Gewalt können verhindern, dass sich das Eine in Zwei teilt. Wieder einmal sehen wir, dass es in der Politik und der Gesellschaft so etwas wie ein Vakuum nicht gibt: Es gibt nur (für kurze Zeit, für das, was Kairós[3] genannt wird) eine unbestimmte Situation, in der zusammengesetzte Kräfte, Gleichgesinnte und Gegner_innen miteinander konkurrieren und sich jene durchsetzen, denen es gelingt, die Situation zu entscheiden und zu bestimmen, die ein neues Mögliches ausdrücken und seine Konstruktion mit Worten und Taten im Kampf vorwegnehmen, wobei sie den Vorteil haben, die Situation zu ihren Gunsten gewendet zu haben, wo vorher ein politisches Vakuum war. 

Das Eine dieser (De-)Mobilisierung für das Leben (ein Leben, das der  Staat, seine Mäzen_innen und Oligarch_innen als Leben ohne Attribute, als rein biologisches Leben, als Arbeitskraft verstehen) teilt sich in dem Moment in Zwei, in dem die Regierungen, die Gesetzeskraft, in einer ungleichen Gesellschaft gleiches Verhalten verfügen und durchsetzen, in Bevölkerungen, die nicht die gleichen Rechte, die gleichen Mittel, die gleichen Renten und Gehälter, die gleichen Bankkonten, die gleichen Besitztümer haben sowie die gleichen Bedingungen zu sorgen und umsorgt zu werden. Nichts fürchten sie mehr, als dass das Eine sich in Zwei teilt. Deshalb geht es vorrangig darum, das unterdrückende und lähmende Eine durchzusetzen, dessen Widerpart die Panik und der lauernde Tod ist; das militarisierte Eine der Kriegsrhetorik; das scheinheilige Eine der Nation und des Heimatlands; das faschistische Eine der Herdenimmunität angesichts der fremden Bedrohung.

Wenn wir den Kern der Putschpropaganda der spanischen, europäischen und globalen extremen Rechten ausklammern, die ein national homogenes Eines, einen einzigen Immunkörper der Nation präsentiert, der von obskuren Individuen im Dienste einer globalistischen, kommunistischen, jüdisch-freimaurerischen, muslimischen Verschwörung verraten wird, müssen wir uns folgendem Problem stellen: Es braucht eine Zwei, damit sich das totalitäre Eine der Macht der Klasse und des staatlichen Autoritarismus spaltet angesichts der Vielfalt der Arbeitskräfte und ihrer Fähigkeit zum Aufbau einer gemeinsamen Demokratie während und nach der Pandemiekrise. 

Es braucht die Zwei, denn die Zwei ist die Bedingung der Differenz, die Zwei enthält das Mannigfaltige auf seiner antagonistischen Seite. Die Zwei, aber nur als Gegensatz zum Einen, beinhaltet neben Mannigfaltigkeiten auch Antagonismen. In den Bedingungen, in denen wir uns befinden, reicht es nicht, eine Vielheit von Differenzen und Forderungen gegenüber dem Einen des einzigen Befehls der (De-)Mobilisierung für das Leben zu präsentieren. Wir werden sehen, warum: In einer (De-)Mobilisierung für das Leben wie der, unter der wir leiden, werden die Differenzen und Forderungen der betroffenen Sektoren als logistische Informationen, als Variable, auf die es einzuwirken gilt, oder als Anomalien und Störungen betrachtet, die neutralisiert oder zunichtegemacht werden müssen. In der (De-)Mobilisierung für das Leben hat die Governance nicht die Flexibilität, die soziale Forderungen in Zahlen expandierender Märkte und in Unternehmen des „sozialen Markts“ verwandelt. Vielmehr nimmt sie die Form einer Informationsübertragung von oben nach unten an, die es ermöglicht, die Manövrierpläne eines Militärstabs zu modifizieren: Versorgung, Verlagerung von Ressourcen, Diagnose von Unruhe in den Truppen und in der Bevölkerung des Territoriums.

Anders gesagt, gibt es keine Hoffnung, dass es die gegenwärtige Form eines sektorisierten, bürokratisierten, um Aufmerksamkeit und Ressourcen ringenden sozialen Protests überhaupt schaffen kann, auch nur seine eigenen Forderungen zu erfüllen. In Zeiten der Einsparung knapper Steuermittel (durch die politische Entscheidung von Oligarchien der kapitalistischen europäischen Klasse) werden nur Gehorsam und Schweigen, Kompliz_innenschaft und Zusammenarbeit mit dem Staat und den Arbeitgeber_innen belohnt. Nur Formen einer allgemeinen konvergierenden Gegenmobilisierung können die Funktionsweise des einheitlichen staatlichen Kommandos unterbrechen. Der Generalstreik gehört zweifellos dazu, aber ohne Zweck und Autorität (was den Mehrheitsgewerkschaften völlig fehlt) kann der Generalstreik auch ein Rückschritt bedeuten und den Weg zur notwendigen Gegenmobilisierung im Sinne der beiden Antagonisten der subalternen Gesellschaft blockieren. Autorität und konvergierende Ziele eines Klasseninteresses, das sich in den Kämpfen formt, das in den Kämpfen der Zwei Stärke und Klassenzugehörigkeit aufbaut.

Wenn wir uns die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts in Erinnerung rufen, ist die konvergierende Form der Massen eine andere grundlegende Figur. Immer, wenn wir sie in ihrem vorrangigen Sinn vernehmen, das heißt, nicht als Zahl gewerkschaftlicher Koordinator_innen des ganzen Lebens, sondern als Zahl einer Institution von Kampf und Gegenmacht, die von einer demokratischen uns sich versammelnden Form regiert wird und sich aus all den Akteur_innen zusammensetzt, die Beziehungen der Sorge, der Bildung, der Gesundheit etc. entwickeln.

Trotzdem bedeutet das nicht, dass sich das Besondere, das Singuläre dem Allgemeinen unterordnet. Außerdem: Wer verkörpert oder repräsentiert das Allgemeine, dieselben wie immer? Wenn das der Schluss ist, der aus dem Ansatz der antagonistischen Division des Einen der allgemeinen (De-)Mobilisierung in zwei gezogen wird, dann ist das ein Missverständnis. Nein, die Zwei ist nichts ohne die Differenzen in und zwischen den subalternen Klassen. Sie lebt vom Besonderen und von der Singularität, vorausgesetzt diese reagieren auf die Dynamik des gemeinsamen Aufbaus, der Kooperation in den Kämpfen der Zwei und gehen im Spektrum einer allgemeinen Gegenmobilisierung auf, die die aus einer antagonistischen Zwei bestehende destituierende Kraft und die Gegenmacht zum Ausdruck bringt. Es reicht also nicht, die Netzwerke gegenseitiger nachbarschaftlicher Unterstützung in statischer Weise den konvergierenden Massen und Schwärmen eines Streiks für staatliche Mietzuschüsse oder eines Mietstreiks entgegenzustellen; es reicht auch nicht, die Dringlichkeit einer Steuer-, Arbeits- und ethischen Revolution im spanischen Gesundheitswesen in statischer Weise der Ausgestaltung der Kraft eines konvergierenden Schocks entgegenzustellen, die die Gesundheits- und Pharmaunternehmen und ihre Politiker_innen und Journalist_innen besiegt. Wie wird ein solcher Prozess ausgelöst, wie reguliert er sich und wie werden Zeiten und Prioritäten bestimmt? Braucht es ein Zentralkomitee im Generalstreik und in den Zeitplänen der Kämpfe? Diese Fragen scheinen vernünftig, sind jedoch voller Fallen und Sophisterei.

Die Figur der Zwei im Gegensatz zur Eins wird immer noch als Homogenisierung des Mannigfaltigen, als Aufopferung der Differenzen und Asymmetrien der subalternen Klassen, als Assimilation der Minderheiten durch die Mehrheit interpretiert. Hier würde die Dialektik der antagonistischen Zwei, als Tribut an den Sieg in der Geschichte, die Reduktion auf ein symmetrisches Eines der Singularitäten verlangen, aus denen sich die Zwei zusammensetzt. Die industrielle und cis-heterosexuelle Arbeiter_innenklasse, die sachkundigen Beamt_innen und öffentlichen Bediensteten, die vorbereiteten und fortschrittlichen Mittelschichten: Alle Varianten regen eine dominante Figur an, die als Muster und Metrik der inneren Hierarchien und Asymmetrien der Zwei dient (vom symmetrischen Einen zum Einen des Staats). Das ist nicht nur in Bezug auf die Zusammensetzungen nach Klasse, «Rasse» und Geschlecht in Europa ein Fehler, da es diese zentrale Figur nur in Form kolonialer Privilegien und/oder Zugehörigkeit zum organischen Block der staatlichen Mittelschichten gibt. Vielmehr ist es auch ein Fehler, weil es nicht funktioniert, weil die Subalternen in ihren Kämpfen nicht regiert werden wollen, weil die Kämpfe nur aus der Selbstverwaltung und auf der Suche nach Symmetrie funktionieren, wenn die Asymmetrie die Antwort auf koloniale, patriarchale und Klassenprivilegien ist.

In diesem Sinne könnte man sich fragen: Was kommt vorher, die Zwei oder die Mannigfaltigkeiten? Nein, das ist keine gute Frage: Hier sind die „Zwei“ und die „Mannigfaltigkeiten“ die Aspekte, Attribute eines konstitutiven Werdens. Die Zwei ist Ausdruck der antagonistischen Sichtweise auf das Eine der staatlichen Form der (De-)Mobilisierung für das Leben. Und die Mannigfaltigkeiten sind Ausdruck von Unruhe und Agonismen in der bunten Vielheit der subalternen Klassen.

Dennoch ist es notwendig, hier und jetzt, in den Gebieten, die Europa ausmachen, Methoden und Ziele zu finden und zu erproben, die dieses Auftauchen in der gegenwärtigen Situation, inmitten der ökosystemischen Ungewissheit möglich machen –  trotz des Terrors, den die Eliten jedem Versuch entgegenhalten werden, der auf eine emanzipatorische Wende der Situation zielt. Diese Methoden und Ziele müssen in der Lage sein, der Partikularisierung von Angst und Unsicherheit entgegenzuwirken, in der sich rassistische Lösungen ausbreiten und Projekte von Apartheidregimen in Europa legitimieren, als eine neokoloniale und faschistische Neujustierung in der letzten Krise des neoliberalen europäischen Projekts.


Wie wird die pandemische Krise des autoritären Neoliberalismus unregierbar?

Ausgehend von der Hypothese der Division, als Figur der Verdichtung von Widersprüchen und Antagonismen, die synchron (Millionen Menschen ohne Zukunft und Sicherheit, verurteilt zum Tod oder zu einem schlechten Leben in der Hyperausbeutung ihrer Leben) und diachron sind (Intensivierung der Klassenkämpfe in Spanien und Europa seit der Sequenz, die 2011 begann), sollen im Folgenden grundlegende Thesen vorgeschlagen werden, die einen emanzipatorischen Bruch nach sich ziehen oder, anders gesagt, diese x-te Krise unregierbar werden lassen. 

1) Da Europa das politische und produktive Territorium dieser Krise ist (und es sich nicht lohnt, noch mehr Zeit für eine Erklärung zu verschwenden), ist Europa die Bezugseinheit der Kämpfe und Antagonismen der Zwei. So, wie wir Kämpfe und Konflikte anführen und sie auf den „spanischen Staat“ als Ganzes beziehen, sind auch alle lokalen, regionalen und nationalen Kämpfe Kämpfe, die sich im europäischen Diagramm abspielen und auf dieser Ebene von Beziehungen und Wirksamkeit bewertet werden. In diesem Sinne können und müssen die Ziele auf europäischer Ebene erreicht werden. Jede regionale oder nationale „Eroberung“ kann nur als Resultat der nationalistischen Manipulation von Differenzen in den Lebensbereichen der europäischen subalternen Klassen als vorsichtiger erster Schritt gelten, der negative Gegenwirkungen zeitigt. Und auch die Unterschiede in Bezug auf Einkommen und Wohlstand zwischen den autonomen spanischen Gemeinschaften dienen der Spaltung der popularen Klassen im Umfeld Spanisch, Baskisch und Katalanisch sprechender Hegemonien.

In der europäischen Staatsschuldenkrise, die 2010 eingeläutet wurde, zog die Handlungseinheit aus politischen und finanziellen Eliten die Durchsetzung einer Struktur von Nord/Süd sowie Zentrum/Peripherie in der Dynamik des Konflikts zwischen den sozialen Bedürfnissen der einzelnen Mitgliedsstaaten und den Austeritätspolitiken nach sich. Es war die gleiche Einheit, die den institutionellen Prozess der EU nach dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags 2004–2005 auf falsche Weise beendete, woraus sich seinerseits das Husarenstück der Souveränität durch die europäische extreme Rechte entwickelte. Diese Einheit ist heute längst zerbrochen, da keine der Governance-Optionen, die sich während und nach der Pandemie auftun, einen monolithischen Block errichten kann, wie den, der Griechenland 2010–2015 erledigte. Die Geometrie, die sich öffnet, kann regionale Blöcke, transversale Allianzen und Zwischenräume ermöglichen, in denen Initiativen autonomer Kämpfe aus verschiedenen Ländern und Gebieten transeuropäische Gravitationszentren bilden können. Noch wissen wir nicht, wie sich das familiäre Problem zwischen europäischem Neoliberalismus und europäischen rechtsextremen Parteien lösen lässt. Entscheidend ist, dass die Gravitationszentren der Kämpfe intervenieren, noch ehe dieses Problem gelöst wird, noch ehe eine Heilige Allianz nachgebildet wird. Eine einfältige Fortschrittlichkeit könnte uns erzählen, dass es das Gegenteil zu tun gilt: Sich weiterhin mit Mitte-rechts verbünden, um zu verhindern, dass diese durch den immerwährenden Hass auf die Vielheit aka „antikommunistische Panik“ ihr Schicksal mit der extremen Rechten vereint. Aber genau dieses Rezept hat uns bis hierher gebracht.

Die Bedingungen und Folgen der Pandemie müssen uns dazu dienen, nationalistische und souveräne Illusionen auszublenden, das heißt die Idee, dass die kapitalistische Oligarchie selbst in einem einzigen Land besiegt werden und ein Nationalstaat der europäischen Governance die Stirn bieten kann, ohne seine populären Klassen, die nicht organisch mit dem Staat verbunden sind, einen schrecklichen Preis zahlen zu lassen. Gleichzeitig verdeutlicht die Pandemie die Isomorphismen, die Europa von einem Gebiet zum nächsten durchziehen: Überall wird dem Leben, das arbeitet, um sich zu ernähren und fortzupflanzen, das Primat des Profits und der Klassenmacht aufgezwungen. Die Bedingungen einer europäischen Konvergenz von Kämpfen und Initiativen sind gegeben.

2) Die wichtigsten Ziele der Kämpfe sind, ein (individuelles, universelles und bedingungsloses) Grundeinkommen zur Emanzipation zu erreichen und die Arbeit bei gleichem Gehalt zu verteilen; die Sozialisierung des Geldes (früher bekannt als Verstaatlichung des Bankwesens) und die (demokratische, lokale, transeuropäische) gemeinschaftliche Sozialisierung dessen, was wir den Sektor 0 der Produktion oder den gemeinsamen Sektor nennen müssen, das heißt Gesundheit, Wohnen, Bildung, nichtspekulative Landwirtschaft, Energieproduktion, wissenschaftliche Forschung und Telekommunikationsinfrastrukturen sowie die von uns allen produzierten Daten. Es geht darum, (durch das Gesetz der Kraft, das sich in Gesetzeskraft verwandelt hat) ein wachsendes Maß an autonomer Reproduktion der popularen Klassen in Aktivitäten zu garantieren, die nicht mit der Produktion von Krieg und globaler Erwärmung verbunden sind. Diese Garantie kann nicht stabil sein, sie kann sich nicht konstitutionalisieren, sie kann mit einem ermatteten Kapitalismus keinen New Deal entfachen. Aber sie kann zumindest fortbestehen, sich widersetzen – und das ist schon viel. Die Auswirkungen, die ein solcher Prozess von Kämpfen auf die europäische Situation haben kann, unter der Bedingung, dass sie ein Maß an Gleichzeitigkeit, Dichte, Ausdehnung und Koordination erreichen, können nur positiv sein und wären, für sich genommen, ein noch nie da gewesenes Ereignis in der europäischen Geschichte.

Was Michal Kalecki 1943 in „Politische Aspekte der Vollbeschäftigung“[4] mitten im Zweiten Weltkrieg schrieb, ist im Wesentlichen heute immer noch gültig, und was in seinem Text in Bezug auf Vollbeschäftigung oder Konsumsubventionen steht, können wir heute auf das Grundeinkommen zur Emanzipation oder die Verteilung der Arbeit übertragen. Damals wie heute gilt das Axiom, dass die Macht der Klasse über dem Profit steht und dass in der Machtstruktur des globalen Kapitalismus ein Kern von Irrationalität und Faschismus am Werk ist:

[…] man könnte erwarten, dass die Wirtschaftsführer und ihre Experten eher für die Subventionierung des Massenkonsums […] sind als für öffentliche Investitionen; durch die Subventionierung des Konsums sich die Regierung auf keine Art von Unternehmen einlassen. Trotzdem ist es in der Praxis nicht das, was passiert. Vielmehr sind diese Experten viel heftiger gegen Massenkonsum als gegen öffentliche Investitionen. Hier geht es um ein moralisches Prinzip von äußerster Wichtigkeit. Die Grundpfeiler der kapitalistischen Ethik verlangen, dass ‚du dein Brot im Schweiße deines Angesichts verdienst‘ – es sei denn, du verfügst über Eigenmittel.

[D]enn unter einem Regime ständiger Vollbeschäftigung würde die ‚Entlassung‘ aufhören, die Rolle einer Disziplinarmaßnahme zu spielen. Die soziale Stellung des Arbeitgebers würde unterwandert, während das Selbstvertrauen und Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse wachsen würde. […] Aber die Wirtschaftsführer schätzen die ‚Disziplin in den Fabriken‘ und die ‚politische Stabilität‘ mehr als Profite.“

3) Das dynamische System der Gegenmächte, das im Ausdruck des Antagonismus der Zwei geschaffen wird, braucht Institutionen, die mit der Zeit selbsterhaltungsfähig werden, die sich die Steuerung und die Zwecke der Produktion wieder aneignen können und den Übergang zu einer Produktionsweise des Kommunen entscheidend beeinflussen, ausgehend vom „Sektor 0“, dem Sektor, der in einer ökosystemischen Umwelt das Menschliche durch das Menschliche produziert. Welche Rolle kann hier die legislative oder exekutive Handlung im Raum des Nationalen oder auf europäischer Ebene spielen? Diese Frage nach dem Fiasko des erwähnten Versuchs einer Aufhebung der Arbeitsrechtsreform von 2012 zu stellen, erleichtert die Antwort: Sie kann die Rolle übernehmen, das Gesetz der Kraft anzuerkennen, sie kann das Eroberte sanktionieren. Die Natur dieser Krise vertieft, radikalisiert das Problem, das schon im vergangenen Zyklus der Kämpfe gegen die Austerität aufgeworfen wurde: Jede reale Reform hat revolutionären Wert. In der Praxis beginnt ein Prozess radikaler Veränderung mit Reformen, die nicht in einer stabilen Regulierung enden. Vielmehr überwiegt – aufgrund der zutiefst politischen Natur, der Klasse, dieser neuen Rezession – die Unterwerfung, die Demoralisierung, die Affirmation der Macht der Klasse des Kapitals als universelle Mittlerin und Bedingung menschlichen Lebens über jede Stabilisierung durch einen Pakt beziehungsweise Deal.

4) Der Antagonismus der Zwei in der ständigen Gegenmobilisierung kann nicht anders, als die Mittelschichten, die sich um Ziele der Reproduktion der Allianz aus Rendite und Eigentum im Staat herum neu zusammensetzen, in Zwei zu dividieren und politisch zu neutralisieren. Anders gesagt, der Antagonismus der Zwei bringt einen popularen Protagonismus mit sich. Dieser zersetzt die Hegemonie (des Wortes, der Präsenz, der Zwecke, der Führer_innenschaft) der Mittelschicht, die ihr Schicksal dem durch parasitäres Einkommen finanzierten Staat anvertraut, und stürzt sie in eine Krise. Das ist die wichtigste und zweifellos schwierigste Aufgabe bei der Konstruktion der Zwei. Sicherheit gegen Sicherheit, Vertrauen gegen Vertrauen, Glaube gegen Glaube (Kredit). Wir müssen, im spanischen Fall, nur an die fast zehn Millionen Rentner_innen denken, an die Fähigkeit zu Erpressung und Terror, über den der Staat und das Finanzsystem verfügen, an ihre Fähigkeit, den Generationen die Stirn zu bieten und Veränderungen durch Angst vor Hilflosigkeit und Tod zu verhindern.

Wenn es im vergangenen Austeritätszyklus nicht gelang, die Idee zu zerstören, dass „der Reichtum knapp ist“, außer in Durchbrüchen wie dem 15M und nicht für lange Zeit, wird sich diese Idee jetzt durchsetzen, obwohl dieses Jahrzehnt dazu gedient hat, die Konzentration von Kapital und Eigentum auf das Unvorstellbare auszudehnen? Wird der Begriff der Knappheit, des „Es ist nicht genug für alle da“ weiter als ein von den subalternen Klassen verinnerlichter Vorwand dienen, um durch Steuer-, Sozial- und Lohnpolitiken die Wiederherstellung der sexistischen, rassistischen und klassistischen Hierarchien und Spaltungen zu ermöglichen? Der Moment ist gekommen, sich um das zu gruppieren, was in den US-amerikanischen 1960er Jahren als „Cloward-Piven-Strategie“[5] bekannt war. Wenn vom US-amerikanischen New Deal gesprochen wird, werden in der Regel zwei grundlegende Dinge vergessen: Dass er sich nur während des Zweiten Weltkriegs in eine Umverteilung des Reichtums übersetzte, und dass er seit den 1930er Jahren bis zu seinem Niedergang Anfang der 1970er Jahre, die Einheit der Arbeiterklassen nicht nur nicht begründete, sondern die rassistischen und sexistischen hierarchischen Linien in seiner Zusammensetzung aktiv reproduzierte. Dabei blieb der New Deal ein Mittel der Segregation, der Reproduktion von Spaltungen in den Klassenzusammensetzungen entlang patriarchaler Linien und Kolonialität. Mit ihrem Vorschlag treten die Aktivisten Frances Piven und Richard Cloward der kapitalistischen politischen Verwendung von welfare entgegen, indem sie eine andere, politisch emanzipatorische Verwendung vorschlagen: Sättigung des Segregationssystems mit überbordenden Forderungen, mit dem Ziel, wirkliche Universalität, ein universell garantiertes Einkommen zu erzwingen, das die Mauern der Klassentrennung in Einklang mit «Rasse» und Geschlecht niederreißt, das es erlaubt, die systemische Armut zu beenden.

Das ist etwas, was in Netzwerken wie Yo Sí Sanidad Universal[6] im Bereich des universellen Zugangs zur Gesundheitsversorgung bereits praktiziert wird, und was jetzt neuerlich an entscheidender Bedeutung gewinnt. Das gilt für das Mindesteinkommen und alle bestehenden Gesetze zum Existenzminimum, die an Bedingungen geknüpft, nicht ausreichend, nicht individuell sind und Armut als Dispositiv der Segregation und der Angst in den Mittelschichten reproduzieren. Es kann kein individuelles, universelles und bedingungsloses Grundeinkommen geben, wenn es in seiner kapitalistischen Verwendung Spuren von Geschlecht, Klasse, «Rasse» und Nation reproduziert. Oder anders ausgedrückt, ohne die inneren Spaltungen der Klassenzusammensetzungen anzugreifen, das heißt ohne wirkliche und wirksame intersektionale Kämpfe werden wir weder ein Grundeinkommen zur Emanzipation erkämpfen können, noch eine Arbeitsteilung bei gleichen Löhnen erreichen. Die grundlegende Lehre des Ansatzes von Piven und Cloward ist heute immer noch aktuell.

Einige Punkte sind in dieser Situation klar. Wenn die Kämpfe nicht beginnen, wird der autoritäre Schock kommen. Wenn die Kämpfe keine Zwei konstruieren, wird der Krieg zwischen Armen, Rassisierten und Generationen vorherrschen. Wenn wir in Europa keine Gegenmächte instituieren, wird es nicht ausreichen, dass wir uns andere Regierungen ausmalen. Wenn die europäische Zwei sich nicht in ihren unterschiedlichen Zeiten und Singularitäten einstellt, werden wir das 20. Jahrhundert sogar noch mehr vermissen.

Dieses Mal hat es die kapitalistische Äußerung viel schwerer, den psychologischen Terror zu konstruieren, der den „verschuldeten Menschen“ unterdrückt, um die Subalternen dazu zu bringen, die Schuld ihres Wunsches nach Leben zu verinnerlichen. Wir treten in eine Periode ein, in der die höhere Gewalt die wichtigste Stütze der Gesetzeskraft ist. Aber in diesem Antagonismus der Kräfte gilt das, was der Autor des Kapitals geschrieben hat, immer noch: „Hier ergibt sich also eine Antimonie, Recht gegen Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Austausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.“

 

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[1] https://www.socialeurope.eu/time-to-expose-the-powerful-actors-behind-market-discipline

[*] Dt. im Orig.

[2] https://www.lavanguardia.com/politica/20200402/48266443162/pactos-de-la-moncloa.html

[3] https://en.wiktionary.org/wiki/kairos

[4] Michael Kalecki: „Politische Aspekte der Vollbeschäftigung“, in: Ders.: Krise und Prosperität im Kapitalismus, Marburg 1987, S. 235 f.

[5] https://www.thenation.com/article/archive/weight-poor-strategy-end-poverty/

[6] https://yosisanidaduniversal.net/