09 2002
Das Empire, der Nordwesten und der Rest der Welt. Die "internationale zeitgenössische Kunst" im Zeitalter der Globalisierung
1. Kulturelle Globalisierung
Anthony Giddens zählt zu jenen Autoren, die Anfang der 90er Jahre den Begriff der Globalisierung in Umlauf brachten.[1] Als einer der organischen Intellektuellen des "Dritten Weges" trug er zur Forcierung jener "Politik der Globalisierung" (Bourdieu) bei, die im Gegenzug zur Herausbildung einer transnationalen sozialen Bewegung führte, die heute aus den unterschiedlichsten Motiven Widerstand gegen eine Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen leistet. Manchen erscheint die Globalisierung außerhalb spezieller Bereiche (wie den Finanzmärkten) nach wie vor als ein Mythos oder zumindest als ein weniger eindrucksvolles Phänomen als in den Jahren von 1890 bis 1914, der Zeit des Goldstandardregimes, auch als "Belle Époque der Globalisierung" bezeichnet. Andere, die an die Realität der Globalisierung glauben, sehen darin kaum etwas anderes als eine beschleunigte Verbreitung US-amerikanischer oder westlicher Modelle.[2]
Globalisierung wird heute sehr unterschiedlich definiert, wobei entweder materielle, kulturelle, zeitliche oder räumliche Aspekte betont werden. Zu den Elementen solcher Definitionen zählen das "Handeln bzw. die Effekte des Handelns über Distanzen", die "Raum-Zeit Kompression", die "globale Integration" und "beschleunigte Interdependenz", die "Neuordnung interregionaler Machtbeziehungen" und manchmal auch ein wachsendes Bewusstsein der "globalen Bedingung".[3] Einer "globalistischen" Position im Sinne der Metatheorie der Globalisierung[4] neigen Michael Hardt und Toni Negri zu, wenn sie von einer "unaufhaltsamen und unumkehrbaren Globalisierung ökonomischer und kultureller Austauschprozesse" ausgehen.[5] Sieht Giddens hinter den verschiedenen institutionellen Dimensionen der Globalisierung - der kapitalistischen Weltwirtschaft, dem System der Nationalstaaten, der militärischen Weltordnung und der internationalen Arbeitsteilung - nichts anderes als die "kulturelle Globalisierung"[6], so sprechen Hardt und Negri die Regulierung des globalen Austausches einer neuen souveränen, globalen Macht zu - dem Empire. Das Empire etabliere, so eines ihrer zentralen Argumente, im Gegensatz zu den früheren imperialistischen Strukturen kein territoriales Zentrum der Macht: "In contrast to imperialism, Empire establishes no territorial center of power and does not rely on fixed boundaries or barriers."[7] Das Empire wird in Anknüpfung an postmoderne Theorien vielmehr als ein dezentrierter und deterritorialisierender Herrschaftsapparat verstanden.
Hardt und Negri schenken der kulturellen Sphäre bzw. dem Diskurs der "kulturellen Globalisierung" keine gesonderte Aufmerksamkeit. Dieser Diskurs kam vor dem Hintergrund der Einsicht auf, dass die einzelnen gesellschaftlichen Sphären (z. B. Ökonomie, Politik, Ökologie, Kultur, Kunst) durch spezifische Entwicklungsmuster gekennzeichnet sind, die nicht einfach auf andere Sphären übertragen werden können. Malcolm Waters z. B. behauptet, dass der kulturelle Bereich, und die Hochkultur im Speziellen, noch deutlichere Züge von Globalisierung aufweisen als etwa die Sphären von Ökonomie und Politik.[8]
Vor dem Hintergrund der Verbreitung solcher und ähnlicher Annahmen in Verbindung mit weitreichenden Deterritorialisierungs- und Dezentrierungsthesen in der zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen und kunsttheoretischen Literatur, möchte ich mich Entwicklungen im Feld der Kunst zuwenden. Vielfach wird die Position vertreten, dass dieses kulturelle Subfeld durch ein besonders hohes Maß an Globalisierung gekennzeichnet sei. So gehen manche heute so weit zu behaupten, dass "in kaum einer anderen Sphäre der Kultur die Verschränkung von Nord und Süd, von Ost und West so intensiv (ist) wie in der Bildenden Kunst."[9]
2. Kunst und kultureller Imperialismus
Unter den Vertretern der Globalisierungsthese besteht weitgehende Übereinstimmung, dass die Anfänge dieses Prozesses im 19. Jahrhundert oder sogar früher anzusetzen sind.[10] Als der Begriff der "Globalisierung" für diese Entwicklungen noch nicht verfügbar war, wurde in diesem Zusammenhang von "Inter-" oder "Transnationalisierung" gesprochen. So trug der britische Künstler Rasheed Araeen in den 70er Jahren seine scharfe Kritik an den Exklusionen des Kunstfeldes noch unter Rückgriff auf den Begriff des "Internationalismus" vor. Ähnlich wie die heute als "Skeptiker" oder "Traditionalisten" apostrophierten Kritiker der Globalisierungsthese, wandte sich Araeen damals gegen das, was er für einen Mythos hielt, nämlich den der zeitgenössischen Kunst zugeschriebenen "Internationalismus". In seinem 1978 im ICA London präsentierten Manifest heißt es:
"Der Mythos des Internationalismus der westlichen Kunst muss jetzt zerstört werden. (...) Die westliche Kunst drückt ausschließlich die Besonderheiten des Westens aus (...). Sie ist nur eine transatlantische Kunst. Sie reflektiert nur die Kultur Europas und Nordamerikas. Der derzeitige "Internationalismus" der westlichen Kunst ist nicht mehr als eine Funktion der politisch-ökonomischen Macht des Westens, der seine Werte anderen Menschen aufzwingt. (...) Das Wort international sollte mehr als nur ein paar westliche Länder bedeuten (...)."[11]
Aareen vertrat nichts anderes als eine Version der Theorie des kulturellen Imperialismus. In ihren gängigsten Varianten geht sie von der Annahme aus, dass die globale Kultur in Wirklichkeit eine partikulare Kultur sei, nämlich eine westliche, kapitalistische oder US-amerikanische.[12] Allgemeinere Versionen der Theorie identifizieren den Imperialismus nicht einfach mit dessen westlichen Spielarten und formulieren komplexere Annahmen über Mechanismen und Effekte. So wird unter Imperialismus in der Zentrum-Peripherie Theorie von Galtung ein hochdifferenzierter Typ von Herrschaftsverhältnis verstanden, für den "Brückenköpfe" - des "Zentrums des Zentrums" im "Zentrum der Peripherie" - besonders wichtig sind.[13]
Kennzeichnend für Imperialismus im Sinne von Galtungs "struktureller Theorie" ist eine Herrschaftsform, die auf eine Aufspaltung von Kollektiven und auf bestimmte Interaktionsbeziehungen, -muster und -strukturen hinausläuft. Einige Teile des Systems werden in von Interessenharmonie gekennzeichnete Beziehungen gesetzt, andere in Beziehungen, deren Merkmal die Disharmonie von Interessen ist.[14] Interessenharmonie bedeutet unter anderem, dass sich in der Peripherie Eliten herausbilden, die eng mit den Eliten des Zentrums verbunden sind. Kulturelle Penetration ist deshalb ein wichtiger Mechanismus. Ein Teil der Eliten der Peripherie wird kooptiert und belohnt bzw. entwickelt Bedürfnisse, die nur vom Zentrum befriedigt werden können. Die kooptierten lokalen Eliten übernehmen Lebensstile, Kultur und Ideologien des Zentrums. Dieser Prozess intellektueller Penetration vollzieht sich auch über den Besuch der Universitäten des Zentrums sowie über den Import von kulturellen Artefakten, von Wissenschaft und Theorie.[15] Die Brückenkopfthese findet sich ansatzweise auch in Araeens Manifest, wenn er auf die dominante Rolle westlicher Werte in den urbanen Milieus der Dritten Welt verweist und die geteilte Loyalität jener indigenen Eliten hervorhebt, die ein Interesse an dem "Mischmasch von westlichen Techniken und einheimischen Bildern" zeigen, die er als "neokoloniale Kunst" bezeichnet.[16]
3. Wandel des Kunstfeldes
Es stellt sich die Frage, inwieweit ein solches Herrschaftsmodell die Realität nach wie vor adäquat beschreiben kann. Zur Zeit von Araeens Intervention im Kunstfeld exemplifizierte es Galtung auf Makroebene am Verhältnis der USA bzw. der Sowjetunion und den Ländern, die sich in deren Einflussbereich befanden. Die teils bipolare, teils tripolare Konstellation (mit der "Dritten Welt") der 70er Jahre hat sich Galtungs Theorie zufolge nach Ende des Kalten Krieges in eine siebenpolige Welt verwandelt, deren Regionen "zu einem gewissen Grad vom Hegemon der Hegemonen, den Vereinigten Staaten von Amerika dominiert werden."[17] Außerdem wird postuliert, dass unter Bedingungen forcierter Globalisierung die Eliten der Peripherie tendenziell an Bedeutung als Brückenköpfe für das Zentrum verlieren.[18] Am Begriff des Imperialismus wie auch am Zentrum-Peripherie-Modell wird im Gegensatz zu Hardt und Negri und zahlreichen anderen postmodernen Theoretikern[19] trotz dieses Wandels festgehalten.
Auch im Kunstfeld ergaben sich in den letzten Jahrzehnten Veränderungen, wenngleich keine vergleichbar tiefgreifenden wie im Weltsystem. So konstatiert Araeen in einem neueren Text eine Öffnung des Kunstfeldes gegenüber "anderen" Künstler/innen seit Mitte der 80er Jahre, die er mit der Kontextveränderung vom eurozentrischen Modernismus zum Postmodernismus in Zusammenhang bringt.[20] Die "jungen, postkolonialen Künstler/innen afrikanischer oder asiatischer Herkunft” seien nicht mehr von ihren "weißen/europäischen Zeitgenossen” segregiert: "Both of them display and circulate within the same space and the same art market, recognized and legitimated by the same institutions.”[21] Solche und ähnliche Beobachtungen, die auf einen Wandel des Kunstfeldes hindeuten, finden sich in jüngerer Zeit gehäuft in Texten von Kritikern und Kuratoren.
So behauptet etwa Marc Scheps, Kurator der in großem Stil angelegten Kölner Ausstellung "Global Art" aus dem Jahre 2000, in einem Beitrag, der eine Reihe kulturwissenschaftlicher Autoren überzeugte[22], eine forcierte Globalisierung der Kunst in den beiden vergangenen Jahrzehnten. 1980 sei die Kunst in die "globale Gegenwart" eingetreten, nach einer langen Geschichte des "interkulturellen Dialogs" im 20 Jahrhundert, eine Phase, die andere, wie etwa Adrian Piper, in weniger euphemisierender Form als eine Geschichte der Appropriation nicht-westlicher Kulturen durch die "euroethnische Kunst" deuten.[23] Seit 1989 führe die Kunst, so Scheps, einen "globalen Dialog", der durch die neuere visuelle Sprache, also Medien und Praxisformen wie Video oder Computer, aber auch Installationskunst und Performance, möglich geworden sei. Die Globalisierung des Kunstfeldes wird von Scheps insbesondere festgemacht an der erhöhten Mobilität von Künstler/innen, an Ausstellungen nicht-westlicher Kunst im Westen sowie an der Verbreitung von Kunstbiennalen und Kunstinstitutionen in nicht-westlichen Ländern, die in symmetrische weltweite Netzwerkverbindungen eingebunden seien.[24]
Hou Hanru, der gleichfalls auf die Proliferation von Kunstbiennalen außerhalb Europas und Nordamerikas seit Mitte der 80er Jahre hinweist, führt als Beispiel für die Globalisierung von Kunstinstitutionen die Expansionsbestrebungen des New Yorker Guggenheim Museums an.[25] Georg Schöllhammer konstatiert in den europäischen Kunsthäusern eine "Vielzahl von Ausstellungen zum Beispiel mit afrikanischer Gegenwartskunst" und spricht von den "neuerdings hofierten KünstlerInnen aus Afrika, Lateinamerika und Asien".[26] Yilmaz Dziewior unterstreicht für die 90er Jahre die stärkere Beteiligung von nicht-okzidentalen Künstler/innen an den großen Mainstream-Ausstellungen des Kunstfeldes wie der Biennale von Venedig und der Documenta in Kassel, eine Tendenz, die auf der Documenta11 des Jahres 2002 noch augenfälliger wurde.[27]
In den Bezugsrahmen der Globalisierungstheorie gestellt, verweisen diese Texte von Kuratoren und Kritikern auf die räumliche Ausdehnung der sozialen Beziehungen der Kunstfeldakteure, auf die Vergrößerung der Dichte von Interaktionen, nicht zuletzt gestützt auf die neuen elektronischen Kommunikationsnetzwerke, auf die gewachsene kulturelle Interpenetration im Kunstfeld in Form erhöhter Inklusion bzw. Mobilität von Akteuren wie von Produkten sowie auf die Globalisierungsprozesse im Bereich der Infrastruktur.[28]
Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen erscheint manchen bereits ein von alten Strukturierungen befreites globales Zeitalter angebrochen, das ein Denken in Zentrum-Peripherie Kategorien obsolet machen würde.[29] Andere sind ambivalent bis kritisch in der Bewertung dieses Wandels. So hebt Schöllhammer hervor, dass die Ausstellungen und Handelstransporte zwar bislang im Westen unbelichtete Kunstszenen sichtbar machen, andererseits aber auch zur Verdunkelung der Einschluss- und Ausschlussverhältnisse im Kunstbetrieb beitragen würden.[30] Martha Rosler beklagt am Beispiel der "Ankunft von Identitätspolitik und Multikulturalismus in der Kunstwelt" eine modische Einbindung von Randgruppen und kommt zum Schluss, dass "diese marginalen Verschiebungen (..) die ‚weiße’ Machtstruktur (...) nicht verändern."[31] Und Araeen nimmt trotz der Öffnung des Systems eine Kontinuität der Apartheid wahr, weil die Inklusion post-kolonialer Künstler/innen mit deren Stigmatisierung verbunden sei, müssten ihre Arbeiten doch "Identitätskarten, mit afrikanischen oder asiatischen Zeichen” zeigen.[32]
4. Die Beständigkeit des Zentrums
Cochrane und Pain zählen zu den Vertretern der Globalisierungstheorie, die vor allem Prozesse der Dehnung, Intensivierung und Beschleunigung der Interdependenz und Integration des sozialen Lebens vor Augen haben. Von den prozessorientierten Zugängen zu unterscheiden sind Theorien, die Globalisierung eher als einen idealtypischen Zustand einer globalen Ordnung verstehen, der auch als Maßstab herangezogen werden kann, um Grad und Grenzen von Prozessen der Globalisierung abzuschätzen.[33] Auf Daten über ökonomische Parameter der Weltwirtschaft und einen idealtypischen Maßstab der Globalisierung gestützt, kamen etwa Hirst und Thompson zur Einschätzung vom Mythos einer Globalisierung der Ökonomie.[34] Der prozessorientierte Zugang tendiert dazu, Ausmaß und Reichweite der Globalisierung zu übertreiben, da er die Gegenwart mit der (jüngeren) Vergangenheit vergleicht und auf die Berücksichtigung von idealtypischen Modellen der Globalisierung verzichtet. Die Frage nach der Relevanz und nach den Effekten der seit den 80er Jahren erfolgten Veränderungen im Kunstfeld, die in Richtung Globalisierung deuten, wird hier deshalb nach der Logik des prozessorientierten Ansatzes in Verbindung mit der Berücksichtigung idealtypischer Modelle behandelt.
Als empirische Indikatoren bieten sich vor allem die Daten der seit 1970 (mit wenigen Ausnahmen jährlich) veröffentlichten Künstler/innen-Ranglisten der Wirtschaftszeitschrift Capital an. Mit diesen Ranglisten der Top 100 Künstler/innen des Kunstfeldes wird beansprucht, das symbolische Kapital von Künstler/innen nach dem Kriterium ihrer Sichtbarkeit im internationalen Ausstellungsbetrieb zu erfassen. Auf diese Weise wird zugleich das Zentrum des Kunstfeldes - die vom Kunstestablishment in höchstem Maße anerkannten Künstler/innen - von der Peripherie der breiten Masse der Produzent/innen getrennt.[35] Das Verfahren zur Bestimmung des symbolischen Kapitals der Künstler/innen erscheint trotz mancher Probleme hinreichend valide und zuverlässig, um fundierte Schlüsse über Prozesse der Globalisierung zu erlauben, die sich nicht bloß auf symbolpolitischer Ebene oder in den eher sekundären Bereichen des Kunstfeldes abspielen.
Von Anfang an wurden im Capital Kunstkompass die Herkunftsländer der Künstler/innen ausgewiesen, sodass es möglich ist, Fragen der Inklusion und Exklusion nach territorialen Kriterien nachzugehen. Ein idealtypischer Begriff von Globalisierung impliziert eine hohe Entropie der sozial-räumlichen Rekrutierung der Akteure, die wichtige Positionen im Kunstfeld einnehmen. Territoriale Grenzen und räumliche Fixierungen sollten in einer globalisierten Welt, die letztlich auf die Schaffung einer "Weltbevölkerung" hinausläuft[36], von geringer Bedeutung sein, keine der Populationen der größeren Weltregionen sollte in dieser Hinsicht gegenüber den anderen deutlich dominieren.
Um das Ausmaß sozial-räumlicher Konzentrationen und deren Veränderungen in der Zeit zu ermitteln, reicht es, ein einfaches Modell des Raumes heranzuziehen. Für die empirischen Analysen bot sich deshalb eine Weltkarte von Galtung an, in welcher der Norden und der Süden mit dem Osten und dem Westen gekreuzt und demgemäß "vier Ecken der Welt" unterschieden werden. Der "Nordwesten" umfasst gemäß der zu Grunde gelegten Kartographierung Nordamerika und Westeuropa, der "Nordosten" die ehemalige Sowjetunion, Osteuropa, die Türkei, die ehemaligen Sowjetrepubliken mit mehrheitlich muslimischem Bevölkerungsanteil sowie Pakistan und Iran. Der "Südwesten" schließt Lateinamerika, die Karibik, Westasien, die arabische Welt, Afrika, Südasien und Indien ein, der "Südosten" Südostasien, Ostasien, die Pazifischen Inseln, China und Japan. 20% der Weltbevölkerung leben im Norden, 80% im Süden.[37]
Die Globalisierungsthese impliziert bei prozessorientierter, diachroner Interpretation einen Zuwachs an Entropie, was die Herkunft der Künstler/innen aus den vier Weltregionen betrifft. Ein möglicher idealtypischer Maßstab wäre die Irrelevanz der territorialen Herkunft, also die gleichmäßige Rekrutierung von erfolgreichen Künstler/innen aus den vier Ecken der Welt, im Gegensatz zu ihrer Herkunft aus "nur ein paar westlichen Ländern", wie Araeen in den 70er Jahren formulierte. Die Anteile der unter den Top 100 der Welt platzierten Künstler/innen, die nicht aus den "nordwestlichen" Ländern stammen, können somit als Indikatoren für die Globalisierung des Kunstfeldes dienen.
Grafik 1 weist die Anteile der auf den Top 100 Ranglisten platzierten Künstler/innen aus dem Nordosten, dem Südwesten und dem Südosten der Welt einzeln und als Summe für den im Weltmaßstab überaus dynamischen Zeitraum 1970-2001 aus.[38] Außerdem enthält sie eine Trendlinie für den nicht dem Nordwesten angehörenden "Rest der Welt" auf der Grundlage des "gleitenden Durchschnitts". Der zentrale Befund ist darin zu sehen, dass der summierte Anteil aller nicht aus dem Nordwesten stammenden Künstler/innen auch in den Jahren 2000 und 2001, dem Gipfel der Kurve, sich lediglich auf 10% beläuft. Damit wurden die in den frühen 70er Jahren bereits erreichten Anteile nur um 2% überboten. Im Vergleich dazu stieg der Anteil weiblicher Künstler von 4% im Jahre 1970 auf 22% im Jahre 2000 an.[39] Auch im "global age" (Albrow) zu Anfang des 21. Jahrhunderts belaufen sich die Anteile von Künstler/innen aus drei der vier Ecken der Welt auf lediglich jeweils 2-4%, ein krasses Bild der Exklusion u. a. von Osteuropa, Lateinamerika, Australien sowie von Asien und Afrika, auf deren "postkoloniale Künstler/innen" Araeen vor allem abhebt. Statistisch gesehen handelt es sich jedoch um marginale Inklusionsprozesse, jedenfalls was die Dynamik im Zentrum des Feldes betrifft.
Eine markante Gegenposition zur Globalisierungstheorie stellt die These der "trilateralen Regionalisierung" dar. Sie kann sich auf den Befund stützen, dass die "kapitalistische Triade" von USA, EU und Japan lediglich 15% der Weltbevölkerung umfasst, in den 90er Jahren aber zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der weltweiten ökonomischen Aktivitäten auf sich konzentrieren konnte.[40] Grafik 2 verdeutlicht, in welch hohem Maße sich das Zentrum des Kunstfeldes aus zwei der drei dieser ökonomisch mächtigen Triaderegionen rekrutiert, und zwar den USA und der EU.[41] Summiert man über alle Triaderegionen, ergeben sich Anteile in einer Spannweite von 95% bis 82% für den betrachteten Zeitraum. Diese Zahlen übertreffen die Anteile der Triade an den weltweiten ökonomischen Aktivitäten noch deutlich. Analog zur ökonomischen Globalisierung (außerhalb der Finanzmärkte) ließe sich auf dieser Grundlage somit vom Mythos der Globalisierung des Kunstfeldes sprechen.
Auch Details verdienen Aufmerksamkeit. Ungeachtet des ökonomischen Aufstiegs Japans in den 70er und 80er Jahren erhöhte sich die globale Sichtbarkeit der Künstler/innen dieses Landes nicht. Nicht weniger interessant erscheint, dass die Veränderung der Position der US-Kunst nicht unmittelbar dem Wandel der Position der USA im Weltsystem folgt. So konnte der Aufstieg zum "Hegemon der Hegemonen" den in den späten 70er Jahren einsetzenden relativen Bedeutungsverlust der US-Kunst nicht aufhalten. Der Anteil von Künstler/innen aus den USA im Zentrum des Kunstfeldes erreichte seinen Gipfel im Jahre 1978 mit nahezu 50%, sank seit dieser Zeit aber bis auf ein Drittel ab. Trotz eines leichten Bedeutungsverlustes in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, bleibt die EU-Kunst mit Anteilen um die 50% hingegen in einer besonders starken Stellung.
Das Zentrum des Feldes befindet sich nach wie vor fest in der Hand des Nordwestens, dominiert von der US-EU Dyade. In den letzten Jahren gab es Anzeichen für eine leichte Abschwächung der extrem hohen Konzentrationen auf diese Regionen und einen Trend in Richtung Globalisierung, der allem Anschein nach ausgeprägter ist als der in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die präsentierten Daten die räumliche Inklusivität des Kunstfeldes in einer Hinsicht überschätzen: Die Mehrzahl der nicht aus dem Nordwesten stammenden Künstler/innen lebt(e) und arbeitet(e) nichtsdestoweniger in dessen Kunstmetropolen, vor allem in New York, aber auch in London, Paris, Köln und Berlin. Anerkennung im Feld setzt nach wie vor die reale Integration in diese territorial abgrenzbaren Zentren der künstlerischen Produktion und Kommunikation voraus.
Für Globalisierungstheorien, welche die Entbettung und Dehnung sozialer Beziehungen betonen und für postmoderne Theorien (einschließlich der des "Empire"), die eine umfassende Entterritorialisierung der sozialen Beziehungen behaupten, sind starke räumliche Konzentrationen, wie die aufgezeigten, schwer zu integrierende "Anomalien". In manchen Versionen der Globalisierungstheorie werden die räumlichen Konzentrationen von Macht - wie etwa in den "global cities" - deshalb einfach als Indizien für eine wachsende Globalisierung umgedeutet.[42] In den Modellen, die Zentrum-Peripherie-Vorstellungen verabschieden und die Entterritorialisierung betonen, gibt es wiederum die Neigung, die Evidenz für räumlich abgrenzbare Zentren der Macht[43] zu ignorieren. Zentrum-Peripherie-Modelle erinnern an die Verdichtung und räumliche Konzentration von Macht, sei es in Finanzmärkten, sei es in Feldern wie dem der Kunst. Sie führen zu anderen Interpretationen als die typischen Zugänge im Rahmen von Globalisierungstheorien. So folgen die Wanderungen von Wissenschaftler/innen und Künstler/innen von der Peripherie in die Zentren des Nordwestens aus der Perspektive von Zentrum-Peripherie-Theorien klassischen Braindrain-Mustern, von denen das Zentrum und das Zentrum der Peripherie stärker profitieren als die Peripherie der Peripherie. Auch erscheint die Proliferation von Kunst-Biennalen[44] und Kunstinstitutionen außerhalb der Länder des Nordwestens nicht einfach als ein zu feierndes Indiz für zunehmende Globalisierung. Es stellen sich vielmehr Fragen wie etwa die, in welchem Maße es sich dabei um die Errichtung von Brückenköpfen des Nordwestens mit Hilfe kulturell durchdrungener indigener Eliten handelt, und in welchem Maße um den Aufbau von Gegenmacht[45] in Ländern, deren Eliten aufgrund der Globalisierung tendenziell an Macht verlieren.
Mein Dank gilt Sophia Prinz (Lüneburg) für die Herstellung der Grafiken.
[1] Vgl. Giddens 1990.
[2] Vgl. z. B. Bourdieu 2001.
[3] Vgl. Held/McGrew 2000, S. 3. Menzels (2001, S. 226) Definition umfasst zeitliche und räumliche Aspekte, wenn er unter Globalisierung einen "Prozess der Vertiefung und Beschleunigung von grenzüberschreitenden Transaktionen (...) bei deren gleichzeitiger räumlicher Ausdehnung" versteht.
[4] In der angelsächsischen Literatur wird heute unterschieden zwischen Globalisten, die – bei unterschiedlicher Bewertung – an die Realität der Globalisierung glauben, Tradionalisten oder Skeptikern, die in der Globalisierungsthese einen Mythos sehen oder sie zumindest für stark übertrieben halten, und Transformationalisten, welche eine mittlere Position einnehmen und oftmals die Widersprüchlichkeit und den offenen Ausgang der Prozesse betonen. Vgl. z. B. Cochrane/Pain 2000, S. 22ff.
[5] Hardt/Negri 2000, S. XI.
[6] Giddens (1990) orientiert sich allerdings an einem technologisch verengten Kulturbegriff und identifiziert Kultur in diesem Zusammenhang mit Kommunikations- und Medientechnologien. Zur Kritik vgl. Tomlinson 1999, S. 20.
[7] Hardt/Negri 2000, S. XII.
[8] Die kulturelle Globalisierung setzte Waters (1995, S. 142f.) zufolge im Feld der Hochkultur auch früher ein als im Bereich der Populärkultur, für die erst technologische Entwicklungen wie Film und elektronische Medien die Voraussetzungen für die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen und Orientierungen schufen.
[9] Kramer 2001, S. 178.
[10] Dürrschmidt (2001, S. 25) zufolge wird der Beginn der Globalisierung vielfach bereits im 16. Jahrhundert angesetzt.
[11] Araeen 1997, S. 98.
[12] Vgl. Mackay 2000, S. 56, Tomlinson 1999, S. 89.
[13] Galtung 1972, S. 29.
[14] Imperialismus impliziert die folgende Konstellation: Interessenharmonie zwischen dem Zentrum des Zentrums und dem Zentrum der Peripherie, größere Interessendisharmonie innerhalb der Peripherie als innerhalb des Zentrums und Interessendisharmonie zwischen der Peripherie im Zentrum und der Peripherie der Peripherie. Hinzu kommen vertikale Interaktions- bzw. Tauschbeziehungen. Sie tragen über asymmetrischen Austausch und differenzielle Intra-Akteur- oder "Inchange"-Effekte der Interaktion zur Vergrößerung der Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie bei, insbesondere auch zu den besonders markanten Differenzen zwischen Zentrum und Peripherie der Peripherie, denn zwischen Zentrum und Peripherie ist "Ungleichheit selbst ungleich verteilt". Eine spezielle Interaktionsstruktur sichert die Reproduktion der Ungleichheit, wobei der Mechanismus der Fragmentierung besonders wichtig ist. Vgl. Galtung 1972, S. 35ff.
[15] Galtung 1980, S. 113ff.
[16] Araeen 1997, S. 98.
[17] Die Zentren der sieben in "Konflikt und Kooperation einpoligen Regionen" sind gemäß dieser Theorie die USA, die EU, China, Japan sowie Rußland+, Türkei+ und Indien+, wobei "+" bedeutet, dass auch andere Regionen Teil dieser Zentren sind. Vgl. Galtung 1997, S. 104-106.
[18] Unter Bedingungen transkontinentaler Echtzeitkommunikation werden "keine lokalen Stellvertreter mehr benötigt; der Einkauf erfolgt per Internet direkt über das Zentrum, und die Lieferung erfolgt über vom Zentrum kontrollierte Absatzkanäle. Dies stellt für die Eliten der Peripherie eine große Bedrohung dar." Galtung 2000a, S. 132. Damit wird allerdings angesichts der begrenzten Bedeutung des e-commerce sowie des ausgeprägten "digital gap" zwischen Zentrum und Peripherie eher eine fernere Zukunft als die Gegenwart beschrieben.
[19] Zur Gegnerschaft "postmoderner" Theoretiker gegenüber solchen Modellen vgl. Featherstone 1990.
[20] "The situation now is very different. The young generation of artists of non-european origins, whom I would call here "other" artists, are today very much around as part of the contemporary art scene, not only within the national boundaries of the West – such as in Britain – but globally.", Araeen 2001, S. 15.
[21] Araeen 2001, S. 23.
[22] Vgl. Wagner 2001, Kramer 2001, Hippe 2001.
[23] "By the appropriative character of Euroethnic art, I mean its tendency to draw on the art of non-Euroethnic cultures for inspiration.”, Piper 1996, S. 209.
[24] Scheps 1999, S. 16ff.
[25] Hanru 1999, S. 337ff.
[26] Schöllhammer 1999, S. 40.
[27] Dziewior 1999, S. 345. Zur Documenta 11 vgl. die Liste der beteiligten Künstler/innen im Appendix des Katalogs zur Documenta11_Plattform5.
[28] So umfasst Globalisierung aus der Perspektive von Cochrane/Pain (2000, S. 15ff.) eine Ausdehnung sozialer Beziehungen über nationalstaatliche und regionale Grenzen hinaus, eine Vergrößerung der Dichte von Interaktion über die Welt gestützt auf elektronische Ströme und Kommunikationsnetzwerke, eine wachsende Interpenetration von Menschen bzw. Produkten aus voneinander entfernten Kulturen durch Im- und Exportprozesse bzw. Migration und die Verstärkung einer globalen Infrastruktur, die Operationen globalisierter Netzwerke erlaubt.
[29] So schreibt Scheps (1999, S. 20), dass "an die Stelle der Zentrum-Peripherie-Struktur ein Netzwerk (tritt), dessen Knoten kulturelle und künstlerische Zentren sind, die jederzeit auf nicht-hierarchische Weise miteinander kommunizieren können. (...) Mit dem Verschwinden der Begriffe von Zentrum und Peripherie wird auch die Aufteilung in einen Westen und einen Nicht-Westen nur noch eine historische Erinnerung sein." Auch Dziewior (1999, S. 345) meint eine "langsame, aber kontinuierliche Auflösung der traditionellen Aufteilung von Zentrum und Peripherie" feststellen zu können.
[30] Schöllhammer 1999, S. 41.
[31] Rosler 1997, S. 37.
[32] "The white/European artist has no obligation to the multicultural society and he does not require any sign of identity for the work to be recognized; the ‚other’ artists must carry the burden of the culture they have originated from, and they must indicate this in their art works before they can be recognized and legitimated.”Araeen 2001, S. 23.
[33] Vgl. Held/McGrew 2000, S. 4.
[34] Hirst/Thompson 2000.
[35] Die Rangreihen stützen sich auf die Berücksichtung von Künstlerinnen in Einzelausstellungen in den aus der Sicht des Kunstestablishments wichtigsten Institutionen bzw. Gruppenausstellungen und sekundär auch auf die Präsenz in bestimmten Kunstzeitschriften. Im Jahr 2001 etwa wurden 160 Kunstinstitutionen, 130 Gruppenausstellungen und 5 Kunstzeitschriften berücksichtigt. Zunächst werden Kunstinstitutionen nach einem Expertenrating gewichtet bzw. die Gruppenausstellungen ausgewählt, im zweiten Schritt werden dann die in diesen Institutionen bzw. Ausstellungen am häufigsten gezeigten Künstler/innen ermittelt. Vgl. Rohr-Bongard 2002, S. 134.
[36] Vgl. etwa die Definition von Galtung (2002a, S. 42): "Am Ende der Globalisierung (steht) eine einstaatliche Welt, geprägt von einer Menschheit, die sich als eine Nation (bzw. als Weltvolk) begreift."
[37] Vgl. Galtung 2000b, S. 14.
[38] Die Werte für die Jahre, in denen die Rankings nicht oder nach anderen Kriterien als üblich ermittelt wurden (1980, 1982, 1984, 1985, 1987), wurden mit Hilfe der Methode der linearen Interpolation bestimmt.
[39] Zur Geschlechterinklusion vgl. Quenzel 2000.
[40] Thompson 2000, S. 110ff.
[41] Der EU-Anteil wurde über den gesamten Zeitraum für die heutigen 15 EU-Länder berücksichtigt. Zu berücksichtigen ist, dass etwa ein für die europäische Kunst wichtiges Land wie die Schweiz fehlt.
[42] Vgl. z. B. Cochran/Pain 2000, S. 17, die in bestimmten Weltstädten Knoten der Macht sehen, aber dies als Indiz von Globalisierung deuten.
[43] Vgl. Sassen 2000.
[44] Gemeint sind u. a. die Bi- und Triennalen etwa in Brisbane, Dakkar, Havanna, Tirana, Vilnius, Johannesburg, Istanbul, Kairo und Kwang Ju. Zum Boom solcher Biennalen vgl. auch Boecker 2002.
[45] Zu dieser Interpretation neigt Hanru 1999, S. 347.
Literatur
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Araeen, Rasheed, Westliche Kunst kontra Dritte Welt. In: Peter Weibel (Hg.), Inklusion : Exklusion. Versuch einer Kartografie der Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration. Köln 1997, S. 98-103.
Boecker, Susanne, Biennalen. Kunstforum International, Bd. 161, 8/9 2002, S. 422-439.
Bourdieu, Pierre, Die Durchsetzung des amerikanischen Modells und ihre Folgen. In: Ders., Gegenfeuer 2. Konstanz 2001, S. 27-33.
Dürrschmidt, Jörg, Globalisierung. Bielefeld 2002.
Dziewior, Yilmaz, On the Move. Interkulturelle Tendenzen in der aktuellen Kunst. In: Marc Scheps, Yilmaz Dziewor, Barbara Thiemann (Hg.), Kunstwelten im Dialog - von Gauguin zur globalen Gegenwart. Köln 1999, S. 345-350.
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Grafik 1: Drei Ecken der Welt. Die Sichtbarkeit ihrer Kunst 1970 – 2001 (Anteile an Top 100 Künstler/innen in %, Sekundäranalyse Kunstkompass Capital)
Grafik 2: Die Sichtbarkeit der Kunst der Triade 1970 – 2001 (Anteile an Top 100 Künstler/innen in %, Sekundäranalyse Kunstkompass Capital)