09 2002
Imag(in)ing Globalization. Oder: Wie lässt sich etwas fassbar machen, wofür widersprüchlichste Bilder existieren?
Wenn heute von "Globalisierungskritik" die Rede ist, so wird meist ein implizites Einverständnis vorausgesetzt, und das in mehrfacher Hinsicht: in Bezug darauf, was unter Globalisierung und deren Kritik zu verstehen ist; in Bezug darauf, wo diese Kritik genau anzusetzen hat; und schließlich in Bezug darauf, wie auf dieser Kritik eine politische Bewegung aufbauen könnte (oder dies bereits begonnen hat). Vorausgesetzt wird dabei zumeist nicht nur ein vorschnelles Begriffsverständnis, sondern auch ein ganz bestimmter visueller Code, über den sich Globalisierung und deren Kritik, anscheinend "selbstredend", vermitteln.
Im Folgenden soll es genau um diesen Code und dessen genauere Beschaffenheit gehen. Zentral ist dabei die Fragestellung, wie sich auf der Vermittlungs- und Verstehensebene - und "Globalisierung" ist für die meisten kritischen Subjekte primär über ganz bestimmte Lektüren, Medienberichte und -bilder vermittelt, obwohl es selbstverständlich auch ganz reale Einschreibungen in das Leben jedes/r Einzelnen gibt - konzeptuelle Verbindlichkeiten herstellen lassen. Lakonisch ließe sich diesbezüglich sagen: Wenn schon nicht auf der Ebene der globalisierungskritischen Anliegen (issues), so sollte doch zumindest im Hinblick auf die Angriffsziele (targets) der Kritik und des Protests eine bestimmte Einhelligkeit bestehen.
"Globalisierung", so sich dieses Schlagwort überhaupt pauschal verwenden lässt, findet ihren visuellen Ausdruck in einer Reihe von Bildern, vor allem Medien-Bildern, die auf den ersten Blick äußerst inkompatibel erscheinen. In den gut fünf Jahren, seit der Topos auch in populäreren Medien kursiert, und den gut zehn Jahren, in denen dies im Theoriebereich der Fall ist, ist es mitnichten zu einer einhelligen Begriffsklärung gekommen. Eher im Gegenteil. Wirft man einen Blick auf die Medienlandschaft der letzten Monate und Jahre, so sieht man auf der einen Seite die großteils mit Gewalt unterbundenen Proteste von Seattle, Washington, Prag, Göteborg, Genua- überboten in ihrer "Infektionskraft" (Klaus Theweleit) nur von jenen Bildern, welche die Ereignisse des 11. September 2001 im Gedächtnis der Weltöffentlichkeit hinterlassen haben. Dem stehen geradezu diametral Ansichten des Unterhaltungsindustrie-Komplexes gegenüber, die ebenfalls einen zeitgemäßen Ausdruck von "Globalisierung" darstellen: Themenparks, Malls, Fast Food- und Franchise-Ketten, Megaplexe und so weiter, die allesamt den verführerischen Anschein eines "post-historischen, ewigen Friedens" erwecken. [1] Oder, um ein anderes Beispiel zu wählen: das Bild einer brasilianischen Favela mit spärlicher infrastruktureller Anbindung gegenüber dem einer abgeschirmten Gated Community, die mit der Außenwelt in erster Linie über drahtlose Telekommunikation verbunden ist.
Auch im Kunstbereich kursieren mittlerweile Gegenüberstellungen dieser Art: Der Maler Dierk Schmidt etwa geht in einer seiner jüngsten Arbeiten von einer Passage aus Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" aus, um über die zeitgemäße künstlerische Ausstattung eines (innen-)ministeriellen Salons zu spekulieren. In einer Serie von drei Öl-/Acryl-Malereien deutet er Delacroix' Gemälde "Die Freiheit" wie auch Géricaults "Das Floß der Medusa" für die global-kapitalistische Gegenwart um: "Die Freiheit" wird mit dem bekannten Nike-Spot zur Fußballweltmeisterschaft 1998 überblendet, in dem das brasilianische Team spielerisch die Sicherheits-Checkpoints eines Flughafens überwindet; "Das Floß der Medusa" hingegen wird zu einem havarierten Flüchtlingsschiff vor der australischen Küste, und die darin zum Tragen kommende aktuelle Subjektivierungsform ist buchstäblich auf das "nackte Leben" (Giorgio Agamben) geschrumpft. Immerhin - so ließe sich mit Schmidts Darstellungsoption gegen Agamben einwenden - ist die beschädigte Souveränität der gestrandeten Subjekte zumindest noch als schattenhafter Umriss erkennbar. [2] Auf ein Minimum reduziert, aber doch noch vorhanden.
Alle bislang erwähnten Bilder scheinen widersprüchlichsten Tendenzen und vor allem lokalen Effekten von "Globalisierung", kaum jedoch einer universellen Gesetzmäßigkeit Ausdruck zu verleihen. Es dominieren Hilfsausdrücke, und nicht zuletzt behelfsmäßige Bilder, wohin man sieht: visuelle Krücken wie das Nike-Logo (bzw. die daran anschließende "No Logo"-Forderung), ausgebeutete ArbeiterInnen in einer indonesischen Nike-Fabrik (die de facto kaum je zu sehen, aber jederzeit mental abrufbar sind), vermummte Freedom Fighter, das universelle Kommunikations-Tool (der "Hand-held Communicator"), Business Class- und in immer größerem Ausmaß auch Economy Class-FliegerInnen, und nicht zu vergessen: der/die reisende Intellektuelle bzw. "eingeflogene ExpertIn", wie dies kürzlich einmal treffend auf den Punkt gebracht wurde. [3] Tatsächlich scheint die immaterielle Arbeit gegenwärtiger Produktionsverhältnisse sehr viel schwerer in aussagekräftigen Bildern fassbar zu sein, als dies beim überwiegenden Teil der Hand-ArbeiterInnen im industriellen Kapitalismus der Fall war. [4] Oder wer kann nicht auf Anhieb die zigmal reproduzierten Fotografien eines Lewis Hine, Walker Evans oder August Sander mental herbeizitieren, wenn die Stichwörter "kapitalistische Ausbeutung", "Verelendung" oder "Armut" fallen?
Obwohl es auch für die "global-kapitalistische Ausbeutung" nicht an eindrücklichen Einzelemblemen mangelt, so scheint es doch, als würden mit jedem einzelnen davon immer nur partielle bzw. symbolische Seiten dessen, was einen größeren und eben nicht so leicht darstellbaren Zusammenhang ausmacht, angerissen, Teilaspekte, die alle für sich eine bestimmte Bedeutsamkeit haben, ohne dass man durch sie jedoch in die Lage versetzt würde, die heute wirksamen "realitätsproduzierenden" Prozesse in einem größeren Kontext, und vor allem in ihrer Mehrdimensionalität zu erfassen. Transnationale Kapitalströme oder auch "Ideen-Ströme" (so genannte "idea-scapes" [5]) bleiben gegenüber all dem in einer eigenartigen Unsichtbarkeit gefangen. Globale "flows", die entscheidend zur Ausprägung der erwähnten Widersprüchlichkeiten beitragen, scheinen sich den gängigen Formen der Sichtbarmachung - ob in Massenmedien oder Kunst - beharrlich zu entziehen. Was wir sehen können, sind meist bloß die Effekte von etwas, wofür selbst keine verbindliche Anschauung existiert.
Vielleicht tut man also gut daran, die konstitutiven Leerstellen im Begriff der "Globalisierung" selbst anzuvisieren - Leerstellen, die in Kunstprojekten mitunter sehr prägnant auf den Punkt gebracht werden: In einem Audio-Projekt der Gruppe Global Dustbowl Ballads (bestehend aus Clemens Krümmel, Rupert Huber; Gesang: Alice Creischer) wird ein solches "notwendiges Verfehlen" klanglich umgesetzt. Texte von Woodie Guthrie wurden zunächst in eine Internet-Übersetzungsmaschine eingespeist und der Output - deformiertes Maschinen-Deutsch, das vereinzelt noch Spuren eines utopischen amerikanischen Arbeiterklassen-Sozialismus erahnen lässt - zu melodiös-minimalistischen Techno-Loops neu eingesungen. Heraus kommt genau das, was man angesichts der prinzipiellen Übersetzungsproblematik in Bezug auf unterschiedlichste globalisierungskritische Anliegen auch erwarten würde: "Der Mann des workin des gamblin ›reich Mann ist und‹ ist arm und Ich wird kein Haus in dieser Welt mehr erhalten." [6] Kein Haus in dieser Welt mehr? Wie viele MigrantInnen und dislozierte Arbeitskräfte weltweit könnten nicht ein Lied davon singen?
Vielleicht sind also gerade solche kulturellen Produktionen gefragt, wenn schon keine Begriffe, so doch Bilder (visuelle, akustische, etc.) der realitäts- und widerspruchs-produzierenden Prozesse, die gemeinhin auf die Formel "Globalisierung" reduziert werden, herzustellen. Vielleicht liegt heute sogar eine vorrangige Funktion des künstlerisch-kulturellen Feldes - und ich spreche hier selbstverständlich nur von einem winzigen Teil- und Randbereich dieses Feldes - darin, diesen Prozessen eine nicht bloß oberflächliche Sichtbarkeit zu verleihen; - nämlich als Voraussetzung dafür, Formen von "widerständischer Vernetzung" [7], egal ob man diese eher kulturell oder politisch gewichtet, überhaupt erst andenken zu können. So wie die "Globalisierung von unten" [8] - im Gegensatz zur scheinbar von oben aufoktroyierten "Globalisierung der Konzerne" - zu einem immer brisanteren Forschungsgegenstand wird, so wäre auch eine globalisierungskritische visuelle Kultur dazu angehalten, Bilder dieser widersprüchlichen Strömungen und Tendenzen, vor allem jener "von unten", zu produzieren.
Versuche solcher Sichtbarmachungen gibt es mittlerweile in verschiedensten künstlerischen Medien, von Film, Video bzw. Videoinstallation - man denke etwa an Chantal Akermans multiperspektivische Arbeit über das US-amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet ("From the Other Side", 2002) - über Fotografie - etwa Allan Sekulas ausführliche Serien "Fish Story" (1990-95) und "Dead Letter Office" (1997) - bis hin zu multimedialen Kartografien transnationaler Wirtschafts- und Politikzusammenhänge. Letztere fertigt etwa die Strassburger Projektgruppe Bureau d'études, ausgehend von französischen Unternehmen und deren internationalen Verzweigungen, an. [9] Ein weiteres gelungenes Beispiel war auf der Documenta11 in Form der Multimedia-Installation "A Journey Through a Solid Sea" (2002) der Mailänder Gruppe Multiplicity zu sehen, welche den Mittelmeerraum als migratorischen, wirtschaftlichen, aber auch biologischen und kriminologischen Zusammenhang abzubilden versucht. Wie man sich das Leben Einzelner am unteren Ende der "Globalisierungskette" heute vorzustellen hat, zeigen unter anderem - ebenfalls auf der Documenta11 vertretene - Reportagen des indischen Fotografen Ravi Agarwal (ArbeiterInnen im indischen Süd-Gujarat) oder die Foto-Essays des Nigerianers Olumuyiwa Olamide Osifuye über das Straßenleben in Lagos, Nigeria. [10] Der architektonischen und städtebaulichen Dimension dieser "Kette" widmen sich Sabine Bitter und Helmut Weber, die in ihrem Foto- und Videoprojekt "Live like this!" (2000) einen Wohnhauskomplex in Rio de Janeiro als - langsam verfallendes - Sinnbild einer globalisierten Moderne porträtieren; eine Thematik, wie sie auch Florian Pumhösl in mehreren Videoinstallationen über einzelne "modernistische Ruinen" auf Madagaskar, in Uganda und Tansania exemplarisch vorführt und reflexiv auffächert.
Grafisch gestaltete und politisch interpretierte "World Maps" existierten zum Teil schon in den frühen siebziger Jahren, etwa bei KünstlerInnen wie Öyvind Fahlström oder Aligieri e Boetti, der eine Weltkarte aus Nationalflaggen in Form der von ihnen repräsentierten Staaten (buchstäblich) zusammennähte. Heute wird dies ergänzt durch eine künstlerische Mischform, die man als medial getrimmte Neoliberalismus-Sketches bzw. als grafisch-skulpturale Umsetzungen dessen bezeichnen könnte, was Patti Smith einmal als "WTO-Blues" [11] besungen hat. Treffende Beispiele dafür sind Andreas Siekmanns Beitrag zur Ausstellung "du bist die welt" (Künstlerhaus Wien, 2001), in dem eine DIY-Eigenbau-Skulptur aus kleinen Plastikspielzeugfiguren ein Weltwirtschaftstreffen irgendwo in den Schweizer Alpen nachstellte, oder Thomas Hirschhorns Installation "Wirtschaftslandschaft Davos" (2001), die ein ähnliches Anliegen, nur in größeren und plastischeren Dimensionen, verfolgte. Siekmann setzte zuletzt in seiner Ausstellung "Die Exklusive: Zur Politik des ausgeschlossenen Vierten" (Salzburger Kunstverein, 2002) noch eins drauf: Hier wird die drastische Ausschließungs- und Evakuierungspolitik inszeniert, mit welcher die Sicherheitsapparate mittlerweile weltweit gegen Kundgebungen und Versammlungen bei so genannten "Globalisierungsgipfeln" vorgehen. Und schließlich widmet sich auch Lisl Pongers Fotoserie "Sommer in Italien" (2001) - ebenfalls auf der Documenta11 vertreten - den konkreten sicherheitspolitischen und polizeilichen Einkerbungen in die Stadtlandschaft beim G 7-Gipfel in Genua im Juli 2001.
Zu fragen bleibt, wie adäquat diese Visualisierungen die angesprochenen größeren Zusammenhänge jemals wiedergeben können, wie umfassend also eine Gesamtkartografie von "Globalisierung" beschaffen sein müsste, um nicht bloß partielle Effekte - so drastisch diese im Einzelfall auch sein können -, sondern das Geflecht von Ursachen und Wirkungen auf unterschiedlichsten Ebenen abzubilden. Zurück also zum Überschaubaren und Lokalen? Oder eher zu der Frage, welche Dimensionen ein exemplarisches Bild von "Globalisierung" umfassen müsste oder realistischerweise umfassen kann. Die Bandbreite reicht bekanntermaßen von ganz konkret und lokal bis zu sehr weitschweifig und weltumspannend, und der entscheidende strategische Kunstgriff besteht wohl darin, das eine Extrem mit dem anderen so zu verknüpfen, dass die zahlreichen Vermittlungsschritte bzw. unterschiedlichen "Maßstäbe" ("scales") [12] dazwischen nachvollziehbar bleiben. Alexander Kluge hat in diesem Zusammenhang einmal bemerkt, dass "Globalisierung" für ihn dort beginnt, wo etwa ein deutscher Fabrikarbeiter einem chinesischen Fabrikarbeiter zeigt, wie man eine Schraube richtig in ein Metallteil dreht. [13] Man landet also letzten Endes doch wieder bei ganz konkreten Szenarien bzw. Orten des Austauschs, denen ganz bestimmte Widersprüchlichkeiten und Gegenläufigkeiten anhaften, welche wiederum auf Umwegen als Produkte von "Globalisierung" lesbar sind.
Tatsächlich wird der Maßstab des Lokalen vielfach als bestimmender Rahmen von kulturellen, ökonomischen und sozialen Produktions- und Reproduktionsweisen angenommen. [14] Gleichzeitig wird ihm auch eine besondere Aussagekraft im Hinblick auf überregionale, übernationale, ja überkontinentale Prozesse zugeschrieben. Und vielleicht ließe sich tatsächlich über die präzise Erfassung jeder einzelnen dieser lokalen Konstellationen - was selbstverständlich eine schier unendliche Aufgabe implizieren würde - allmählich zu so etwas wie einer "planetarischen Anschauung", oder einem "planetarischen Bewusstsein", gelangen; - eine Fantasie, wie sie auch in Konstruktionen des Internet als entmaterialisiertem "Weltgeist" anklingt - aber eben nur als Fantasie.
Ganz sicher müsste eine solche Anschauung, die weniger phantasmatisch denn vielmehr mosaikartig verfasst wäre, starken Patchwork-Charakter aufweisen. Alle erwähnten Sichtbarmachungen hätten darin demokratisch Eingang zu finden, so damit jemals der tatsächliche konzeptuelle Umfang von "Globalisierung" erschlossen werden soll: Bilder der brasilianischen Favelas ebenso wie jene von kalifornischen Suburbias; McDonald's in Teheran ebenso wie der anonyme persische Lebensmittelladen in irgendeiner westlichen Stadt. Dies müsste ergänzt werden durch die oben erwähnten "mappings", durch die multimediale Erfassung von Geld-, Kapital-, Arbeitskraft- und Ideen-Flows (so schwierig dies auch sein mag), sowie durch filmische Dokumente konkreter Lebensbedingungen unter neoliberalen Wirtschafts- und Politikverhältnissen. Und all dies müsste nicht nur auf die "typischen" oder wohl bekannten Orte der "Globalisierung" bezogen sein, sondern auch auf die "untypischesten" und "verstecktesten" - auf all jene Lokalitäten, die von den widerstrebigen Prozessen der "Globalisierung" ständig neu produziert bzw. neu "formatiert" werden. [15] Auf diesem Weg ließe sich vielleicht langsam zu einem vielteiligen, heterogenen und - im positiven Sinn - disparaten "Globalisierungs-Bild" gelangen, das die epistemische Grundlage für darauf aufbauende politische Mobilisierungen bilden könnte.
Schließlich können einzelne Bilder des Lokalen eine bestimmte "Gültigkeit" oder "Aussagekraft" nur insofern beanspruchen, als sie die übergeordneten, oft temporären Einflusssphären und Kräfte, denen die repräsentierten Orte ausgesetzt sind, mitreflektieren. Dazu ein Beispiel aus einem scheinbar entlegenen Bereich: einer der interessantesten und paradoxesten Aspekte der jüngeren elektronischen Kultur liegt darin, dass sie auch neue Formen von Ortsbezug, ja örtlicher Verankerung, mitzuproduzieren scheint. Paradox ist dies deshalb, weil diese Kultur - ausgehend etwa von Techno und seinen weithin wuchernden Subgenres - anfänglich stark mit einer ganz spezifischen Ortlosigkeit assoziiert wurde. Angetrieben vom "spirit" der utopischen Entgrenzung bzw. der zukunftsorientierten Überwindung materieller (und damit auch lokaler) Einschränkungen im Hier und Jetzt, speiste diese Musik von Anfang an ein ominöses, amorphes Globalbewusstsein. Letzteres konnte esoterisch - in Form eines holistischen Weltgeistes -, romantisch-einschließend - als Verabschiedung allen Ausschlussdenkens - oder schlichtweg pragmatisch - als begleitender Sound der unaufhaltsamen "Globalisierung" - kodiert sein. Dem gegenüber sind mittlerweile vielerorts "geografische Rückbindungen" dieser Globalmusik beobachtbar, und sei es nur in Form von Zuschreibungen ganz bestimmter Sound-Signaturen. Kurz gefasst, ist die sich immer weiter ausbreitende Electronica-Kultur einem in sich gegenläufigen Prozess ausgesetzt: Zum einen spielen die lokalen Differenzen, aus denen sich die "Globalkultur" (zumindest auf Konsum-Ebene) entscheidend speist, eine immer wichtigere Rolle, das heißt: Eingang von lokalen Differenzen in das so genannte Globale. Zum anderen werden vom ökonomischen Getriebe hinter der auf der Oberfläche einheitlich erscheinenden "Globalkultur" ständig neue Ungleichheiten produziert, also auch der unhintergehbare Niederschlag des Globalen im Lokalen. [16]
Eine vom Lokalen ausgehende, umfassendere Sichtweise (und Sichtbarmachung) von "Globalisierung" kommt also nicht umhin, die viel bemühte Ortsspezifik - etwa von kultureller Produktion - auszuweiten und als komplexeres Wechselspiel übergeordneter Kräfte zu verstehen oder, um mit dem Geografen David Harvey zu sprechen, Globalisierung als "Prozess der Produktion ungleicher zeitlicher und geografischer Entwicklung" [17] zu betrachten. Die notorischen Bilder von Käfig, Falle oder Gefängnis reichen dazu nicht aus. Eine adäquatere Begreiflich-Machung von "Globalisierung" - welche immer noch weit von einer verbindlichen Begriffsbildung entfernt wäre - müsste demnach auch von deren produktivem, prozesshaftem Charakter ausgehen und diese "Produktivität" anhand der vielen kleinen Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten im gegenwärtigen Sozialgefüge (egal wo) aufzuzeigen versuchen. Als differenzierende - und eben nicht homogenisierende - Kraft schreibt "Globalisierung" schließlich immer krassere Unterschiede in Geografien und Zeitlichkeiten ein, etwa jenen zwischen "Touristen" und "Vagabunden", wie Zygmunt Bauman es genannt hat, oder jenen zwischen Asyl-Suchenden und einer neuen "debattierenden Klasse", die von so alltäglichen, aber grundlegenden Problemen wie dem Recht auf Aufenthalt meist nur peripher tangiert ist, schließlich jenen zwischen (uns) "freien Menschen" und den "evil-doers" irgendwo da draußen, wie es neuerdings heißt. "Keep on rockin' in the free world", sang etwa Neil Young bereits im Wendejahr 1989, um im selben Atemzug selbstreflexiv festzustellen: "Don't feel like Satan, but I am to them". Im Jahr 2002 dreht Young den (patriotischen) Spieß angesichts der Ereignisse wieder um, und vielleicht trifft er damit - zumindest auf längere Sicht gesehen - niemand anderen als sich selbst: "Let's roll for Freedom / Let's roll for Love / We're goin' after Satan / On the wings of a Dove". [18]
In der letztgenannten Opposition ist bereits ein neuer visueller und konzeptueller Code am Werk - einer, in dem "Globalisierung" ihren aktuellsten Niederschlag in der Formel Freiheit versus Terror erfährt. Ein Code, den man unablässig bekämpfen sollte, um irgendwann einmal, am Ende eines langen Tages, zu einem adäquateren Bild und vielleicht auch einem angemessenen Begriff von "Globalisierung" zu gelangen.
[1] Vgl. dazu David
Harvey, Spaces of Hope, Berkeley/Los Angeles 2000, S.
133 ff.
[2] "Illegal migration is globalisation from below." (McKenzie Wark, Globalisation from Below: Migration, Sovereignty, Communication, nettime-Mailinglist, 16. Jänner 2002, http://www.nettime.org).
[3] Vgl. Sebastian Lütgert, Die Nomaden des Kapitals, in: Starship, 5 (2002), S. 56.
[4] So etwa Sergio Bologna im Gespräch mit Klaus Ronneberger und Georg Schöllhammer, in: springerin, 4 (2001), bes. S. 22.
[5] Eine/r der maßgeblichen Kräfte/Ströme von Globalisierung in der Theorie Arjun Appadurais; vgl. sein Buch Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis/London 1996, S. 33 ff.; vgl. auch Appadurai, Grassroots Globalization and the Research Imagination, in: Public Culture, Vol. 12, Nr. 1 (Winter 2000), S. 1-19.
[6] Global Dustbowl Ballads, in der Ausstellung Die Gewalt ist der Rand aller Dinge, Generali Foundation, Wien, 16. Jänner bis 21. April 2002; vgl. den gleichnamigen Katalog, Wien/Köln 2002, S. 87.
[7] Gerald Raunig im Konferenz-Outline zu Transversal, in: Malmoe, 04 (2002), S. 18.
[8] Vgl. exemplarisch Jeremy Brecher, Tim Costello und Brendan Smith, Globalization from Below: The Power of Solidarity, Cambridge, MA 2000; Maria Mies, Globalisierung von unten: Der Kampf gegen die Herrschaft der Konzerne, Hamburg 2001, sowie Arjun Appadurai, Deep Democracy: Urban Governmentality and the Horizon of Politics, in: Public Culture, Vol. 14, Nr. 1 (Winter 2002), S. 21-47.
[9] Vgl. Brian Holmes, Kartografie des Exzesses, Suche nach Nutzung, in: springerin, 1 (2002), S. 18 ff.
[10] Alle Documenta11-Infos siehe auch: http://www.documenta.de.
[11] "Genius stalking in new shoes / Have you got WTO blues", aus dem Song "Glitter in Their Eyes", auf Gung Ho, Arista 2000.
[12] Vgl. Harvey, Spaces of Hope, S. 233 ff.
[13] Publikumsgespräch im Österreichischen Filmmuseum, 6. April 2002; vgl. auch Oskar Negt & Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch, Bd. I, Frankfurt am Main 2001, S. 28 ff.
[14] Vgl. stellvertretend die Diskussion bei Appadurai, Modernity at Large, S. 178 ff.
[15] Vgl. ebd., S. 188 ff.
[16] Vgl. Christian Höller, Around the World? Around the World! Global Electronica zwischen Differenzausbeutung und kultureller Demokratisierung, in: springerin, 2 (2001), S. 8-11; englische Version unter: http://www.springerin.at/en, >backlist, >issue 2/01, >net section; sowie Christian Höller, Nicht-lokale Orte und lokale Nicht-Orte / Local Non-sites, Non-Local Sites, in: Sharawadgi. Hg. v. Christian Meyer u. Mathias Poledna. Köln 1999, S. 169-198.
[17] Harvey, Spaces of Hope, S. 60; vgl. dazu auch: Geografie der Ungleichheit. Interview mit dem Postmoderne- und Globalisierungstheoretiker David Harvey, in: springerin, 1 (2001), S. 18-22.
[18] "Let's Roll", auf: Are You Passionate? Reprise 2002.