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10 2000

Der globalisierte Alltag

Maria Mesch

Kann es eigentlich in der heutigen Situation des abgeschotteten Schengen-Europa örtlich beschränkte, zukunftsweisende Projekte für die Förderung des kulturellen und sozialen Zusammenlebens von Personen unterschiedlicher Herkunft geben? Können Initiativen versuchen, lokale Konflikte einzudämmen, ohne die Auswirkungen der Globalisierung auf die Herkunftsländer der Einwanderer zu berücksichtigen? Hat es im Zeitalter der "multiplen Identitäten" eigentlich noch Sinn, Menschen hinsichtlich ihrer geographischen Herkunft zu definieren?

Ohne die Nützlichkeit von zahlreichen Projekten bestreiten zu wollen, die zweifelsohne Menschen in konkrekten aktuellen Notlagen helfen, läuft ein Großteil der in Italien existierenden Initiativen auf zwei Positionen hinaus, die beide kaum als 'zukunftsweisend' eingestuft werden können.

Einerseits der paternalistische karitative Assistenzialismus christlicher Tradition für Bedürftige im Rahmen eines unbewussten oder bewussten Verständnisses der "Zivilisationsbedürftigkeit" anderer Kulturen, der, ohne in einem umfassenderen Sinn Einfluß auf das soziale Gefüge zu nehmen, leicht zu einer Hilfe wird, die im Endeffekt nur den Status Quo erträglich machen will, ohne dessen Ursachen auch nur theoretisch nachzugehen. Und andererseits unterliegen zahlreiche Projekte der unkritischen, oberflächlichen Faszination des Exotischen. AktivistInnen oder im sozialen und kulturellen Bereich Tätige, deren Arbeit von grundlegender Faszination an der Herkunftskultur von MigrantInnen bestimmt wird, vernachlässigen manchmal, dass bestimmte hier errungene gesellschaftliche Freiheiten, bei aller Offenheit gegenüber anderen Kulturen, dennoch beibehalten werden müssten (analog zum Engagement, wie es in der politischen Überzeugungsarbeit gegenüber andersdenkenden MitbürgerInnen gang und gäbe ist) und reduzieren außerdem die Identität der MigrantInnen auf den folkloristischen Aspekt. Die Faszination des Exotischen sozusagen als ein Stückchen Urlaubswelt um die Ecke, mit einer ähnlichen Einstellung wie seinerzeit der des Malers Gauguin in Tahiti.

Wo liegt der Grund für die teilweise Hilflosigkeit im Umgang mit aus anderen Staaten und Kulturen eingewanderten Menschen, im Setzen von Grenzen zwischen der Akzeptanz gegenüber anderen Verhaltensweisen und der bedingungslosen Annahme von Verhaltensmustern, die unsere Errungenschaften bzw. individuellen Freiheiten unterminieren?

Außerhalb von klar umrissenen Projekten ist die Konfrontation mit anderen Kulturen und Identitäten eher selten. Der eigentlicheSchwachpunkt liegt offensichtlich teilweise in der Verletzlichkeit und Instabilität der "eigenen" Position, die konstruktive Überzeugungsarbeit - die mit der Konfrontation einhergehen müsste - schwer macht (was sich sowohl auf die individuelle politische, soziale oder wirtschaftliche Stellung beziehen kann), und größtenteils in dem fehlenden Eingeständnis, dass die eigentliche Ursache der Migrationen heute die unhaltbare Situation der globalen Ungerechtigkeit ist. Und dass der eigentliche Punkt der der Bürgerrechte ist: Warum ist der Geburtsort eines Menschen heute noch von solch determinierender Bedeutung, während das gesamte Wirtschafts- und Finanzsystem nicht mehr an Staatsgrenzen gebunden ist?

Seitens der Linken ist es im Endeffekt wahrscheinlich einfach das verdrängte "schlechte Gewissen" gegenüber einer Realität, in der unser Wohlstand keine nationale Errungenschaft darstellen kann, und in der es unvermeidbar ist, dass Menschen aus anderen Ländern an unserem Wohlstand teilhaben möchten und müssen. Die Situation der Illegalität der MigrantInnen wird wirtschaftlich und sozial ausgenutzt, macht innenpolitische Entscheidungen möglich, die die Solidarität und den Rechtsstaat unterminieren.

In Italien ist der jährlich von MigrantInnen nach Hause überwiesene Geldbetrag insgesamt schon seit einigen Jahren größer als die Summe der gesamten offiziellen staatlichen Entwicklungshilfe und der Ausgaben der von Spenden getragenen Hilfsorganisationen, (wobei insbesondere die staatliche Entwicklungshilfe, dies sei nebenbei bemerkt, meist italienische Unternehmen mit der Durchführung von Projekten im Ausland begünstigt und somit nicht unbedingt direkte positive Auswirkungen auf den Lebensstandard der dortigen Bevölkerung hat). Was aber grundlegendes Konzept sein müsste - jede/r hat das Recht auf Wahl ihrer/seiner Identität, andere Werte anzunehmen, zu leben, wo er/sie möchte, wo und aus welchen Gründen auch immer - ist in der Realität wenigen Nationalitäten vorbehalten, da eben diese Trennung zwischen profitierenden und ausgenutzten Staaten aufrechterhalten wird, die "freie Fahrt für freie Bürger" verhindert, sie aber gleichzeitig den internationalen Konzernen ermöglicht.

Dieser Punkt betrifft eine Ebene, der wir eher fassunglos gegenüberstehen - in unserem Wohlstand hilflos gefangen. Eine Änderung der Situation würde eine Radikalität erfordern, für die im Moment in politischer und ideologischer Richtung kein ausreichendes Selbstbewusstsein, keine ausreichende Bereitschaft, sich selbst zurückzustellen, vorhanden ist. Wenn es auch erste Anzeichen für eine Änderung des Bewusstseins gibt (Seattle, Prag) - wer verzichtet schon gerne auf seinen Wohlstand, wohl wissend, dass dieser indirekt die Armut in anderen Staaten und die Migrationen verursacht?

Es wird seine Gründe haben, dass die stärksten rassistischen Tendenzen in den Bevölkerungsschichten und -gruppen spürbar sind, deren eigene Identität durch die aktuelle globalisierte Lebens- und Wirtschaftsform verunsichert wird, die sich kulturell, wirtschaftlich und sozial benachteiligt fühlen. Und in diesem Rahmen ist der Konflikt mit AusländerInnen auch innenpolitisch praktikabler als die tatsächliche Forderung nach einer Änderung. Wer sich selbst seiner Identität sicher ist, sich wohlfühlt, hat keine Schwierigkeiten in der positiven Konfrontation mit AusländerInnen, die Probleme beginnen in dem Moment, in dem die Präsenz der anderen die eigenen Werte oder die eigene (meist schon eher schwache) Position tatsächlich in Frage stellt.

Während die Integration in wohlhabenderen Bevölkerungsschichten kein tatsächliches Problem darstellt, ein albanischer Künstler, ein nigerianischer Fußballtrainer ohne weiteres akzeptiert werden, mit derselben Selbstverständlichkeit, die auch einem buddhistischen Artdirector oder einem Scientology angehörigen Schauspieler gebührt, und also die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit zu einer unter vielen Details der Person wird, kommt es in weniger gut gestellten Schichten wesentlich häufiger zu direkten und indirekten Konflikten. Und anstatt um ethnische, kulturelle Konflikte handelt es sich da tatsächlich eher um einen "Krieg unter Armen".

MigrantInnen werden für politische Ziele genutzt, ein Beweis dafür ist die "Panikmache" rechter Parteien und Medien: Reißerische Schlagzeilen geben ein verzerrtes Bild der Realität und bringen auch linke Parteien zur Durchsetzung von Maßnahmen, die sonst politisch untragbar wären; obwohl die konkreten Statistiken eigentlich lange nicht so verunsichernd sind und solche Maßnahmen nicht rechtfertigen würden. So ist z.B. in Italien offensichtlich der Prozentanteil der Straftäter unter den AusländerInnen deshalb höher, weil er mit dem der italienischen Gesamtbevölkerung verglichen wird anstatt mit der entsprechenden Alters- und Geschlechtsgruppe, und weil außerdem auch administrative Vergehen gegen das Ausländerrecht mitgezählt werden.

In Italien liegt das Problem heute im Fehlen einer informellen Struktur, des Rückhaltes in der Bevölkerung. Die Linke hat den Kontakt zur Basis größtenteils verloren und stellt den Slogans der Rechten nur andere Slogans entgegen. Während die innerstaatliche Migration in Italien vom Süden in den industriellen Norden in den sechziger Jahren von der Organisierung und Solidarität unter den ArbeiterInnen charakterisiert wurde, fehlt dieses Klassenbewußtsein heute zur Gänze. Solidarität und das Gefühl, zusammen stärker zu sein, ist in diesem Rahmen nicht mehr präsent. Das wird auch durch die Lega Lombarda betrieben, die seit den achziger Jahren Norditalien rassistisch vom Süden "befreien" will - eine ähnliche Einstellung wäre früher unhaltbar gewesen, obwohl damals die Migration wesentlich stärker war, und die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen Süd- und NorditalienerInnen wesentlich relevanter.

Die Lega Lombarda hat gerade dort am meisten Zulauf, wo im Nordosten Italiens das wirtschaftliche und soziale Gefüge durch die Globalisierung tatsächlich bedroht ist. Und wo absurderweise die meisten Kleinunternehmen von den billigen, oft illegalen Arbeitskräften aus Nordafrika profitieren. Ähnlich wie in Deutschland; wo in den ehemaligen Städten der DDR die Ausländerfeindlichkeit höher ist, trotz wesentlich geringerer Anteile von dort lebenden AusländerInnen.

Solange kein politischer Weg gefunden werden kann, bleiben dennoch die kleinen Elemente bestehen, die unser Verhalten bestimmen und den Alltag verändern können, sind Miniprojekte der offensichtliche Weg um ein konfrontationsreiches und konfliktarmes Mit- und Nebeneinanderleben zu erreichen: Projekte, die als solche nicht so sehr sichtbar, aber spürbar sind.

Wenn man in diesem Rahmen Kunst als Ausdruck des Zeitgeistes sieht: Die Bedeutung und das Zentrum für Aktion liegt heute im Kleinen. Mit dem Ende der großen Ideologien, und somit dem Ende der invasiven Avantgarden (wie die Suprematisten zur Zeit der sowjetischen Revolution) ist es kein Zufall, dass heutige zeitgenössische Künstler den Alltag fokussieren, man denke an Tracey Emin, die in England ihr benutztes Bett ausgestellt hat, die (auch in der Kunsthalle Wien ausgestellten) Fotoporträts der Freunde und Bekannten der Amerikanerin Nan Goldin, die Filme der Schweizerin Pipilotti Rist mit absurden Alltagsszenen.

Somit können heute Strategien nicht abstrakt und von oben, sondern nur in der Gesellschaft erfolgen; damit ist mein, dein, ihr und sein Alltag gemeint. Die heute regierenden Mächte sind in ihrer Größenordnung anders nicht angreifbar. Ein konkreter Weg ist das Aufwerten und schrittweise Verändern des Alltags, des Kleinen, des Nahen als unumgängliches Stück der gesamten Gesellschaft, unserer Realität.