01 2002
Fortbestand durch Auflösung. Aussichten interventionistischer Kunst
1. Referenzunschärfen
Seit gut fünf Jahren hat sie verstärkt auch vom deutschsprachigen Kunst- und Diskursbetrieb Besitz ergriffen: die Tendenz zur aktivistischen Kommunikationsform. Gemeint ist die - von den USA ausgehende - Rekonzeption von Kunst als "politisch-sozialer Praxis" alias "Interventionismus" alias "Korrektur der Realität" [1]. Diese hat die kritische Abteilung des Betriebs wie sonst nur das nicht allzu weit entfernten Schwesterfeld Kontext-Kunst zu rekodieren begonnen.
Die Aktionen, Projekte und Ausstellungen von u. a. BüroBert, dem Minimal Club, Botschaft e. V., Bismarc Media, der Kritischen AIDS-Diskussion, dem Internationalen Frauenaktionsbündnis (IFAB), den Wohlfahrtsausschüssen, den WochenKlausuren, der Zürcher Shedhalle sind nicht zuletzt in den 19 bisherigen Heften dieser Zeitschrift als Teil von deren politischer Programmatik[2] abgehandelt worden. Daß viele dieser Praktiken ebenso schnell wieder abgebrochen/beendet wurden wie sie entstanden sind, daß sich gleichzeitig viele Aktionsträger konsequent umgruppieren bzw. sich in neuen Konstellationen reorganisieren, daß zudem immer noch neue Gruppenunternehmen im Entstehen sind, das alles indiziert die lebhafte Dynamik inklusive einer anhaltenden produktionstechnischen wie rezeptionsmäßigen Nachfrage in diesem Bereich.
Eine retrospektive Beschlagwortung ist schnell zur Hand: die repolitisierte Kunst-, Diskurs- und Aktionsgruppe hat eine nicht mehr übergehbare Stelle im Betrieb besetzt, das gesellschaftspolitische Projekt bzw. die öffentliche Aktion haben dabei das ästhetische Produkt dem Objekt nach wenn schon nicht verdrängt, so doch nachhaltig in Zweifel gezogen. Doch so simpel diese Kennzeichnung vorderhand funktionieren mag, so komplex erweist sich der Versuch einer exakteren Referenz auf die dahinter verborgene Vielfalt von Einzelansätzen. Eine schier endlose Vervielfachung distinktiver Merkmale tritt plötzlich dort wieder zutage, wo man schon glauben wollte, so etwas wie ein klar umrissenes Feld, einen distinguierten, neuen Bereich, ausmachen zu können. In dem Ausmaß, in dem Interventionismen oder diesbezügliche Gruppenprojekte sich als Genre[3] - inklusive stillschweigender Regelapparate und Normen - abzuzeichnen begannen, multiplizierte sich mikrostrukturell die kennzeichnende Parameterreihe, die diese Sparte zuallererst nach außen hin abzugrenzen vermochte.
Eine altbekannte Dynamik kündigt sich hier an: Solange ein neuer Eindringling noch als Herausforderer antritt, geht Einheit über Fraktionierung. Sobald er aber hegemoniale Ansprüche erhebt oder eine institutionell gefragte Rolle eingenommen hat, ist einer aufsplitternden Diversifikation von innen her keine äußere Grenze mehr gesetzt. Das konstitutive Außen wird so graduell vom verdrängten Inneren als strukturierendes Prinzip re-okkupiert. Interessant erscheinen hier Konfigurationen, in denen nicht das seit Ewigkeiten ungelöste Dilemma von Autonomie und Kritik oder jenes von Autonomie und praktischer Wirksamkeit auf dem Spiel stehen, sondern in denen so etwas wie eine Selbstunterwanderung kritischer Praxis einsetzt. Gemeint ist - neben aktiven Auflösungserscheinungen - diejenige Partikularisierung, die plötzlich, zumal aus oft entlegenen Bereichen, in das Herz sozialer Kunstpraxis einzudringen beginnt. Und die das eben erst durchgesetzte Genre zwischen den unterschiedlich anziehenden Polen Gruppe, Individuum, Diskurs, Aktion, Information, Ausstellung, infrastrukturelle Einrichtung, institutionelle Verankerung, Vergänglichkeit, Störung, Entstörung, Service-Leistung, Verunsicherung, Massenprodukt, Einzelobjekt, Offenheit, Ausschließlichkeit u. v. a. m. aufzusprengen beginnt.
Ansatzweise kann man dies schon an BüroBerts "Copyshop"[4], aktueller und deutlicher noch an Marius Babias' Anthologie "Im Zentrum der Peripherie"[5] ablesen. Die enthaltenen Projektbeschreibungen spiegeln in der Tat ein zunächst recht geschlossen präsentiertes Vorreitertum wider, deuten bei näherer Betrachtung aber eine irreduzible Aufsplitterung im begrifflichen Nukleus sozial-politischer Projektkunst an. Inkludiert sind bei Babias etwa (Selbst-)Darstellungen der Berliner Botschaft e. V., von Bismarc Media, den Wohlfahrtsausschüssen, der Kunst-Mailbox The Thing, dem Medienfenster museum in progress sowie dem Fanzine Artfan. Die mediale Diversität allein läßt schon ermessen, wie weitläufig das Begriffsfeld Aktivismus/Projektkultur/Interventionismus geworden ist, wie unscharf gleichzeitig die Instanzen und Felder von KünstlerInnen, TheoretikerInnen, Gruppenzusammenschlüssen, Institutionen, Medien hier ineinander zu verschwimmen beginnen.
Dieser prinzipiell begrüßenswerte Trend zur Ressort-Verwischung verlangt, so er nicht ins Diffuse abgleiten will, nach gegenstrebigen Momenten. Wünschenswert sind eine selbstreflexive Schärfe und ein Hang zu produktiver Irritation, die ein effektiv politisches Profil längerfristig sichern könnten: ein Profil jenseits von kunstwelt-immanenter Eigenwertbeschwörung und diesseits von wohlfahrtsstaatlichem Kompensations-Service.[6] Gravitätische Schwarze Löcher tun sich an dieser Stelle auf, und einzig ein unversöhnlich antagonistischer Status abseits von Konzern-Imagepolitur und künstlerisch drapierter Sozialhilfe könnte am ehesten verhindern, daß die vielbeschworenen Bastionen von Peripherie und Marginalität neuen, umso unerbittlicher absorbierenden Zentren untergeordnet werden.
2. Retrospektive Bündelung
An dieser Stelle mag ein Blick auf die prä-institutionelle Zeit, die Phase vor dem heute expandierenden Projekt-Establishment, angebracht erscheinen. Der von der New Yorkerin Nina Felshin herausgegebene Sammelband "But is it Art?"[7] versucht die Fäden noch einmal dort zu bündeln, wo sich - im historisch-geografischen Zeit-Raum der USA, ca. 1975 - 1995, - ein ansatzweise einheitliches und progressives Genre namens Aktivismus noch vermuten ließ. Felshins Anthologie empfiehlt sich an dieser Stelle schon alleine deswegen, weil sie zu einer Genealogie aktivistischer Praktiken ausholt. Weiters, weil es vielfach die amerikanischen Referenzdiskurse sind, die Interventionismen im deutschsprachigen Raum unverkennbar ausweisen. Darüber hinaus verdeutlicht aber das von Felshin gesampelte Spektrum eine Bandbreite von Aktionsmodi, die in hiesigen Projekten oftmals viel selektiver und einseitiger verdichtet sind. Der Cluster-Begriff 'Aktivismus' kennzeichnet damit schon auf den ersten Blick weniger ein geschlossenes Genre als vielmehr ein extrem offenes Bedeutungskonglomerat, das gleichermaßen Produkte, Handlungen, Diskurse, Institutionen, spezifische "Inhalte" (Issues), Dienstleistungen, Vernetzungsarbeit und Medien mit- und ineinander verwurzelt.
Tatsächlich könnten die Projekte, die in den zwölf enthaltenen Monografien beschrieben werden, uneinheitlicher nicht sein. Dies betrifft sowohl den Subjektstatus der Künstler(gruppen), die Themenauswahl, die Präsentations- wie Aktionsformate, als auch die sich entlang der diversen Projekte akkumulierenden distinktiven Parameter für aktivistische Kunst. Felshin selbst offeriert keine Kategorisierungshilfen, die zwölf abgehandelten Ansätze lassen sich aber auf etwa fünf schwerpunktmäßige, wechselseitig nicht exklusive Attraktoren hin bündeln:
Erstens auf tatsächlich aktivistische Interventionen, angesiedelt an den Schnittstellen zu oder unmittelbar im öffentlichen Raum. Zu den Aktionen, die das Erbe der Performance-Kunst auf den Foren öffentlicher Konfrontation umzusetzen versuchen, zählen die sozial-symbolischen Eingriffe des Kollektivs rund um David Avalos, Louis Hock und Elizabeth Sisco in San Diego seit etwa 1988: zum Beispiel ihre Aktion Art Rebate/Arte Reembolso (1993), also "Kunst-Rückvergütung", bei der die Gruppe Kuverts mit Zehndollarnoten und einer Deklaration an illegale Einwanderer an der Grenze zu Mexiko verteilte, welche in der lokalen Ökonomie als billige Arbeitskräfte, aber gleichzeitig als Steuerzahler fungieren. Hierzu gehören auch die Poster-Affichierung von Gran Fury (1988 - 1993) sowie die feministischen Stör- und Korrektivaktionen der Women's Action Coalition/WAC (1992/93); nach kurzen Hochleistungsphasen haben beide Gruppen 1993 ihren Betrieb mehr oder weniger wieder eingestellt.
Zweitens: eine gegen die etablierte Kunstwelt gerichtete, aber zumeist in Kunsträumen angesiedelte Gegenagitation und Gegeninformation zu defizienten offiziellen bzw. gar nicht kursierenden Nachrichten; etwa durch die 1979 gegründete und mehrfach transformierte Gruppe Group Material rund um Julie Ault und Doug Ashford oder die seit 1985 stattfindenden Shows und "public announcements" der Guerrilla Girls[8].
Drittens informationsdienstliche Einrichtungen, die ein politisches Thema über den Freiraum Kunstwelt durchzusetzen versuchen: z. B. die Gewerkschafts- und Arbeiterklassenprojekte der kanadischen Konzeptkünstler Carole Condé und Karl Beveridge seit ca. 1970, die Ökologie-Studien des Paares Helen und Newton Harrison ab 1973 oder die Instandhaltungs- bzw. Müllbeseitigungsprojekte von Mierle Laderman Ukeles seit etwa 1969. Auch Group Materials interdisziplinäre und konzeptuelle Erforschung von Themen wie Demokratie, Konsumgesellschaft oder Subkulturen wäre in diese Sparte einzutragen.
Viertens finden sich eher sozialdienstliche Leistungen wie die Obdachlosenprojekte der Artist and Homeless Collaborative (A&HC) in New York seit etwa 1989, deren erklärtes Projektziel auf die Selbstbestimmung von obdachlos Gewordenen durch Kunstproduktion unter professioneller Anleitung ausgerichtet ist. Hierzu zählen auch M. L. Ukeles' Müllabfuhrbehübschungen oder die diversen im Umfeld von Kunstaktivismen entstandenen Hilfseinrichtungen für HIV-Infizierte, Vergewaltigungsopfer etc.
Schließlich lassen sich fünftens noch Initiativen erkennen, die direkt auf die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur zur Durchsetzung eines Anliegens zielen: etwa das Off-Theater-Netzwerk des American Festival Project (seit 1982) oder auch die Vernetzungs- und Organisationsarbeit von Gruppen wie WAC.
3. Fokuseinstellungen
Dieser projektmäßigen Diversität korrelieren auf der Textebene des Sammelbandes verschieden scharfe Fokussierungen. Mit einmal mehr, eimal weniger kritischer, theoretischer oder auch persönlicher Distanz bearbeiten die AutorInnen ihre Gegenstandsbereiche. Das eine Extrem bilden dabei Bilanzierungen aus dem jeweiligen Projekt-Inneren wie die Rekapitulation der Artist & Homeless Collaborative aus strikter "Wir"-Perspektive (von Andrea Wolper) oder die emphatische Feier des Politkunst-Kitsches einer Peggy Diggs (von Patricia Phillips).
Am anderen Ende des Spektrums liegen die Texte von Jan Avgikos über Group Material, von Richard Meyer über Gran Fury und von Elizabeth Hess über die Guerrilla Girls, die - wie vor allem Avgikos - Gruppenarbeit an deren eigenen theoretischen Vorgaben (etwa dem Konzeptkunsterbe) zu messen versuchen, ohne auf simple Dichotomien wie institutionelle Enklave vs. gesellschaftliche Durchdringung vertrauen zu müssen. Legitimer Ausgangspunkt vieler hier vertretener Ansätze ist ja, das alte Avantgarde-Dilemma von autonomer Kunst vs. sozialem Engagement gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Beispielgebend dafür sind die Ausführungen von Avgikos: "[To] interrogate the relations inscribed in art and culture, and to claim to do so from a position deemed 'alternative' or outside dominant culture, had proven grossly inefficient if not entirely fallacious in the assumption that the institution alone nullifies the political power of art and that art, if liberated, will automatically and altruistically speak on behalf of the disenfranchised and underprivileged members of society. [...] Perhaps we should reconsider the entire notion of a 'political art' as defined in opposition to dominant culture and its institutions and, in this light, question whether independence from prevailing systems is at all desirable or even possible."[9]
Zurecht lassen sich weitere Gemeinsamkeiten unter den Projekten finden: eine Vorläuferschaft in den Aktivismen der 60er und frühen 70er Jahre, ein direkter (vgl. S. Lacy) oder bereits transformierter Bezug (vgl. Guerrilla Girls) auf die Performance-Kunst und Feminismen dieser Zeit, schließlich die unabweisliche Verankerung in der Konzeptkunst. Vor allem deren bekanntes Beharren auf der Kontextualität von Bedeutung, den Primat des Rahmens über den (Bedeutungs-)Inhalt, die Kritik institutioneller Eingebundenheit, die Auflösung der Differenzen Kunst-Leben und Produzent-Rezipient, die Betonung des Prozeßhaften gegenüber dem fixierten Objekt, die Kritik an der Warenform von Kunst, die Akzentuierung von Ortsgebundenheit, schließlich die interdisziplinäre, diskursiv-ästhetische Hybridität haben nachhaltigen Eingang in aktivistische Praktiken diesseits und jenseits von Galeriewänden gefunden.
In einem groß angelegten Syntheseversuch bindet Felshin diese Stränge, die aus der Konzeptkunst kommen, an den politisch orientierten Postmodernismus einer Mary Kelly oder Martha Rosler und läßt beide in aktivistische Praktiken übergehen. Und obgleich die exakten Methodologien differieren, verdichten sich die Konzeptkunstmomente mit der postmoderen Repräsentations- und Machtkritik und der aktivistischen Agitation zu einem gemeinsamen Fragenkomplex.[10] Gleichzeitig ist es die entscheidende Differenz zu bloß öffentlicher Kunst, der "new public art", die Aktivismen auszeichnet: "The fact that a political work is publicly sited, in exclusively physical terms, does not guarantee comprehension or public participation. Political art, in short, is not synonymous with activist art."[11]
4. Verzweigungen: Against the 70's
Der entscheidende Schritt über bloße Konzeptkunst und politischen Postmodernismus hinaus schließt hier an: in der Umpolung von Repräsentationskritik zu neuen, aktiven Formen von Gemeinschaftskonstruktion und der Rückkoppelung von ansonsten heteronomen Machtströmen an selbstorganisierte Gemeinschaftsartikulation. In der Folge ergeben sich weitere wichtige Verzweigungen, die man vereinfachend als Spiel der 80er/frühen 90er Jahre gegen das Erbe der 60er und 70er charakterisieren könnte. Professionelle, werbestrategisch angelegte Medienarbeit bildet ein Hauptmerkmal von Gruppen wie Gran Fury, WAC oder Avalos/Hock/Sisco, das deren prozessuelle Eingriffe weit über das stille Nischen-Dasein sogenannter politischer Kunst im öffentlichen Raum hinauskatapultiert.
Eher sentimental-nostalgisch klingt dagegen, wie Felshin ungeachtet der heute verbreiteten strategischen Medien-Einbeziehung ein vorindustrielles Bilderbuchmodell von 1. Aktivismus - 2. Partizipation - 3. gesellschaftlicher Veränderung zurechtzimmern will: "Participation is thus often an act of self-expression or self-representation by the entire community. Individuals are empowered through such creative expression, as they acquire a voice, visibility, and an awareness that they are part of a greater whole. The personal thus becomes political, and change, even if initially only of community or public consciousness, becomes possible."[12]
Der schematische Idealismus dieses Credos bleibt immerhin nicht ganz unwidersprochen. Jeff Kelley etwa versucht in seinem Essay über Suzanne Lacy, ihn auf den Boden sozialer Realität zurückzuholen. Kelley analogisiert die vermeintliche Effektivität von Lacys Körperpolitik-Performances mit den Ringen eines Baumstamm-Querschnitts.[13] In der Mitte die Künstlerin - zusammen mit eventuellen Mitarbeitern -, davon ausgehend Kontakte (zu Organisationen und involvierten Agenturen), dann unmittelbare Rezipienten, weiter außer die medial informierte Kunstöffentlichkeit, bis schließlich hin zur allgemeinen Medienöffentlichkeit, die im besten Fall Umschlagplatz für kritische Information wird.
Die Bedeutung eines Projekts wäre demnach vektoriell über den gesamten Querschnitt verteilt und würde holistisch Ring um Ring umspannen. Fraglich an diesem Diagramm ist nur die Selbstverständlichkeit, mit der die Künstlerin auktorial die zentrale, initiierende Stelle besetzt, ohne Auskunft darüber zu geben, von welchen "Ringen" und "Schichten" her sie selbst Material, Diskurse, Handlungsmodelle und Kanäle für ihr Projekt zur Verfügung gestellt bekommt. Ein realistischeres Bild würde gerade von den Rissen und (Verständnis-, Bedeutungs-)Lücken zwischen und innerhalb der einzelnen Schichten ausgehen und deren Unüberbrückbarkeit zu bearbeiten versuchen, ohne vorschnelle Homogenisierungen einzuführen. Diese Risse würden sich produktiv vervielfachen, sobald man auch der real existierenden unterschiedlichen Aussageweisen und Wissensebenen zu einem Thema/Anliegen Rechnung trägt.
Brauchbar scheint hier Kelleys Hinweis darauf, künstlerischer Aktivismus könne im besten Fall irritierende Anstöße geben, die in entfernten Schichten - zwar medial gedämpft, aber immerhin partizipatorisch, d. h. eine verstreute Diskursgemeinschaft herstellend - spürbar werden. Hinzufügen muß man aber, daß dies nicht an eine urheberrechtliche Anwaltschaft rückgekoppelt sein kann, sondern erst im Wechselspiel und Austausch der beteiligten Instanzen generiert wird. Kontraproduktiv wirkt die naheliegende Anspielung darauf, es könne so etwas wie eine schöpferische Patenschaft für soziale Anliegen geben: einen fürsprecherischen Zugriff auf prä-diskursive Referenten von einem gleichsam diskursiven Nullpunkt aus.
5. Re-make/Re-model
An diesem Punkt läßt sich ex negativo erahnen, daß es genau kein Modell, kein begriffliches Unikat namens aktivistische Kunst geben kann. Die Kriterien und Parameter, die sich im Laufe von Felshins Sampler anreichern, lassen in ihrer Disparatheit keinen Rückschluß auf ein interventionistisches Paradigma mehr zu. Eine Gegenüberstellung mag hier genügen:
Legten etwa Lacys Aktionen und das ihnen zugrundeliegende Baummodell in den 70er Jahren noch die Vermutung eines paradigmatischen Funktionierens aktivistischer Kunst nach dem Schema Aktion - Reaktion - Veränderung nahe, so hat sich der Komplexitätsgrad in der Arbeit von Gran Fury oder Group Material sichtlich erhöht. Eine vermeintlich lineare Mechanik ist der mehrdimensionalen Parallelverarbeitung gewichen: extrem gestiegene theoretische Investitionen, das bewußt kalkulierende Miteinbeziehen von Medienoberflächen, der einbettende Bezug auf Teilgesellschaften (communities) anstelle einer ominösen Gesamtgesellschaft, die inszenierte Konfrontation von industriell gefertigten Massenprodukten mit ästhetisierten Einzelobjekten, die Auslöschung individueller Künstlerhandschriften bei gleichzeitiger Ausprägung von identifizierbaren Gruppenhandschriften[14] - all das verweist auf eine komplexe Ineinanderkoppelung sozialer, politischer, diskursiver und künstlerischer Module zu einem Informations- und Handlungsschaltkreis, dessen Effektivität sich nicht mehr einfach mit dem simplen Ankommen einer Botschaft beim Adressaten normieren läßt.
An dessen Stelle sind andere, mikrostrukturell ansetzende Kriterien getreten. Genau dies ist der Punkt, an dem sich Aktivismus (im Singular, "activism as we know it") wieder in zahlreiche verfeinerte, bisweilen heterogene Partikular-Aktivismen (im Plural), und zwar exakt entlang dieser Kriterien, aufzuspalten beginnt: Dazu gehört das kombinatorische Spiel mit einer Vielzahl gegensätzlicher Momente, wobei genau deren traditionelle Opposition - und normative Hierarchisierung - zusehends in Zweifel gezogen wird.
Im einzelnen betrifft dies die Situierung im öffentlichen Raum vs. Kunstraum, der transformierende Eingriff, mitunter die Grenzverwischung, Öffnung zwischen beiden Bereichen.[15] Ein weiteres Analysemoment bietet die Frage, ob es primär um Agitation oder um Information geht, ob nicht überhaupt die infrastrukturelle Grundlage zur Bearbeitung eines Anliegens ebenso wichtig wie traditionelles Consciousness-Raising sein muß.[16] Dies führt zur Problematik, ob man sich eher mit informationsdienstlicher Verfügbarmachung oder einer zielsicher gesetzten Endverbraucherpolitisierung beschäftigt, ob die populistische Aufarbeitung oder die theoretische Erforschung eines ansonsten marginalisierten Themas relevanter ist.[17]
Weitere Fragen lassen sich hier skizzenhaft anschließen: Wie publikumswirksam können Offenheit und Exklusivität im Rahmen eines Projekts eingesetzt werden? Wie ausschließend wird etwa der Bezug auf bestimmte Diskurse verwendet? Wie weit will man sich konventionellen Werbestrategien annähern oder eher erratisch, unkonsumierbar bleiben? Wie integrativ oder fürsprecherisch wird mit sogenannten Betroffenen verfahren? Wie stark wird von den Polen Irritation/Renitenz/Störung vs. Dienstleistung/Wohlfahrt/Entstörung aus agiert?
In bezug auf die Auflösung vieler dieser scheinbaren Antagonismen ist abschließend noch einmal Group Material der beste Beleg. Nicht bloß wurde das Konzept Gruppe durch viele Personalveränderungen und Beinahe-Auflösungen mit unterschiedlichem individuellen Nachdruck unablässig in Frage gestellt. Das lose Kollektiv hat durch konsequente Themenverlagerung und -erweiterung, das immer weitreichendere Austesten diverser Medienformate (etwa Bus- und U-Bahn-Werbung) sowie das immanente Anarbeiten gegen institutionelle Grenzen vor allem eines demonstriert: Nicht die Option eines mythischen absoluten Außen steht zur Debatte, sondern die Möglichkeit, "[to be] both in and out of place in the market economy of art."[18] Und gerade diese Funktion des "Inside-Outsiders" wird heute wieder an vielen Fronten des anti-hegemonialen Kampfes verstärkt betont.[19]
6. Hinaus mit uns? - Kill and Go![20]
Für jedes der hier genannten Momente bieten die bei Felshin gesammelten Projekte Anhaltspunkte. Jedes dieser Momente ist in der jüngeren Geschichte aktivistischer Kunst von diversen Projekten einmal mehr, einmal weniger betont worden. Ein offenes, ausfransendes Feld ist so entstanden, auf dem immer noch alte Avantgarde-Kriege - wie die zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Autonomie und Engagement, zwischen High und Low Art, zwischen Objekthaftem und Prozeßhaftem, zwischen Enklave-/System-Denken und Transgression - ausgetragen werden.
Jedes Moment läßt sich - selbstreflexiv, auf Begriffsauflösung zielend - mit anderen zu immer neuen kombinatorischen Varianten amalgamieren. Und hierin muß wohl auch die Hoffnung interventionistischer Kunst liegen: daß sich gegen alle Rückschläge, gegen die normative Wendung dieser Kriterien und gegen die festschreibende Formalisierung eines einzigen Aktivismus-Modells neue, noch unversuchte - komplexer werdenden Realitätsfragmentierungen sich ebenso komplex anpassende - Re-makes/Re-models aus dem Pool verfügbarer Einzelmodule synthetisieren lassen.
Daß die letzten zwanzig Jahre aktivistischer Kunst kein hegemoniales Paradigma aufkommen ließen, beweisen vergleichende Kompilationen wie die Felshins. Daß Aussicht auf ungeahnte Fortsetzungen oder Neuprojektierungen besteht, muß das dynamische Spiel mit den genannten antagonistischen Elementen sowie das beständige Wiedereinführen neuer (Selbst-)Widersprüche beweisen. So würde gerade die Tendenz, daß aktivistische Kunst sich konsequent von innen her auflöst, ihr unabschließbares Fortbestehen garantieren.
[Erstmals erschienen in: Texte zur Kunst, Nr. 20 (November
1995), S. 109-117]
[1] Marius Babias im
Vorwort des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Im Zentrum
der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in
den 90er Jahren, Dresden/Basel, Verlag der Kunst, 1995,
S. 23
[2] Vgl. die einleitenden
Statements von Stefan Germer in seinem Essay "Unter Geiern"
(Texte zur Kunst, Nr. 19)
[3] Vgl. etwa begriffsprägende
Anthologien wie Mapping the Terrain: New Genre Public Art,
ed. by Suzanne Lacy, Seattle, Bay Press, 1995
[4] Berlin/Amsterdam, Edition
ID-Archiv, 1993
[5] Siehe Anm. 1
[6] Vgl. zu diesem Punkt
meinen Essay "Störungsdienste" in: springer - Hefte
für Gegenwartskunst, Nr. 1 (April 1995), S. 20 - 26
[7] Nina Felshin (Hrsg.),
But is it Art? The Spirit of Art as Activism, Seattle,
Bay Press, 1995
[8] Deren allgemeine Akzeptanz
möglicherweise zu ihrem größten Aktivismus-Hindernis wurde,
vgl. den Aufsatz von Elizabeth Hess in Felshin 1995, besonders
S. 331
[9] Jan Avgikos, "Group
Material Timeline: Activism as a Work of Art", in Felshin
1995, S. 85 - 116, hier S. 108
[10] vgl. Felshin, S.
25f.
[11] A. a. O., S. 21.
Vgl. weiter ausholend Suzanne Lacys Anthologie Mapping
the Terrain: New Genre Public Art sowie das von Mary Jane
Jacob kuratierte Projekt und der daraus entstandene Sammelband
Culture in Action: New Public Art in Chicago, Seattle,
Bay Press, 1995
[12] Felshin 1995, S.
12. Fairerweise muß man hinzufügen, daß Felshin selbst auch
die Rolle der Medien beleuchtet.
[13] a. a. O., S. 242
[14] Vgl. die Art von
Ausstellungs- und Installationsdesign, die sich durch viele
der Group Material-Shows wie etwa Consumption (1981),
Democracy (1988/89), AIDS Timeline (1989) bis
hin zu Market (1995) zieht.
[15] Beispielhaft hierfür
sind sicher Gran Furys Biennale-Aktion The Pope and the
Penis (1990) bzw. ihr Medien-Simulakrum The New York
Crimes (1989)
[16] Vgl. die eher eindimensional
auf Politikberatung angelegte Öko-Arbeit der Harrisons gegenüber
dem Projektverbund WAC, der alle hier genannten Momente abzudecken
versuchte.
[17] Ein Beipiel hierzu
wäre die sowohl auf Agitation wie Grundlagenforschung zielende
Arbeit vieler AIDS-Projekte.
[18] Avgikos in Felshin
1995, S. 114
[19] Man vergleiche etwa
die Positionen von TheoretikerInnen wie Gayatri Spivak, Paul
Gilroy oder Dick Hebdige.
[20] Vgl. Peter Friedls
Biennale-Aktion Hinaus mit uns (1993) und seine Anzeigentafel
Kill and go (1995)