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01 2002

Schmetterlinge. Zu Esra Ersens Projekt If You Could Speak Swedish

Søren Grammel

languages

Die Schule

Den Ausgangspunkt für das Projekt "Om du kunde tala svenska ..." (If you could speak swedish ...) bildet ein dreimonatiger Aufenthalt Esra Ersens in Stockholm. Um mehr über die Situation an den staatlichen Sprachschulen im Kontext von Schwedens Einwanderungspolitik zu erfahren, schreibt sich Ersen am "Infokomp" ein. Die Schule unterrichtet grundsätzlich nur AsylantInnen bzw. EinwanderInnen. Die "SFI"-Kurse (Svenska för Invandere, übersetzt Schwedisch für Einwanderer) sind allen vorbehalten, deren Gesuch um die Aufnahme in die schwedische Gemeinschaft positiv beantwortet wurde. Für Asylanten, über deren Antrag noch nicht entschieden wurde bzw. denen nur ein begrenzter Aufenthalt genehmigt wird, gibt es andere Kurse. Direkt am Eingang der Schule trennt ein Schild die solchermaßen "unterschiedlich" klassifizierten KursteilnehmerInnen in die auf, für die sich der Kurs lohnen wird, und solche, für die er langfristig keinen Sinn macht, weil sie das Land vielleicht wieder verlassen müssen. In der Mensa treffen sich alle wieder. Fast alle KursteilnehmerInnen, denen Ersen während des Projektes begegnet, wohnen in einem der Vororte im Süden Stockholms. Die Menschen an der Schule teilen eine gemeinsame Erfahrung: Für sie ist das Erlernen der neuen Sprache nicht das Nebenprodukt einer Reisetätigkeit, hinter der sich touristische oder geschäftliche Interessen verbergen. Für ImmigrantInnen steht die Aneignung der neuen Sprache für einen Prozess der Integration in die Koordinaten eines komplett neuen kulturellen Systems. In wenigen Fällen beruht der Prozess auf einer freiwilligen Entscheidung. Zumeist ist er direkt an die Erfahrung des Verlustes von Heimat, Freunden, Familie und Berufstätigkeit gekoppelt. Indem Ersen "Om du kunde tala svenska ..." in einer der kommunalen Sprachschulen entwickelt, lokalisiert sie die Arbeit so direkt in einer Situation mit dem größten Konfliktpotential. Der Konflikt ist nicht auf Schweden allein beschränkt, sondern sollte als ein europäisches Thema gesehen und behandelt werden.


Integration und Produktivität

Im Dezember 1997 stimmte der schwedische "Riksdag" mit wenigen Ausnahmen einem Regierungsvorschlag zu, nach dem Einwanderer nicht als besondere Gruppe eingestuft werden sollen, nur weil sie Einwanderer sind. Demnach sollen alle Menschen, unabhängig von ihrem ethnischen oder kulturellen Hintergrund, die gleichen Rechte und Chancen erhalten, weshalb diese Politik als "Integrationspolitik" und nicht als "Einwanderungspolitik" bezeichnet wird. Es ist unstrittig, dass Arbeitslosigkeit ein die Integration von Immigranten ernstlich behindernder Faktor ist. Zur Bewältigung dieses Problems betonen fast alle politischen Programme der europäischen Einwanderungsländer - so auch Schweden - die Notwendigkeit, die Beschäftigung von Immigranten zu unterstützen, indem ihnen in hinreichendem Maße Sprachunterricht und berufliche Fortbildung gewährt werden. In Schweden wird dieser Vorsatz besonders ernst genommen. 1998 erfolgte die Gründung des Schwedischen Integrationsausschusses (Integrationsverket), einer neuen Behörde mit umfassender Verantwortung für die Integrationspolitik. Ein Resultat dieser Politik ist, dass jede Kommune in Schweden dafür zuständig ist, erwachsenen Einwanderern Bildungsmaßnahmen - namentlich "Schwedisch für Einwanderer" - in schwedischer Sprache anzubieten und Grundwissen über die schwedische Gesellschaft zu vermitteln.

Das umfangreiche Programm an Sprachkursen und Fortbildungsmaßnahmen in Schweden leitet sich zum einen aus seiner Rolle und Geschichte als Einwanderungsland ab, zum anderen verweist es auf eine in Europa verbreitete Programmatik der Produktivität und Effizienz. Diese Orientierung der Politik am modernen Management ist symptomatisch für die politischen Programme der Industrienationen und prägt auch die Ziele und Mechanismen ihrer Einwanderungspolitik. Eine offen fremdenfeindliche und auf Isolation ausgerichtete Politik ist schlicht ineffizient und damit zum Fossil geworden, das - vor allem in den sozialdemokratisch regierten Ländern Europas - durch die sogenannten integrativen Programme abgelöst wurde. Unter den Vorzeichen von Effizienz und Produktivität wird eine Einwanderungsdiskussion möglich, die mit "Menschlichkeit" und ethischen Grundsätzen argumentiert, ohne sich primär aus ihnen abzuleiten.


Woanders was sagen wollen

Das Projekt "Om du kunde tala svenska ..." liegt als Video (23 Minuten) vor, das eigenständig präsentiert werden kann, das aber auch den Prozess des Projektes mitdokumentiert, der in einer der kommunalen Sprachschulen Stockholms ("InfoKomp") im Herbst 2001 stattfand und auf der Zusammenarbeit zwischen Esra Ersen und den TeilnehmerInnen des Kurses basiert. Wie bereits eingangs angemerkt werden in der Schule ausschließlich ImmigrantInnen und AsylantInnen unterrichtet. Die Zusammenarbeit kann als eine Art "Workshop" beschrieben werden. Auf Ersens Anregung hin schreiben die KursteilnehmerInnen auf, was sie auf schwedisch sagen würden, wenn sie die Sprache hinreichend sprechen könnten. Natürlich müssen sie dies in ihren jeweiligen Muttersprachen tun, da ihr Schwedisch nicht weit genug ausgebildet ist. Es gibt keine Vorgaben hinsichtlich des Inhaltes oder der Länge der so entstehenden Texte - nur dass die Aussage eine persönlich empfundene Wichtigkeit hat. Die sehr unterschiedlichen Antworten, teilweise emotional, teilweise eher politisch, manche kurz, manche lang, werden von einer Sprachlehrerin ins Schwedische übersetzt (unter anderem aus dem Chinesischen, Arabischen, Russischen, Spanischen, Bengalischen). Schon an dieser Stelle des Videos wird deutlich, dass der Wunsch nach Integration auf die praktischen Notwendigkeiten einer Politik verweist, die auf weltweite Veränderungen (Schlagwort Globalisierung) und den ihnen folgenden Phänomenen (Schlagwort Migration) zu reagieren hat, die sie selbst ungehemmt vorantreibt. Auch als Resultat dieser Veränderungen sind beispielsweise in Schweden Ende der 90er Jahre 19% der Bevölkerung entweder außerhalb Schwedens geboren oder Kinder von mindestens einem im Ausland geborenen Elternteil (zum Vergleich: in den USA sind es 25%). Die Zahl der Personen, die keine nordische Staatsangehörigkeit besitzen, hat sich in Schweden seit 1980 mehr als verdoppelt. Diese Entwicklung basiert auf der verstärkten Einwanderung nichteuropäischer Flüchtlinge sowie der damit verbundenen Immigration von Verwandten. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind für Einwanderer sehr unterschiedlich und fallen laut Statistiken je nach Herkunft anders aus. Die größten Nachteile haben "nicht-nordische" Staatsbürger; vor allem Immigranten, die keine europäische oder nordamerikanische Staatsangehörigkeit besitzen, haben die größten Schwierigkeiten. Folglich ist auch die Arbeitsmarktsituation der nichtnordischen Staatsbürger in Schweden ein vieldiskutiertes Thema. Es fällt auf, dass die Situation nicht analog zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verläuft. Während die Situation auf dem Arbeitsmarkt in den achtziger Jahren günstig war, hat die Erwerbsquote der nichtnordischen Staatsbürger seit 1980 abgenommen. Während die Beschäftigungsquote von Immigranten Anfang der fünfziger Jahre um ca. 20 Prozentpunkte höher lag als die der Schweden, ist sie Ende der neunziger Jahre um etwa 40 Prozentpunkte niedriger als die schwedischer Staatsbürger. Die Arbeitslosenquote schwedischer Staatsbürger ist seit 1990 von weniger als 2% auf etwa 6% in 1998 angestiegen. Die Arbeitslosenquote nichtnordischer Staatsbürger sprang dagegen im selben Zeitraum von 5% auf 27%. (Quellen: Schwedisches Amt für Statistik)


Svenska för invandrare

Zu den bei ImmigrantInnen in die Arbeitslosigkeit führenden Faktoren wird in Entwicklungsstudien immer wieder die mangelnde Beherrschung der neuen Landessprache genannt. Auch die Kenntnis anderer erforderlicher Sprachen, beruflicher Fertigkeiten und die Vergleichbarkeit von Qualifikationen, kultureller Kompetenz und der Zugang zu sozialen Netzwerken werden als Probleme beschrieben. Häufig wird zudem zwischen dem Sprachniveau von ImmigrantInnen und ihrem grundsätzlichen Bildungsniveau kurzgeschlossen. So wird argumentiert, dass EinwanderInnen aufgrund eines niedrigen Bildungsniveaus und/oder schlechter Schwedischkenntnisse weniger produktiv seien, als nordische StaatsbürgerInnen. Die Sprachfähigkeiten der Gruppe werden zum Hauptargument in der Erklärung eines gesamtgesellschaftlichen Problems. Ob die genannten Argumente zur Erklärung des Integrationsproblems tatsächlich ausreichen, ist fraglich, weil die Nicht-Erwerbstätigkeit von ImmigrantInnen antiproportional zur Einwanderung angestiegen ist (s.o.). Auch hinsichtlich des Bildungsniveaus der bei der staatlichen Arbeitsvermittlung gemeldeten nichtnordischen bzw. schwedischen Staatsbürger greift das Erklärungsmuster vom "unqualifizierten Ausländer" nicht; zwar lag 1998 der Anteil derjenigen, die bei den nichtnordischen Staatsbürgern als höchstes Bildungsniveau die Pflichtschulbildung vorweisen konnten, höher (etwa 40 %) als bei den Schweden (nahezu 30 %). Andererseits besitzt bei den arbeitssuchenden nichtnordischen Staatsbürgern ein größerer Anteil (16 %) eine Ausbildung über Sekundarschulniveau als unter den Schweden (12 %). Auch ist unter nichtnordischen Staatsbürgern eine längere (mindestens dreijährige) Sekundarschulbildung stärker verbreitet, wobei Osteuropäer hier den größten Anteil stellen. Demnach haben Einwanderer aus nichtnordischen Ländern im allgemeinen keinen niedrigeren Bildungsstand als Schweden, auch wenn sie in der Gruppe der Arbeitsuchenden mit maximal der Pflichtschulzeit entsprechendem Bildungsniveau überrepräsentiert sind. (Quellen: Staatlicher Arbeitsmarktausschuss, AMS und Schwedisches Amt für Statistik.)

Aufgrund der skizzierten Erklärungsmuster bekommt das System der Sprachschulen und Fortbildungskurse für AusländerInnen und ImmigrantInnen aber die wichtige Funktion eines "Scharniers" zwischen einer sogenannten gelungenen Einbürgerung bzw. dem nicht gelungenen oder nicht abgeschlossenen Prozess der Einbürgerung bzw. Integration. Fast alle nicht erwerbstätigen Personen nichtnordischer Staatsangehörigkeit stehen in Schweden in irgendeiner Art der weiterführenden (Schul-)Bildung. Das heißt, dass der Alltag der Sprachschule für eine große Gruppe von Menschen direkt mit den Prozessen und Problemen der eigenen Einbürgerung verbunden ist; einem Vorgang, der nicht selten als die erzwungene Assimilierung in ein kulturelles System gesehen wird, das in Widerspruch mit den Werten und Normen der eigenen Lebenswelt steht. Ein Drittel der Personen absolviert Kurse im Rahmen der auf kommunaler Ebene durchgeführten Maßnahme "Schwedisch für Einwanderer" (Svenska för invandrare). Als Richtlinie sind für die Kurse durchschnittlich 525 Stunden angesetzt, doch kann ihre Dauer auch variieren. Weniger als 50% der KursteilnehmerInnen bestehen die Abschlussprüfung innerhalb einer immerhin zweijährigen Studiendauer. Von den Personen, die 1993/94 mit einer Maßnahme begannen, schafften nach durchschnittlich 1,5 Jahren nur 37 % die Abschlussprüfung. Es handelt sich hierbei nicht um ein spezifisch schwedisches Problem: in den Niederlanden, deren Integrationsmodell in ähnlich starker Weise wie Schweden auf Sprachkurse und Fortbildung setzt, bestehen nur 15% der KursteilnehmerInnen die rund 600 Stunden dauernden Sprachkurse. Auch in den Niederlanden - dass ist in der gegenwärtigen Stimmung besonders deutlich zu registrieren - wird die Sprachkompetenz zu einem Hauptargument, das die Anpassungsunwilligkeit von EinwanderInnen belegen soll sowie als Erklärungsmuster für deren Zugangsschwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und der daraus angeblich zwangsläufig folgenden Kriminalität herangezogen wird. Diese Feststellung erhebt Sprache zwar einerseits zu einem wichtigen Instrument für das Leben in einer Kultur, reduziert sie aber zugleich zum scheinbaren Indikator für Integrationswilligkeit oder gar Rechtsbewusstsein. Die Sprache wird oft als Alibi-Erklärung genutzt, wenn der dominanten Gruppe etwas an einem Ausländer nicht gefällt (Geld, Religion, Hautfarbe, Ethnizität, Sexualität etc.) Spricht eine Französin in Berlin nur gebrochen deutsch, finden das alle toll. Verdient der chinesische Einwanderer in New York mit seinem Restaurant sehr viel Geld, wird grade sein gebrochenes Englisch zum Qualitätsgarant authentisch-chinesischer Kochkunst. Dieses Problem spiegelt sich in einer Beobachtung, die Ersen als gebürtige Türkin während ihrer zahlreichen Reisen und Aufenthalte in Europa immer wieder gemacht hat: "Wenn du aus einem europäischen Land kommst und in Europa reist, dann hat die Sprache nicht dieselbe Bedeutung wie wenn du beispielsweise aus Irak, Iran oder Peru kommst. Für die Schweden kann es nett sein, wenn du als Deutsche beim Versuch, Schwedisch zu sprechen, Fehler machst. Dieselbe Toleranz wird einem Iraker nicht gezeigt." Ich gehe in diesem Text davon aus, dass sich hinter dem Sprachargument meist ein zutiefst verwurzelter und zugleich irrationaler Anspruch auf kulturelle Hegemonie verbirgt - der Anspruch des "Einwohners" auf die umfassende kulturelle Anpassung des "Einwanderers".


Übersetzen und richtig betonen

In der zweiten Phase des Projektes, die auf dem Video dokumentiert wird, sieht man die einzelnen KursteilnehmerInnen, wie sie mit der Hilfe der Lehrerin die richtige Aussprache ihrer Texte studieren. Die Stimme der Lehrerin kommt aus dem off. Man sieht immer nur die jeweiligen KursteilnehmerInnen frontal in Richtung der Kamera sprechen. Die Kamera übernimmt so die mögliche Perspektive der Lehrerin. Das so entstandene Video bietet mindestens 2 Ebenen der Betrachtung an; zum einen die Texte, die von den KursteilnehmerInnen gesprochen werden und aus ihrer persönlichen Reaktion auf Esra Ersens Anregung resultieren. Diese Inhalte werden nun zum didaktischen Material. Zum anderen entfaltet das Video eine Ikonografie des Instituts, in dem es die vor laufender Kamera sprechenden Schüler an unterschiedlichen Orten der Schule mit Details der Einrichtung und ihrer Instrumentarien ausstellt. Dabei wird sichtbar, dass kein Aspekt der Institution Sprachschule "zufällig" erscheint, sondern jedes Moment der Einrichtung und Dekoration auch auf die Funktion bzw. Doktrin des Ortes verweist, deren Ziel - die Sprachvermittlung - zugleich auch die Integrationsleistung "Fremder" in eine existierende Gemeinschaft beinhaltet. Im Schnittpunkt zwischen den beiden Ebenen des Videos - zum einen die Äußerungen der KursteilnehmerInnen und zum anderen die Rahmung ihrer Artikulationen durch das Interieur der Schule - wird deutlich, wie die individuellen Perspektiven der KursteilnehmerInnen mit dem sozialen und ideologischen Kontext der Institution in Beziehung treten. Die Überschneidung dieser beiden Ebenen reflektiert Ersen auch in ihren Kamerabewegungen, welche die KursteilnehmerInnen zwar jeweils von einer feststehenden Perspektive aus zeigen, dabei aber durch vor- und zurück-Zoomen kontinuierlich das Verhältnis ändern, in dem die Gesichter und Körper der Sprechenden zum rahmenden (Bild-)Ausschnitt der Institution stehen. Die visuelle Kontextualisierung der Sprechenden durch die Schule wird zum Portrait der Institution, in dem sich das Bild artikuliert, das die Institution von ihren "Benutzern" entwirft und Aufschluss über Konzept und Ideologie der Schule gibt.


Photoshop

Siamak aus dem Iran schwärmt von seiner Ankunft in Schweden: "I saw beautiful forests, rivers and lakes that resembled a beautiful work of art created by a skilful artist, using different colours on a large canvas." Er steht dabei vor einer Luftaufnahme Stockholms, mit Häusern und prachtvoller Hafenbucht. Das Poster betont bewusst die natürlichen Farben des Himmels und des Wassers, während die Fassaden der Häuser im Licht der Sonne glänzen. Die Worte Siamaks scheinen in der Darstellung Stockholms ihre bildliche Entsprechung zu finden. Nicht nur weil die Stadt von ihm sowie von dem Poster gleichermaßen als "schön" dargestellt wird, sondern weil in dem malerischen Vergleich mit einem "work of art" zugleich auch der Aspekt der ästhetischen Konstruktion dieses Stockholmbildes mitschwingt. Der "skilful artist", von dem er als "Schöpfer" redet und dessen Werk er lobt, erscheint vor dem Hintergrund des Posters eher als Designbüro der Stockholmer Fremdenverkehrsbehörde. Absurderweise spiegeln sich die drei Grundfarben des Posters - helles Himmelblau, dunkelblau bis schwarzes Wasser und gelb-bronzene Fassadenfarben - in der Kleidung und Gesichtsfarbe Siamaks wieder. Es scheint, als wenn der Einwanderer die Fähigkeiten eines Chamäleons besitzt, das die Farben der Umgebung angenommen hat, um zum eigenen Schutz weniger aufzufallen. Siamaks Vergleich der Natur mit einer "Leinwand" lässt sich so fast auf ihn selbst übertragen, der den anpassungswilligen Typen des Einwanderers voll zu verkörpern scheint. Der Vergleich erinnert an die Tatsache, dass die europäischen Einwanderungs- oder sogenannten Integrationspolitiken immer auch ein bestimmtes Idealbild vom anpassungswilligen Immigranten entwerfen. Einen negativen Höhepunkt der Diskussion stellt hier der vom deutschen CDU-Politiker Friedrich Merz losgetretene Begriff der "Leitkultur" dar. Dieser Verhaltenskodex für Ausländer soll den Traum vom "Photoshop-Asylanten" Wirklichkeit werden lassen - dieser kann sich dann wie eine "Leinwand" mit den jeweiligen Werten und Normen der Kultur des Einwanderungslandes vollpinseln lassen.

Es hieße sich dem gegenwärtig zunehmend spürbaren, nationalistisch ausgerichteten Selbstbehauptungsdenken in Europa anzuschließen, würde man das Scheitern vieler TeilnehmerInnen der Sprachkurse besonders auf die Lernfähigkeit der ImmigrantInnen zurückführen wollen. Das Thema verlangt eine komplexere Analyse des Phänomens Sprachschule für AusländerInnen, seiner Mechanismen und seiner sowohl machtpolitischen als auch ideologischen Vernetzung mit den staatlichen Institutionen der Einbürgerung. Die Vermittlung von Sprache ist immer auch an die Vermittlung von Kultur geknüpft. Mit ihrem Projekt scheint Ersen dabei aber an der Frage interessiert zu sein, ob sich anhand der Zeichenproduktion der Institution Sprachschule für EinwanderInnen die Formulierung eines "Leitkultur"-Anspruchs erkennen lässt.


Heimisch / Exotisch

Die für AsylantInnen und EinwanderInnen konzipierte, d.h. auch bewusst eingerichtete Schule wird in Ersens Video wie ein Bild lesbar, das beständig eine Dichotomie von "exotisch" und "heimisch" produziert. Mahir Kadifa zum Beispiel beantwortet Ersens Frage mit einer Schilderung der Gründe seiner Flucht aus dem Irak. "When he thought (sought?) to make me one of his tools of oppression I declined. He thought/sought(?) to make out of me a murderer of innocent and unarmed people ... I left my friends and family, and came to Sweden." Während Kadifa mit der Lehrerin die richtige Aussprache des Textes erlernt, sitzt er vor einem bunten Poster mit verschiedenen Obst- und Gemüsesorten. Die weiße Farbe seines Hemdes lässt die satten Farben des kulinarischen Bildes heller leuchten. Der größte Teil des Posters wird von einer aufgeschnittenen Wassermelone ausgefüllt. Die Frucht gilt in nordischen Ländern als exotisch und symbolisiert Fernweh. Das Poster zielt darauf, die exotischen Aspekte der Frucht zu betonen, indem beispielsweise das Rot der Melone strahlender ist, als es bei einer natürlichen Melone je sein könnte. Die Melone trägt Spuren der "Verbesserung" aus Sicht derer, die das Bild produziert haben. Anstatt von "Verbesserung" zu reden, kann man feststellen, dass das Bild von der Melone durch die Gestalter des Posters überzeichnet wurde. Hinzu kommt die klischeehaft dekorative Darstellung im Arrangement des Obst- und Gemüsestillebens. Das strahlende Rot der Melone korrespondiert mit dem kräftigen Rot eines Brandschutzpiktogrammes, das ebenfalls auf der Wand hinter Kadifa aufgebracht ist. Das Piktogramm stellt eine Feuerflamme zugleich als Gefahr sowie als abstraktes Zeichen dar. Ähnlich der stilisierten Flamme wird auch die Abbildung der Melone als Zeichen für "Natur" lesbar, der bereits im Prozess der Abbildung ein Kontrollmoment eingeschrieben worden ist. Die exotisch überzeichnete Melone im Reigen teilweise heimischer Früchte muss sich aus der Situation der ImmigrantInnen heraus als Metapher für einen Domestizierungsanspruch lesen, der sich nicht nur auf das abgebildete Obst, sondern auch auf sie selbst bezieht. Im ganzen Video fällt auf, das die dekorative Bildwelt der Schule fremde Pflanzen oder Tiere immer in stilisierter Form - als Surrogat oder Muster - ausstellt. Rasoul Alilou aus dem Iran sitzt während seiner Sprachübung vor einem Vorhang, der mit gestalterisch überformten Muscheln bedruckt ist. Alilous Statement betrifft sein Verhältnis zu schwedischen MitbürgerInnen, deren Anteilnahme er zugleich positiv hervorhebt, durch die er sich teilweise aber auch marginalisiert fühlt: "... for example, when one says to a Swede (in this case a teacher) that one has a problem, one is met with great empathy. The Swede responds with an emotional sigh even when one says, that for example, one's pen has got broken." Der Text verweist auf unterschiedliche Grade davon, ab wann etwas als Problem empfunden wird. Zugleich spricht aus ihm die Absage an eine Vorstellung von kultureller Interaktion als gut gemeinte Mitleidsfloskel. Es ist unklar, ob die gut-gemeint fremdländischen Formen der Muscheln auf dem Vorhang auf die Herkunft aus fernen Meeren verweisen oder ob es sich bei ihnen um Fantasiegebilde "künstlerischer Freiheit" handelt. Der Vorhang kann aus einem Ikea-Sortiment stammen und mit seiner Exotik zur Verschönerung nordischer Wohnzimmer gedacht sein.


Paradiese

Im Gegensatz zur Stilisierung exotischer Motive sind dagegen nordische Pflanzen oder Tiere immer möglichst natürlich abgebildet. Während Hada Al Dujaily seine Flucht aus dem Irak mit der Vertreibung Adams aus dem Paradies vergleicht, ragen hinter ihm Poster in das Bild, die nordische Waldtiere - u.a. wahrscheinlich einen Luchs - im Schnee zeigen: "Ah, beloved Baghdad ... When I left it i felt like Adam did when he was forced to leave the kingdom of heaven." Die Bilder im Hintergrund zeigen währenddessen Schweden als Paradies; als unzerstörte Naturlandschaft. Insofern markiert das Video auch Konstruktionsmittel in der Darstellung von Heimat, die für Schule und ImmigrantInnen gleichermaßen gelten: die eigene Heimat wird als "Paradies" dargestellt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Poster sowie andere Bildträger gezielt für Institutionen der Einbürgerung - so auch der Schule - entworfen werden, oder ob sie zufällig - zum Beispiel von den LehrerInnen zur Verschönerung der Klassenräume - in die Schule gelangen? Auch dann wäre es falsch, von einem Zufall zu reden, da der Platzierung einer Darstellung immer bewusste oder unbewusste Entscheidungen zugrunde liegen. Vielmehr wird die Fülle unterschiedlicher Darstellungen von Fremde oder von Heimat als Indiz für eine von der Institution über ihre Zeichen beständig artikulierte kulturelle Selbstbehauptung lesbar, der nicht nur daran liegt, über den schwedischen Natur- und Kulturraum zu informieren, sondern diesen vor allem deutlich von anderen Kulturräumen zu separieren, die sie als "exotisch" stilisiert.


Unterrichtsmaterialien

In einer anderen Sequenz füllt ein Familienphoto den Videoframe fast komplett aus. Eine Männerstimme wiederholt mehrmals unter beständiger Korrektur das Wort "Familie". Bei dem Mann handelt es sich wieder um Dujaily, der diesmal nicht selbst vor der Kamera sitzt, sondern während einer Pause das Foto seiner im Irak verbliebenen Familie vor die Kamera hält. Das Problem der richtigen Betonung des Wortes "Familie" macht den Anspruch auf die persönliche Erzählung von der Familie zunichte. Die Kanten eines Schultisches bekommen dabei im Bildausschnitt die Funktion eines fehlenden Bilderrahmens. Die Rahmung des Fotos durch den Schultisch markiert den Vorzeichenwechsel der persönlichen Erzählung in der Schule: die eigene Biografie wird zum Lesebuchstoff und dabei zur phonetischen Übung reduziert. Das Bild ist Teil einer ganzen Reihe kurzer Detailsequenzen, die Ersen in den Pausen zwischen den einzelnen Leseübungen zeigt. Ein anderes Detail zeigt, wie ein schwedischer Text Wort für Wort in arabische Schriftzeichen transkribiert wird. Ähnlich auch die Szene mit einer jungen Frau, die ein bestimmtes Wort im Lexikon nachschlägt und dabei immer wieder in der Zeile verrutscht. Wir sehen den Zeigefinger im Detail zwischen den Einträgen im Lexikon hin und her gleiten. All diese Bilder zeigen das Widerspenstige der Sprachmaterie und die Mühseligkeit des alltäglichen Navigierens in der fremden Sprache. Fast eine Form von Aggression baut sich zwischen dem jungen Afghanen Muhammed Azim und der - auch hier nicht sichtbaren - Sprachlehrerin auf, während er mehrmals ein bestimmtes Wort immer wieder falsch betont und immer wieder zur Wiederholung aufgefordert wird. Seine Ungeduld ist spürbar und angesichts seines Aussageziels auch verständlich: er möchte so leben, dass er für kommende Generationen noch Nützliches leisten kann: "I would like to say that it would be good if we, like other people in other countries, not had any problems. We could have what we wished for in order to be useful for coming generations." Während er sich im Einüben der richtigen Aussprache verliert, bleibt der Inhalt seiner Rede auf der Strecke bzw. büßt - merklich auch für ihn selbst - an Überzeugungskraft ein. Auch hier nutzt Ersen den umgebenden Bildausschnitt zur Kommentarmöglichkeit, in dem sie Azim über eine starke Untersicht in einer beklemmenden Raumsituation zeigt. Das Klassenzimmer wirkt in der Sequenz eng und seine Raumfluchten korrespondieren mit den Koordinaten der im Hintergrund hängenden Skandinavienkarte.


Schmetterlinge

Das im Video erkennbare Problem ist in zweifacher Form auch eines der Übersetzung. Zum einen spiegelt der Aspekt, dass die persönlichen Erzählungen der KursteilnehmerInnen in die schwedische Sprache umgeschrieben werden müssen, den Graben, der zwischen eigener Biografie und dem neuen Lebenskontext besteht. Dies wird deutlich, wenn der übersetzte Text den KursteilnehmerInnen plötzlich fremd erscheint und sich der eigenen Aussprache widersetzt. Zum anderen steht das Übersetzungsproblem bildhaft der Situation der ImmigrantInnen gegenüber: lassen sich Identität und Lebenswelt eines Individuums so einfach in einen neuen kulturellen Kontext "übersetzen"? Kann man woanders unter komplett neuen Vorzeichen weiterleben? Auf die Frage hat Pejman, ein junger Iraner, mit einem Text über den Schmetterling reagiert. Der Schmetterling steht im Iran für die Geduld. Es handelt sich um eine Schilderung, die Freunden und anderen Immigranten außerhalb ihres Heimatlandes Mut machen soll. Um ein Schmetterling zu werden, muss dieser sich als Raupe zunächst verpuppen. Er hat die Fähigkeit, sich zu verändern. Sein Dasein als Raupe macht ihn verletzlich und symbolisiert den Kampf mit dem Leben. Verpuppt muss er die Geduld aufbringen, bevor er ein neues Leben beginnen kann: "Then it becomes a pupa. The pupa is a result of many days of hard work ... In the end, when it has struggled enough, it is transformed through lovely meditation from a creature without arms and legs to a beautiful butterfly with wings to fly with." Pejman trägt seinen Text vor dem Hintergrund eines großen Schmetterlingskunde-Plakats vor. Wie in einem Schaukasten auf Nadeln aufgereiht sind die unterschiedlichen Arten von Schmetterlingen nach einer naturkundlichen Methodik kartographiert. Mittels objektivierender Beschreibung und Klassifizierung stellt das Plakat Sachwissen dar und übersetzt Natur in überschaubare Modelle. Es ist anzunehmen, dass Pejman das Plakat als Hintergrundbild gewählt hat, um seiner persönlichen Gefühlssituation in der Schule einen Ausdruck zu verleihen. Der Schmetterling, der für ihn als Metapher der eigenen Geduld und der Bemühung der ImmigrantInnen um neue Eigenständigkeit steht ("... Now the butterfly is independent"), begegnet ihm in der Schule als naturkundlicher Katalog. Über solche in der Schule vorgefundenen Zusammenhänge zeigt das Video die Institution als einen Ort, der sein Konzept von Wissen und Lehren permanent in Zusammenhang mit Methoden der Kontrolle, der Systematisierung (Darstellbarkeit) sowie der "Verbesserung" bzw. Domestikation stellt. Das Schmetterlingsposter ist auch deswegen problematisch, da Pejmans Metapher vom Schmetterling nicht von ihm selbst erfunden ist; es handelt sich um ein unter EinwanderInnen verbreitetes Dokument - eine seelische Hilfe, die auch den LehrerInnen bekannt sein müsste: "This short story is written for friends who have recently come here. To those who look at life from a hopeless perspective."


Der Gegenstand des Unterrichts

Die palmen- und farnartigen Kübelpflanzen, welche in der Schule zahlreich verteilt wurden und die an Regenwälder und Tropen erinnern, könnten am Computer entworfen sein, so auffällig grün und gepflegt sind alle. Kein braunes Blatt ist zu sehen und keine Form von Ungeziefer würde hier länger seinen Halt finden. Einige der Pflanzen rahmen Adanelh Bertas Textbeitrag, einer jungen Frau aus Äthiopien, die sich äußert: "If you reach up for more, you will drop what you had under your arm". Die Pflanzen bilden wohlplatzierte Surrogate von Natur. Ordentlich in Kübeln gepflanzt und vereinzelt angeordnet, stehen sie für eine bestimmte Art und Weise, wie Natur auch in den Lobbybereichen von Banken oder Versicherungen repräsentiert wird. Auch in dieser Sequenz ließe sich das Verhältnis von Bild und Text interpretieren: so wie jede Pflanze zufrieden mit ihrem Kübel vorlieb nimmt, so wird auch von den EinwanderInnen erwartet, dass sie bescheiden sind und nicht zuviel fordern. Die Form, wie die Institution sich mit Pflanzen aus tropischen Ländern schmückt, trägt auch zu dem sich während des gesamten Videos immer stärker ausprägenden Bild bei, das die Schule ein Ort ist, der neben der Sprachvermittlung das Ziel hat, den KursteilnehmerInnen permanent eine gesellschaftlichen "Rolle" zuzuweisen bzw. ihnen eine dieser Rolle angemessene Verhaltensweise als selbstverständlich nahe zu legen. Dabei definiert die Institution mittels der ihr zur Verfügung stehenden Zeichen die Immigranten zum einen als anders - zum anderen aber als integrierbar bei Anpassung an den gängigen Werte- und Normenkanon im Sinne eines diffusen nationalen Leitkulturbegriffs. Aus allen Gegenständen und Darstellungen der Schuleinrichtung ließe sich daher aus ihrer Perspektive die Idealvorstellung vom "guten Immigranten" herauslesen. Das Video ermöglicht die Fragestellung, ob das Problem der Sprachschulen bzw. des Integrationsgedankens nicht vor allem darin liegt, dass die Individuen nicht als "anders" akzeptiert werden. So wie die Sprache - ob bewusst oder unbewusst - als Alibiventil für ein tiefergehendes kulturelles Unbehagen gegenüber AusländerInnen und ihren kulturellen Werten dient (s.o.), so ist auch der in den Schulen vermittelte Gegenstand - die Sprache - nur vordergründig Gegenstand des Unterrichts. Als eigentlicher Gegenstand erscheint das Ziel, die kulturelle Identität der KursteilnehmerInnen an die Werte des Einwanderungslandes anzugleichen oder so weit als möglich mit diesen kompatibel zu machen. In Anthologie und Ethnologie findet man Beispiele dafür, wie in früheren Entwicklungsstadien der Menschheit die Aufnahme Fremder in den eigenen Gruppenverband oder Stamm als kompliziertes Ritual vollzogen wird. Esra Ersen bietet eine symbolpolitische Perspektive auf die Sprachschule für EinwanderInnen, die sie sowohl als Ort wie auch als Instrument eines solchen Rituals in der heutigen Zeit untersuchbar macht - und damit die Zwiespältigkeit des europäischen Integrationsgedankens vermittelt.

(aus: Moderna Museet Projekt-Katalog "Esra Ersen", Stockholm, 2002)