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12 2007

Bourdieus Fotografie der Gleichzeitigkeit

Christian Kravagna

Pierre Bourdieu hat in den späten 1950er Jahren in Algerien eine wissenschaftliche Praxis entwickelt, die neben all ihren anderen methodologischen Leistungen und soziologischen bzw. ethnologischen Erkenntnissen durch eine bemerkenswerte Abweichung von einer Konvention ethnografischer Repräsentation gekennzeichnet ist. Wenn man Bourdieu mit Bezug auf seine algerischen Arbeiten als Ethnologen betrachtet, dann ist er offensichtlich ein Ethnologe, der von Anfang an gegen die ethnografische Sitte der „Verweigerung von Gleichzeitigkeit“ verstößt. Ich möchte hier die fotografische Praxis Bourdieus in Algerien als visuelle Manifestation einer Chronopolitik verstehen, die in bemerkenswerter Weise von der dominanten Chronopolitik der Ethnologie, die das Verhältnis von Selbst und Anderem strukturiert, abweicht.

Bekanntlich hat Bourdieu in seinen Untersuchungen zu Ökonomie und Kultur der algerischen Übergangsgesellschaft dem Faktor Zeit eine bedeutende Rolle beigemessen. Er tut dies etwa dort, wo er das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Verständnisse des Ökonomischen – also algerisch-traditionaler und westlich-kapitalistischer Einstellungen und Handlungen in Bezug auf Sparen, Bevorratung und Investition – mit divergenten Zeitverständnissen und unterschiedlichen Formen von Rationalität argumentiert. Bourdieu ging es nicht nur um eine wissenschaftliche Erfassung spezifischer ökonomischer Kulturen, sondern er verstand deren genaue Darstellung, wie Franz Schultheis in seiner intellektuellen Biografie Bourdieus gezeigt hat,[1] im Sinne einer Rehabilitation einer Kultur, die sich, aus kolonialrassistischer Sicht, störrisch gegenüber der „Zivilisierungsmission“ der Franzosen verhielt und einem eurozentrisch verengten Verständnis von Rationalität als unfähig zur Modernisierung erschien. Dem wegen seiner Kritik am Algerienkrieg strafweise nach Algerien in den Militärdienst versetzten jungen Philosophen ging es mit der Beschreibung einer ethnozentrisch verkannten anderen Kultur und aufgrund einer Universalisierung der kapitalistischen Wirtschaft verkannten anderen Ökonomie auch um Kolonialismuskritik und Kapitalismuskritik. Bourdieus Begrifflichkeit ist selbst nicht immer frei von einer solchen Universalisierung, wenn er etwa die andere Ökonomie als vorkapitalistische beschreibt und damit in Begriffen einer linearen Zeitauffassung eine allgemeine Entwicklungslogik fixiert. Doch Bourdieu situiert auch seine Vorher/Nachher-Beschreibungen im dominanten Kontext des Kolonialismus, d. h., er analysiert auch die traditionale Kultur unter den Bedingungen ihrer aktuellen Veränderung bzw. Zerstörung.

Als Beispiel dafür lässt sich die gegenüberstellende Studie des traditionellen kabylischen Hauses und der von den Franzosen eingerichteten Umsiedlungslager, in denen dieselben Menschen andere soziale und Geschlechterbeziehungen leben, anführen. Liest man die Studie zum kabylischen Haus[2] isoliert, wie das die frühe Rezeption – ich folge hier Schultheis – getan hat, so lässt sie sich als Beispiel einer strukturalistischen Analyse betrachten, und es ist in der Tat verblüffend, wie sehr dieses Stück Bourdieu’scher Ethnologie einem Schreibstil verpflichtet ist, dessen Zeitlosigkeit dem Muster der „ethnografischen Gegenwart“ folgt, die von Johannes Fabian als Zeitstil des ethnografischen Schreibens benannt wurde. „The ethnographic present is the practice of giving accounts of other cultures and societies in the present tense“, schreibt Fabian in seinem 1983 erschienenen Buch Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object. Für Fabian ist das Verhältnis der Anthropologie zu ihrem Gegenstand seit jeher in signifikanten Korrelationen von Oppositionen wie Here-There und Now-Then organisiert, die er als Techniken der Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt der ethnografischen Praxis begreift, welche er wiederum in der übergeordneten kolonialen Distanzproduktion zwischen dem Westen und dem Rest begründet sieht. Neben der einst dominanten „evolutionist time“, die andere Kulturen auf früheren Stufen einer Zeitachse ansiedelt, deren fortgeschrittenste Stufe die jeweilige Kultur des/der AnthropologIn verkörpert, nennt Fabian die „encapsulated time“, die er mit funktionalistischen und strukturalistischen Praktiken der Ethnografie in Verbindung bringt. Beide Zeitvorstellungen, so Fabian, zeichnen sich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, durch eine „Verweigerung von Gleichzeitigkeit“ („denial of coevalness“) aus: „By that I mean a persistent and systematic tendency to place the referent(s) of anthropology in a Time other than the present of the producer of anthropological discourse.“[3] Fabians Überlegungen drehen sich unter anderem um die Frage, was im ethnografischen Bericht aus einem weiteren Zeittypus wird oder werden könnte, nämlich der „intersubjective time“, also der vom/von der FeldforscherIn mit den Beforschten in der Kommunikation interaktiv geteilten Zeit, aus welcher er/sie, neben der Beobachtung, seine/ihre „Daten“ gewinnt. Eine isolierte Lektüre des kabylischen Hauses von Bourdieu – ein unausgesprochenes Subjekt spricht da zu unausgesprochenen Adressaten über eine fest gefügte transhistorische Welt der Homologien von Mikro- und Makrostrukturen – würde durchaus Fabians Behauptung stützen, dass „the present tense ‚freezes‘ a society at the time of observation; at worst, it contains assumptions about the repetitiveness, predictability and conservativism of primitives“[4]. Liest man das kabylische Haus allerdings, stellvertretend für Bourdieus Forschungspraxis, zusammen mit seinen Analysen der Umsiedlungslager und den von diesen erzwungenen Diskrepanzen zwischen altem Habitus und neuen Sozialstrukturen, so findet man sich in der Nähe einer von Fabian aufgeworfenen Frage zur postkolonialen Rekonfiguration des Verhältnisses von Macht bzw. Diskurs und Zeit: „It takes imagination and courage to picture what would happen to the West (and to anthropology) if its temporal fortress were suddenly invaded by the Time of the Other.“[5]

Der Krieg in Algerien mit dem gewaltsamen Widerstand einer vom Kolonialismus und seinen Leitwissenschaften in orientalistischen Mustern beschriebenen, distanzierten und verorteten Gesellschaft war eine Situation, die eine solche Invasion der Zeit des Anderen ermöglichte. Vermutlich wäre es auch noch in den späten 1950er Jahren möglich gewesen, an irgendeinem Ort des ländlichen Algerien im Sinne der von Malinowski etablierten Feldforschungsregeln als EthnologIn „in das Leben der Eingeborenen einzutauchen“, allein und abgeschnitten von der eigenen Kultur, die Einsamkeit des/der ForscherIn als Hauptmittel der Erkenntnis nutzend, um Wissen über den „Geist“ einer fremden Kultur zu erzeugen und so jene zeitliche Festung der Anthropologie zu verteidigen, die realiter durch jede Bombe in einem Straßencafé brüchiger wurde. Pierre Bourdieus Interesse galt genau jenen sozialen und kulturellen Phänomenen, die aus dem Aufeinanderprallen der „eigenen“ und der „fremden“ Kultur unter Bedingungen von Kolonialherrschaft und Befreiungskrieg hervorgingen. Im Unterschied zu den meisten VertreterInnen einer Disziplin, in die er sich unter diesen Bedingungen gerade erst einübt, etwa zu Claude Lévi-Strauss, dessen Traurige Tropen erschienen, als Bourdieu in Algerien eintraf, ist er weder auf der Suche nach dem ganz Anderen einer unberührten Kultur, noch trauert er jenen vergangenen Zeiten nach, als es für den/die EthnografIn noch die „begeisternde Aussicht“ gab, „der erste Weiße zu sein, der zu einer Gemeinschaft von Eingeborenen vordringt“[6]. Während Lévi-Strauss ständig den Eindruck hat, zu spät zu kommen, um einem ethnografischen Ideal folgen zu können, geht Bourdieu – trotz und wegen der bedrückenden Umstände – entschlossen von einer historisch-politischen Gegenwart aus, deren vom Krieg beschleunigte Transformation der Lebensverhältnisse eine ethnografische Fixierung des „Stils“ (Lévi-Strauss) oder des „Geistes“ (Malinowski) einer Kultur unmöglich machte.

An dieser Stelle scheint es mir einer Erwähnung wert, dass die Untersuchungsfelder und Beobachtungen des „Gelegenheits“-Soziologen Bourdieu (Schultheis) in mehreren Punkten mit den Darstellungen eines anderen Gelegenheitssoziologen, nämlich Frantz Fanon, korrespondieren. Fanon kommt in Aspekte der algerischen Revolution, einer Schrift von 1959, die im französischen Original Sociologie d’une revolution heißt, zu ähnlichen Ergebnissen, was die durch Umsiedlung, Landflucht und Arbeitslosigkeit ausgelöste Umwälzung der Familien- und Geschlechterverhältnisse, die Umwertung von Werten, die gewandelte Rolle der Frau, die Symbolik des Schleiers und selbst die Widersprüche zwischen veränderten Lebensbedingungen und einem Habitus betrifft, der den alten Ordnungen entspricht. Fanon schreibt 1959: „Die umgesiedelte Mechta [Haus/Familie] ist eine gebrochene, zerstörte Mechta, eine Gruppe von Männern, Frauen, Kindern. Unter diesen Umständen bleibt keine Gebärde unversehrt erhalten, kein früherer Rhythmus unverändert. In den Stacheldrahtumzäunungen können die Mitglieder der umgesiedelten Familie sich nicht mehr verhalten wie zuvor.“[7]

In der verallgemeinerten Form konstatiert Pierre Bourdieu 1960: „Die einfache Tatsache eines Wohnortwechsels – ob in ein Auffanglager, in die Stadt oder nach Frankreich – bewirkt eine umfassende Änderung der Einstellung zur Welt.“[8]

Fanon schreibt 1959: „Mit diesen umfangreichen Verpflanzungen ganzer Bevölkerungsteile wird der gesellschaftliche Gesichtskreis, wird die Welt der Wahrnehmung umgebildet.“[9]

Wenn sich Bourdieu und Fanon, trotz ihrer sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen, in der Analyse soziologischer und kultureller Wandlungen oft sehr nahekommen, was eine eigene Untersuchung wert wäre, dann trennt sie voneinander die jeweilige Einschätzung von Verlust und Gewinn. Bei vielen Übereinstimmungen in Bezug auf Entwurzelung, Destabilisierung und grundlegende Umwandlung leitet der für die algerische Befreiungsfront arbeitende Fanon daraus die Kraft der algerischen Revolution ab, wohingegen Bourdieu mehr die Verunsicherung und Resignation der von ihm Befragten herausstreicht.[10]

Im Folgenden möchte ich Bourdieus algerische Fotografien in Bezug auf seine von der Anerkennung von Gleichzeitigkeit getragene Ethnosoziologie ansehen, zuvor aber einen Blick auf die koloniale Bildpolitik in Algerien werfen und dabei die Politik der Zeit im Auge behalten.

Historisch betrachtet hatte die Fotografie an der ethnologischen Verweigerung von Gleichzeitigkeit einen entscheidenden Anteil. Paul Landau schreibt in einem Buch zur kolonialen Fotografie in Afrika: „The seemingly objective visual presence of Africans, and the plangent specificity and realness of photographs, stabilized ‚authenticity‘ and obscured a world of politics and labor that people in Europe did not wish to see.“[11] Landau bringt hier deutlich zum Ausdruck, wie die Fotografie die Verfügbarkeit eines Bildes von Differenz und Authentizität hervorbringt, indem sie die Erscheinung ihrer Objekte von der realen Welt der Ökonomie und Politik befreit. Man weiß aus verschiedenen Kontexten, auch aus nicht zur Publikation vorgesehenen Texten von EthnologInnen, um die Inszenierung „authentischer“ VertreterInnen eines Volkes durch vorhergehende Bereinigung ihrer Erscheinung von Anzeichen der Zeitgenossenschaft mit den AutorInnen des Bildes bzw. von sichtbaren Hinweisen auf kulturelle „Kontamination“.

Das europäische Bild Algeriens war zumindest bis in die 1930er Jahre von den in hohen Auflagen zirkulierenden Fotografien und Postkarten mit pseudoethnografischem Anstrich geprägt. In Fortführung der orientalistischen Malerei des 19. Jahrhunderts legte diese fotografische Bildproduktion ihren Fokus, neben idyllisch-exotischen Landschaften, vor allem auf zwei Motivbereiche: auf die Imagination des Harems als für Männer, Maler und Fotografen unzugänglicher und daher die Fantasie beflügelnder Raum sowie auf den Schleier als allgegenwärtiges Zeichen einer Kultur und als Symbol der Verweigerung von Sichtbarkeit. Als solches hat Frantz Fanon das Kleidungsstück beschrieben: „Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur wird häufig durch die überlieferten Kleidungsformen ihrer Mitglieder angezeigt. […] In der arabischen Welt wird der Schleier, mit dem sich die Frauen kleiden, vom Touristen unmittelbar wahrgenommen. […] Für den […] Ausländer umgrenzt der Schleier die algerische Gesellschaft und darin ihren weiblichen Teil. […] Der ‚Haik‘ grenzt auf eindeutige Weise die unter Kolonialherrschaft lebende algerische Gesellschaft ab.“[12]

Malek Alloula, der diese Postkarten ausführlich analysiert hat, beginnt seinen Versuch, sie „an den Absender zurückzuschicken“ mit einer ähnlichen Feststellung und erweitert diese: „Was dem Blick des Fremden bei der Betrachtung algerischer Frauen als erstes auffällt, ist, dass sie sich dem Blick entziehen. Zweifelsohne ist es diese Sichtbehinderung, die den Photographen, der seiner Tätigkeit in den Städten nachgeht, so heftig anstachelt. […] Die algerische Gesellschaft und insbesondere die Welt der Frauen bleiben ihm für immer verbotenes Gelände.“[13]

Die Verweigerung der Sichtbarkeit (Schleier und abgeschlossener Frauenraum) provoziert eine koloniale Repräsentation des Zeigens, des Sichtbarmachens, Enthüllens und In-Besitz-Nehmens. Und die Verknüpfung von Schleier und Kultur bringt die ethnografischen Alibis hervor, die die Beschriftungen („Jeunes Mauresques“ oder „Femmes Kabyles“) der mehr oder weniger pornografischen Postkarten kennzeichnen.

In diesen Bildern rächt sich die koloniale Gesellschaft an der kulturellen Verweigerung der kolonisierten. Über das Entschleiern und Entblößen der Frauen lebt sie symbolisch ihr auf anderen Ebenen zurückgewiesenes Begehren nach vollständiger ideologischer Durchdringung des kolonialen Raums aus. Diese Bildproduktion setzt an die Stelle einer von Konfrontation und Kulturkampf geprägten Gesellschaft eine orientalistische Fantasie und verweigert sich der Gegenwart dieser Gesellschaft durch die Konstruktion eines zeitlosen Raums imaginierter Differenz. Darin entspricht sie einer auf den Orientalismus im Allgemeinen gemünzten Formulierung von Edward Said: „In the system of knowledge about the Orient, the Orient is less a place than a topos.“[14]

Im Hinblick auf die Fragestellung des Symposiums – „Representation of the ‚Other‘“[15] – ließe sich behaupten, dass das Andere/die Anderen in den Bildern der Kolonialpostkarten einer Form der Aneignung unterliegt/unterliegen, die sie gänzlich im Diskurs des Eigenen/des Kolonisators aufgehen lässt. (Sie sprechen letztlich auch über nichts anderes als diesen.) Im Gegensatz zu diesem Versuch der Verleugnung des Widerstands der Kolonisierten und der Aufhebung von Konflikt und Gewalt in erzwungener Harmonie zeigen die Fotos, die Marc Garanger 1960 in der Kabylei aufgenommen hat, ebendie Gewalt und den Widerstand. Garanger, wie Bourdieu ein unfreiwilliger Soldat in einem abgelehnten Krieg, war beauftragt, zum Zweck der Anfertigung von Identitätsausweisen Porträtfotos von Frauen zu machen, die aus ihren Dörfern in Lager umgesiedelt wurden. Der entwürdigende Akt der erzwungenen Entschleierung vor der Kamera des Feindes, eine Form der symbolischen Gewalt im unmittelbaren Kontext der physischen Gewalt der Umsiedlung, resultiert in einer stillen Äußerung von Selbstbewusstsein, Verweigerung und Widerstand. „The only way of protesting was through their look“, schreibt Garanger später. „They glared at me from point-blank range; I was the first to witness their silent but fierce protest.“[16] In der Meinung, dass diese Bilder das Gegenteil von dem aussagen würden, was seine AuftraggeberInnen in ihnen sahen, schmuggelte Garanger 1961 einige Fotos in die Schweiz, um sie dort in einer Zeitschrift zu publizieren. Bei diesen Bildern haben wir es mit einem radikalen Gegenpol zur Verweigerung von Gleichzeitigkeit im orientalistischen Genre der Postkarten zu tun. Carole Naggar fragt in einem Artikel zu Garangers Femmes Algériennes: „So why is it that, being victims, the Algerian women do not appear to be such? […] What we read here is a refusal. Saying no, the women seem to add: ‚Even if you have photographed us, we remain uncontrollable.‘“[17] The Other/die Andere ist hier unmittelbar gegenwärtig, weil die Serie nicht nur den Zusammenhang von Herrschen und Sichtbarmachen demonstriert, sondern auch den gewaltsamen Akt der Substitution einer persönlichen und kulturellen Identität durch eine kolonialpolitische Identitätskonzeption.

Bei einem kursorischen Blick auf Bourdieus Algerienfotos stellt sich der Eindruck ein, dass die Motive vor dem Fotografen flüchten würden. Oder, anders ausgedrückt, dass der Fotograf den Motiven hinterherschleicht, ihnen auflauert. Dies trifft vor allem auf die im urbanen Raum produzierten Bilder von Menschen zu, weniger auf die auf dem Land geschossenen Fotos. Bourdieu fotografiert häufig aus dem Verborgenen, nimmt die Menschen aus der Distanz und meist von hinten ins Visier. Selbst wenn er näher an den Motiven ist, haben seine Perspektiven etwas Heimliches an sich. Die von Bourdieu verwendete Kamera mit dem Sucher oben auf dem Gehäuse erlaubte ein unbeobachtetes Fotografieren aus einem tief liegenden Blickwinkel. „Das war für mich sehr nützlich“, erinnert sich Bourdieu, „auf diese Weise konnte ich Fotos machen, ohne dass es bemerkt wurde […] zum Beispiel wenn man eine Frau in einem Land fotografieren möchte, in dem das nicht gern gesehen wird.“[18] Auch wenn die Situation durch den Krieg und die damit verbundene Wachsamkeit auf beiden Seiten eine spezifische ist und die Erkenntnisinteressen divergieren, so erinnert dieser Kameragebrauch doch auch an einen alten Diskurs über den Einsatz technischer Aufzeichnungsapparate in der Ethnografie. So stellte etwa Rudolf Pöch, ein österreichischer Forscher und Medienpionier der Anthropologie, um 1904 entsprechende Überlegungen zum Film an. „For Pöch“, schreibt Fatimah Tobing Rony, „the advantage of film is that it allows for true voyeurism because images could be captured without the native’s awareness.“[19] Wenn Bourdieu im Rückblick davon spricht, er habe „in Algerien immer wieder Fotografen bei ihren Fotoreportagen begleitet und beobachtet, dass sie überhaupt nicht mit den Menschen, die sie fotografierten, sprachen“[20], so muss man feststellen, dass der Großteil seiner eigenen Fotografien den nämlichen Eindruck vermittelt. Wenn in den städtischen Fotos Menschen direkt von vorne aufgenommen werden, dann sind es meist Kinder, die generell der Kamera des Fremden interessiert gegenüberstehen, oder aber Händler und ihre Waren, die ohnehin die Aufmerksamkeit der PassantInnen anstreben. Neben den versteckten Betrachterpositionen und den mit dem Fotografiertwerden kokettierenden Kindern und Händlern gibt es eine Gruppe von Fotos, die der unbeobachteten Betrachterperspektive zuzurechnen wären, würde diese nicht im entscheidenden Moment durch einen Gegenblick erwidert. Hat man angesichts der Verfolgerperspektive, die Einzelne oder Gruppen bei Handlungen und Gesprächen aufnimmt, deren Bedeutung nicht klar ist, manchmal den Eindruck, in eine Kriminal- oder Agentengeschichte geraten zu sein, so würde etwa die den Blick erwidernde Frau aus der Gruppe verschleierter Frauen vor einem Schuhgeschäft den Moment der Enttarnung des unbeobachteten Beobachters markieren. In der Tat machen diese „Fehler“ des Fotografen die Geschichte noch spannender. Aber um was für eine Geschichte handelt es sich hier?

Wir werden im Verlauf dieses Symposiums noch von Personen, die sich länger und intensiver mit ihr befasst haben, über Bourdieus Fotopraxis informiert werden. Ich selbst frage mich an dieser Stelle, ob Bourdieu den voyeuristischen Blick des unsichtbaren Fotografen so einsetzt, wie viele von uns es tun, wenn sie heute, Jahrzehnte später, in fremder Umgebung und im Bewusstsein der Deplatziertheit eines offen sichtbaren Begehrens nach Bildern fotografieren, oder ob Bourdieu diesen Betrachterstandpunkt vielmehr bereits so weit objektiviert hat, dass er ihn mit der in die Bilder eingeschriebenen Präsenz des distanzierten Beobachters kenntlich macht?

Ich möchte nun zur Frage der Chronopolitik der ethnografischen Repräsentation zurückkehren und sie – nicht ganz legitim – nur unter Berücksichtigung der Stadtfotos aufwerfen. Grundsätzlich habe ich bei fast allen Fotos den Eindruck, dass Bourdieu an einem Bild der Gleichzeitigkeit gelegen ist, welches er oft durch Kontrastierung des scheinbar Ungleichzeitigen herzustellen sucht. Zwei verschleierte Frauen vor einem westlichen Schallplattenladen, in den eine europäisch gekleidete Menge drängt; die Frauen im Haik vor der Auslage mit den hochhackigen Schuhen; Familien oder Paare auf der Messe von Algier, die Frau „traditionell“, Mann und Kinder „westlich“ gekleidet; Kinder, junge und alte Algerier am Kiosk, amerikanische Comics studierend; eine verschleierte Frau an einem Kiosk, dessen Zeitschriften ein europäisches Kleinfamilienidyll auf Titeln wie Femmes d’Aujourd’hui propagieren. Betrachtet man diese Fotos vor dem Hintergrund der Bourdieu’schen Schriften, kann man in ihnen unschwer die Themen der Migration einer entwurzelten Landbevölkerung in die Stadt, der Arbeitslosigkeit, der daraus begründeten Aufnahme des Kleinhandels oder des Wartens und Suchens destabilisierter Individuen wiedererkennen. Doch all die gerade angeführten Bilder belegen meiner Ansicht nach vor allem die Absicht, über die Koppelung bestimmter Signifikanten des Fremden und Eigenen, von Tradition und Moderne innerhalb eines Bildes den Nachweis einer – durchaus kontradiktorischen – soziokulturellen Gleichzeitigkeit anzutreten. Während Marc Garanger eine Zuspitzung der Konfrontation zwischen kolonialer Macht und Kolonisierten betreibt, scheint mir Bourdieu, dessen Motivwahl ungleich freier ist, eine in Bezug auf die Lebensperspektiven der AlgerierInnen ambivalente Mischung aus partieller Assimilation und partiellem Beharren auf oder Verhaftetsein in tradierter Kultur zeigen zu wollen. Die Kultur des Bildproduzenten und die repräsentierten Subjekte agieren im selben historisch-politisch definierten Raum, auch wenn ihre Stellung darin sehr verschieden ist.

Es gibt ein Foto von Bourdieu, das mir erst wirklich aufgefallen ist, als ich noch einmal Fanons Sociologie d’une revolution aufgeschlagen und das Kapitel über das Verhältnis der AlgerierInnen zum Radio gelesen habe. Bourdieus Bild zeigt eine aus der für ihn typischen verborgenen Perspektive von hinten aufgenommene Frauengestalt, die – in den Haik gehüllt und einen Korb am Kopf tragend – an der Auslage eines Elektrogeschäfts in Algier vorbeigeht. Auf der Straße also die fast schon orientalistische Zeichenkombination aus Schleier und Korb auf dem Kopf, hinter der Schaufensterscheibe einige Schallplatten, Plattenspieler und ein Fernseher, vor allem aber verschiedene Radiogeräte als Zeichen einer modernen Mediengesellschaft.

Fanon schreibt: „Vor 1954 ist ein Radiogerät in einer algerischen Wohnung das Kennzeichen der Europäisierung, der Öffnung des Bewusstseins für den Einfluss des Beherrschers […].“[21] Später, um 1956, geht die „Stimme des freien Algerien“ auf Sendung und es kommt zum „Wellenkrieg“ zwischen Franzosen und Widerstand, „das Radiogerät wird unerlässlich“, schreibt Fanon, „mit Hilfe des Radios, einer vor 1954 abgelehnten Technik, beschließt das algerische Volk die Wiedergeburt der Revolution“[22]. „Die im Zuge des nationalen Kampfes ‚verdaute‘ fremde Technik ist für das Volk zu einem Kampfwerkzeug und zu einem Schutzmittel geworden“[23], heißt es bei Fanon. Nun ist es zwischen der ethnologisch-soziologischen und fotografischen Arbeit Bourdieus und der revolutionstheoretischen Arbeit Fanons zu keiner direkten Begegnung gekommen. Auch lassen sich die Positionen des weißen französischen Intellektuellen und des schwarzen Widerstandsaktivisten im antikolonialen Kampf nicht auf einen Punkt bringen. Dennoch hat es angesichts mancher Fotografien, wie der zuletzt genannten, den Anschein, als würde Bourdieus so dezidiert auf die widersprüchliche und konfliktbehaftete Gleichzeitigkeit von kolonialem Selbst und kolonisiertem Anderen angelegte algerische Bildproduktion mit den Analysen Fanons auf visueller Ebene so weit korrespondieren, wie wohl nur sehr wenige ethnologische Arbeiten sich jemals mit revolutionären Bestrebungen gedeckt haben.



[1] Franz Schultheis, Bourdieus Wege in die Soziologie, Konstanz 2007.

[2] Pierre Bourdieu, „Das Haus oder die verkehrte Welt“, in: ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987.

[3] Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object, New York 1983, S. 31.

[4] Ibid., S. 81.

[5] Ibid., S. 34.

[6] Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt a. M. 1999, S. 320.

[7] Frantz Fanon, Aspekte der algerischen Revolution, Frankfurt a. M. 1969, S. 80 f.

[8] Pierre Bourdieu, „Krieg und gesellschaftlicher Wandel in Algerien“, zitiert nach: Franz Schultheis / Christine Frisinghelli (Hg.), Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz 2003, S. 66.

[9] Fanon 1969, op. cit., S. 80.

[10] Der Diskurs über den Algerienkrieg und seine sozialen und psychischen Folgen ist weitgehend männlich dominiert, auch wenn es dabei wiederholt um die Rolle der Frauen geht. Das zeigt sich neben den Beobachtungen von Fanon, Bourdieu und Alloula auch im Falle des großartigen Films „The Battle of Algiers“ (1966) von Gillo Pontecorvo. In diesen Darstellungen kommen reale Erfahrungen und Handlungsspielräume involvierter und betroffener Frauen, wie sie etwa Assia Djebar in Children of the New World. A Novel of the Algerian War (1962) schildert, zu kurz. Die sowohl schmerzlichen als auch emanzipatorischen Erfahrungen von Krieg und Revolte werden aus weiblicher Perspektive hier um vieles differenzierter erfasst als bei den genannten Autoren.

[11] Paul S. Landau, „Empires of the Visual: Photography and Colonial Administration in Africa“, in: Paul S. Landau / Deborah D. Kaspin (Hg.), Images and Empires. Visuality in Colonial and Postcolonial Africa, Berkeley / Los Angeles / London 2002, S. 161.

[12] Fanon 1969, op. cit., S. 19 f.

[13] Malek Alloula, Haremsphantasien. Aus dem Postkartenalbum der Kolonialzeit, Freiburg 1994, S. 11 f.

[14] Edward W. Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978, S. 177.

[15] Representations of the „Other“. The Visual Anthropology of Pierre Bourdieu, Symposium am 6., 7. und 15. Juli 2007 in Leipzig, Berlin und Lüneburg, organisiert vom Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg  und der Galerie der HGB Leipzig, http://translate.eipcp.net/Actions/discursive/bourdieu.

[16] Zitiert nach: David A. Bailey / Gilane Tawadros (Hg.), Veil: Veiling, Representation and Contemporary Art, London 2003, S. 87.

[17] Carole Naggar, „The Unveiled: Algerian Women“, in: Aperture 119, 1990, zitiert nach: Liz Heron / Val Williams (Hg.), Illuminations. Women Writing on Photography from the 1850s to the Present, London / New York 1996.

[18] Pierre Bourdieu im Gespräch mit Franz Schultheis, in: Schultheis / Frisinghelli (Hg.) 2003, op. cit., S. 23 f.

[19] Fatimah Tobing Rony, The Third Eye: Race, Cinema, and Ethnographic Spectacle, Durham / London 1996, S. 66.

[20] Pierre Bourdieu im Gespräch mit Franz Schultheis, in: Schultheis / Frisinghelli (Hg.) 2003, op. cit., S. 26.

[21] Fanon 1969, op. cit., S. 64.

[22] Ibid., S. 65.

[23] Ibid., S. 61.