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01 2011

Das mestiere der Krise – Vereinnahmung und Autonomie

Notizen aus der Universidad Nómada

Francesco Salvini / Raúl Sánchez Cedillo

Übersetzt von Wolfgang Sützl

1. Am Ende des Quattrocento ...

Am Ende des Quattrocento entstanden in vielen italienischen Städten, in den Comuni und den Kleinstaaten der ganzen Halbinsel Einrichtungen, die wir heute als  kreative Cluster bezeichnen würden. Die botteghe waren Werkstätten, in denen Techniker, Architekten, Designer, Zimmerleute und viele andere mestieri zusammenarbeiteten. Es waren Orte von einer enormen technischen und ästhetischen Neuerungskraft, die vom Studium der Perspektive bis zu neuen Bautechniken reichte, aber auch moralische Normen hinterfragte und soziale Hierarchien stürzte. An diesen Stätten der kreativen Arbeit wurden auch bestimmte Schlüsselprobleme der modernen Philosophie erstmals behandelt – von der Möglichkeit, auf der Suche nach der Seele Leichen zu obduzieren, bis hin zur Bestimmung eines neuen Kontrastverhältnisses zwischen abstraktem und empirischem Wissen.

Doch diese Art der Widersprüche und der Neuerungen fand in einem physischen und gesellschaftlichen Raum statt, der für diese Zeit einzigartig ist: Ein extrem hoher symbolischer und materieller Wert der in den Werkstätten hergestellten Artefakte stand einem niederen gesellschaftliche Rang der dort arbeitenden mestieri gegenüber. In gewisser Weise gab es den Kontrast, der in den Biografien der großen Künstler des Cinquecento zutage tritt – als Genies anerkannt, aber vom Olymp (und den Privilegien) der Freien Künste ausgeschlossen – bereits in den Werkstätten des Quattrocento. Ein Kontrast, der aus der Innovation in der vom gemeinen Volk und dem Bürgertum geleisteten Arbeit hervorging. Diese Innovation betraf nicht bloß die ästhetische und intellektuelle Neuerung der hergestellten Dinge,  sondern vor allem die Erfindung von kooperativen und komplexen Formen der Arbeitsorganisation am Schnittpunkt zwischen materieller und intellektueller Arbeit, mit der die klassische Trennung zwischen den freien und den mechanischen Künsten in Zweifel gezogen wurde.

Ein paradigmatischer Fall ist jener Leonardo da Vincis, dessen Interesse den „Praktiken der botteghe des Quattrocento“ galt, „welche zweifellos einen außergewöhnlichen Geistesreichtum aufwiesen; was jedoch unter den florentinischen Künstlern nicht außergewöhnlich war, war die Ausübung der mechanischen Künste. Dies beweist ihr Repertoire: die viti, molle, lime, leve, mantici[1] und ähnliches unterscheiden sich in keiner Weise davon, was das allgemeine Wissen [der Arbeitenden] in den botteghe fiorentine dieser Zeit gewesen sein dürfte“.[2] Leonardo da Vinci selbst, schreibt Paolo Rossi[3], nahm an den öffentlichen Kampagnen der Künstler Teil, um diese Trennung zu überwinden und die Aufnahme der neuen Künste – besonders der Bildkunst – in die Freien Künste zu verlangen, um also den Zugang zu allen materiellen und moralischen Privilegien jener Künste einzufordern, die in der griechischen Polis nur den freien Bürgern offen standen – die gleichen Privilegien wie die Philosophie, der Theologie, und den Schriften im Allgemeinen. “Voi [scrittori] avete messo la pittura infra l'arti meccaniche; cierto se i pittori fussino atti a laudare collo scrivere l'opera loro come voi io dubito non giacerebbe li sì vil cognome; se voi la chiamate meccanica, perché è prima manuale ché le mani figurano quel che tenevano nella fantasia, voi scrittori disegniate colla penna manualmente quello che nello ingegnio vostro si truova” (Da Vinci).[4]

Aus unserer Sicht können wir festhalten, dass es seit den botteghe einen Kampf gab, der – ausgehend von Arbeitsfragen – die BürgerInnenschaft als Instrument der Regierung und als Territorium eines Klassenkonfliktes attackierte: Auf der einen Seite waren die Kirche, die Aristokratie und das GroßürgerInnentum der comuni, die die Arbeit der Handwerker kauften, auf der anderen Seite eben diese, die in den botteghe arbeiteten und dem gemeinen Volk, den Familien kleiner Kaufleute, dem popolo der Stadt entstammten. 

Möglicherweise bestand aber das wichtigste Element in diesem Konflikt in den unterschiedlichen Auffassungen über die Produktionsformen von Wissen. Hier das auf der Autorität religiöser und philosophischer Schriften aufbauende philologische und theologische Wissen, dort das empirische, ästhetische, lebendige, autonome Wissen, welches aus der materiellen Kooperation der Köpfe innerhalb der bottega hervorging. Mit da Vinci, Brunelleschi und der Generation von Malern, Architekten, Technikern und Biologen, der sie angehörten, wird das Know-how erstmals aufgezeichnet, und zwar in vernakulärer Sprache und in Form von Grafiken, nicht auf Latein, womit sich ein offener Widerspruch zum althergebrachten, niedergeschriebenen Wissen auftut. Der Kampf dauerte lange an und artikulierte sich in einer Art, die wenig mit den gewerkschaftlichen Kämpfen unserer Zeit zu tun hat, die aber durchaus Übereinstimmungen mit den Kämpfen des späten 20. Jahrhunderts um die Produktion von Information und Musik und dem Netz der Netze aufweist. Mit jenen Kämpfen also, welche die gesellschaftliche Kooperation und die Autonomie dieser Kooperation als bestimmendes Element der Wertbildung anerkennen.

Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden die Bildkunst und die Architektur als eigene Künste anerkannt, der Garten „Orto di San Marco“ wurde angelegt und die Praktiken der Hinterzimmer, der Werkstätten und der botteghe wurden dort unter dem aufmerksamen Blick Lorenzos I. de’ Medici, genannt Lorenzo der Prächtige, ausgeübt. Aus dem mestiere, dem Handwerk, wird Kunst. Symbolisch war vielleicht der interessanteste Moment dieses Umbruchs die Ehrerbietung, die Kaiser Karl V dem großen Künstler Tizian entgegenbrachte, als er ihn beim Malen seines Portraits beobachtete: Karl bückte sich und hob den Pinsel auf, der Tizian beim Malen entglitten war.[5]  

Abgesehen von dieser Geste finden wir weitere Konnotationen: Erstens die Gleichsetzung des großen Künstlers mit dem Autor, das individuelle Emblem, das ab diesem Zeitpunkt zum Eckstein der künstlerischen Produktion wird und die bottega als Netzwerk der Kooperation verschiedener Lebensformen, Wissensformen und autonomer Formen der Übertragung und der Produktion von Macht zum Verschwinden bringt. Zweitens die Anerkennung – oder die Behauptung – der Kunst als eine von den politischen und moralischen Differenzen abgesonderte Sphäre, als Form der symbolischen Wertbildung, die bereits so sehr von der Macht eingenommen ist, dass sich sogar der Kaiser vor dem Künstler bücken kann, ohne seine Autorität zu gefährden. 

Was uns an diesem kurzen und unvollständigen Abriss interessant erscheint, ist der Kontrast, der sich zwischen lebendiger Arbeit und Wertbildung artikuliert. Auf der einen Seite ein Prozess des Aufbaus neuer gesellschaftlicher Institutionen wie der botteghe, die in der Lage sind, sowohl neue Formen der Produktion als auch neue Formen der sozialen, ästhetischen und moralischen Organisation hervorzubringen; auf der anderen der Regierungsprozess, der auf diese Lebensformen einwirkt und versucht, die autonom organisierte Produktion zu kontrollieren. An dieser Stelle kehren wir nun die Argumentation um: Wir beginnen mit einer Analyse der biopolitischen Steuerung der Produktion, um dann zu versuchen, monströse Formen der Institution und des Lebens neu zu denken, die in der Lage sind, eine Krise der heute in Europa vorherrschenden Formen der Gouvernementalität auszulösen. Dabei legen wir den Schwerpunkt auf jene Formen, die wir – zum Zweck der Orientierung – als „kognitive“ und/oder „kreative“ Arbeit bezeichnen können.

Wir vertreten die Auffassung, dass die aktuelle Steuerung der Produktionsformen sich zunehmend auf die Fernsteuerung der Subjektivierungsprozesse der ProduzentInnen sowie auf den Einschluss immer neuer Lebensbereiche in die kapitalistische Akkumulation konzentriert. Ein Prozess der gesteuerten Subjektivierung, mit dem versucht wird, alle noch unkontrollierten Bereiche zu sperren, und der sich nicht mehr mit der Steuerung des Lebens in der Fabrik zufrieden gibt oder mit der Vereinnahmung des Eigentums an der maschinischen Innovation, sondern darauf aus ist, dem Leben als individuelle Erfahrung und auch als sozialen bios die Zügel anzulegen. So wie die Anerkennung des Künstlers den Zweck hatte, die Kooperationsbeziehungen in der bottega zu kontrollieren, so artikuliert die gegenwärtige Konstruktion einer creative class ihr soziales Narrativ um zwei entgegengesetzte Pole und versucht, die soziale Kooperation in einem Apparat der Gewinnabschöpfung einzuschließen.

Wie funktioniert dieser Prozess der gesteuerten Subjektivation und der Gewinnabschöpfung? Einerseits über eine Fragmentierung und Segmentierung der Kooperationsräume, sodass es zu einer Differenzierung des Status der Kooperierenden kommt, und zwar nicht so sehr durch die Zerstörung der sozialen und kooperativen Dimension der kreativen Produktion, sondern durch das Hervorrufen einer Krise der Räume der Gleichheit durch die Einführung ökonomischer und rechtliche Hierarchien, welche die Ungleichheiten und Asymmetrien innerhalb der Kooperation selbst polarisieren.

Andererseits, und als Folge davon, über die Modulation der Auto-Mobilisierung des Individuums als primären Akteur, als im Wettbewerb mit anderen befindlichen Autor. Diese totale  (Auto-)Mobilisierung des Individuums beabsichtigt die Zerstörung der (bio-)politischen Allianzen innerhalb der produktiven Kooperation und die Abtrennung der kreativen Produktion von der Sphäre der politischen Kreation. Letztlich geht es dabei um die Maximierung der marginalen Gewinnabschöpfung (die Aneignung des Mehrwerts jedes Segments/Individuums, das an der Produktion Teil hat). Jede Person ist mit der Umwandlung des eigenen Lebens in ein Unternehmen konfrontiert, sowie mit dem gesellschaftlichen Imperativ, sich anderen gegenüber opportunistisch und konkurrierend zu verhalten, anstatt sich kooperativ gegenüber den Machtverhältnissen der Produktion zu organisieren. 

Kurz gesagt entwickelt sich diese Kontrollstrategie als double bind, als doppelter Zwang, der es vermag, Kooperation und Konkurrenz als zwei Seiten desselben prekarisierten Lebens zu artikulieren: eine Prekarität, eingeklemmt zwischen der Sozialisierung der Produktion und der Individualisierung der Arbeitsverhältnisse, zwischen Kooperation im Produktionsprozess und hierarchischer Struktur der Arbeitsorganisation, zwischen der Prekarität der Beschäftigung und der Effizienz der Arbeit.[6] Diese Reorganisation der Subjektivationsformen des gesellschaftlichen Produktivkörpers ermöglicht die Spezifizierung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses anhand von Paradigmen, jeweils im Verhältnis zu den sozialen Kooperationsprozessen, auf die sie sich stützt.

In Bezug auf die spezifische Dimension des kognitiven Kapitalismus – die Spezifizierung des Akkumulationsprozesses in jenen Produktionsprozessen, die auf Wissen und auf der Zusammenarbeit von Köpfen beruhen – möchten wir unterstreichen, dass dieser Akkumulationsprozess (wiederum) insofern unmittelbar ursprünglich ist, als er die sozialen Prozesse der produktiven Kooperation innerhalb der kapitalistischen Produktionsorganisation direkt unterordnet. Die ursprüngliche Akkumulation wird – wie zahlreiche Autoren nicht nur in Bezug auf den kognitiven Kapitalismus ausgeführt haben – immanent. Im Fall der Wissensproduktion folgt sie eine zweifachen Privatisierung: einerseits der Privatisierung der Produkte (geschaffenes Wissen: Patente, Urheberrechte, aber auch Privatisierung des öffentlichen Raums), andererseits der Privatisierung der Produktionsprozesse nach Maßgabe privater Interessen (Softwarecodes, Forschung und Lehre an den Universitäten, aber auch offene Prozesse der urbanen Kulturproduktion, Kunst usw.). Diese Privatisierung artikuliert sich also über die Individualisierung des Eigentums anhand der Definition exklusiver Nutzungs- und Ausbeutungsrechte von Wissen. Sie artikuliert sich aber auch in Form einer Privatisierung der Produktionsprozesse, nämlich der Einführung von disziplinierenden Normen betreffend die alltäglichen Praktiken der sozialen Kooperation, womit eine Zäumung und Aneignung der autonomen Produktionsformen erfolgt. 

Derartige Privatisierungsdynamiken mystifizieren die Funktion der Kooperation in der Wissensproduktion. Dieser Prozess der Mystifizierung der Kooperation ermöglicht die Einführung und Legitimation hierarchischer Organisationsregeln in der lebendigen kognitiven Arbeit, womit diese abstrahiert wird. Doch wo diese lebendige Arbeit mit dem Leben selbst untrennbar verbunden ist, dort berührt diese ursprüngliche Akkumulation nicht nur die Bereiche der Lohnarbeit – die klassische Form der Arbeitsabstraktion – sondern umfasst auch die sozialen Räume und die Lebensformen, in denen das Wissen hergestellt wird. Sie versucht, das Leben selbst zu abstrahieren. Die kreative Klasse als soziologische Kategorie ermöglicht es, den Prozess der kollektiven Produktion zu segmentieren und differenzierte Normen der kapitalistischen Organisation einzuführen – sowohl in der Organisation der Arbeit (Produktion /Ausbeutung) als auch in den Dynamiken des Zugangs zum produzierten Wissen (Zirkulation /Verteilung).  

Die biopolitische Steuerung der Wissensproduktion ist dann identisch mit dem Versuch, anhand der Definition von exklusiven Eigentumsrechten und der Reglementierung der kooperativen Wissensproduktion neue Apparate für die Gewinnabschöpfung herzustellen. Es erfolgt eine Steuerung des Lebens in seiner individuellen Dimension – mittels Prekarität und der „Unternehmenswerdung“ des auto-mobilisierten Subjekts – sowie in seiner sozialen Dimension – durch die Abstraktion der autonomen Organisationspraktiken innerhalb der globalen Wertsemiotik. Eine Steuerung des endlichen Lebens, welche die Möglichkeit der Kooperation sowie den Zugang zu den für die Fortsetzung der Kooperation nötigen Ressourcen künstlich beschränkt und damit die Möglichkeit, die für die Produktion erforderlichen sozialen Bedingungen zu reproduzieren, einschränkt und in eine Krise führt.

Welche Auswege aus diesem zweifachen Zwang, der das individuelle und kollektive Leben kontrolliert, sind vorstellbar? Wir meinen, dass Auswege denkbar sind, die von einer Analyse und experimentellen Erprobung neuer kollektiver Organisationsformen ausgehen, welche in der Lage sind, diesen Enteignungsprozessen etwas entgegenzuhalten, die Widerstand leisten und neue Bereiche öffnen.

 
Monster-Institutionen als Gegengift und Beschwörung

Die Inhalte der Gedanken, der Forschung und der Theorien, die in Äußerungen artikuliert werden, sind untrennbar mit den instituierenden Vektoren ihrer Herstellung verbunden. Daher verwenden wir an der Universidad Nómada[7] seit längerem den Ausdruck „Monsterinstitutionen“, um zu verstehen, wie wir uns in eine (lokale, singuläre, aber reproduzierbare) Bedrohung für die governance der Wissensfabriken und der kulturellen Produktion verwandeln können.

Es gibt nichts Schwierigeres, als eine „Theorie dessen, was wir tun“. Diese Deleuze'sche Definition der Philosophie ernsthaft als radikale Pragmatik anzunehmen bedeutet in unserem Fall, sie im Kontext der politischen Probleme und der Frage der Herstellung von Subjektivität in der prekären Intellektualität einzubetten. In diesem Sinne war für die Universidad Nómada die grundlegende Singularisierungsoperation der vergangenen Jahre die Konstruktion einer Fluchtlinie gegenüber den Erscheinungen der politischen Neutralisierung unseres Tuns – wobei dies notwendigerweise intermittierenden Charakter hatte, da diese Operation weder ein Willensakt noch die Anwendung eines Programms war, sondern eher eine situierte Ethik und eine „Selbstaskese“. So sehr diese Idee der Schizoanalyse auch durch den „Deleuze-Hype“ beschädigt und verdreht wurde, so stellt sie nach unserer Auffassung nach wie vor eine Möglichkeit dar, die für die Herstellung von Subjektivität und das Aufkommen des (Bio-)Politischen wesentlichen Verhaltensformen und Verfahren zu denken. 

Es dürfte also zur Klarheit beitragen, den Prozess der Universidad Nómada als Fluchtlinie zu denken und auch dementsprechend auszurichten – eine Fluchtlinie, die in jedem Moment neu formuliert wird und die, wie jede Fluchtlinie, in der Flucht und der Suche nach einer Waffe besteht, im Sich-Entziehen und im Mitziehen anderer, im Bilden von Allianzen auf der Flucht, in der Neudefinition der „Geometrie der Feindschaft“ durch unerwartete Bewegungen. Darin besteht das bestimmende Verhalten. Jenseits jeder Opposition oder binären Dichotomie, und anstatt nur einen allgemeinen Prototyp der intellektuellen Selbstorganisation oder auch eine neue Verkettung von Theorie und Praxis in den Metropolen des allgemeinen Intellekts anzubieten, ist es unsere Absicht, taktisches Wissen zu produzieren, das sich aktiv seiner Rentabilisierung, seiner Anerkennung, seinem „Erfolg“ entzieht. Ein Wissen, das versucht, so inkompatibel zu sein, wie es nur eine Lebensform in Bezug auf jene Erfordernisse der abstrakten Arbeit sein kann, die in das Axiom der Auto-Mobilisierung für das eigene (kreative, kognitive) Projekts selbst eingeschrieben sind.

In diesem Sinn ist die Universidad Nómada eines der vielen Ergebnisse eines globalen, heterogenen Zyklus von Kämpfen, die im Kontext der globalen Wissensfabriken eine Sphäre der radikalen Politik geschaffen haben. Innerhalb dieses Zyklus sind verschiedene Erfahrungen entstanden, die sich mit dem Problem der politischen und institutionellen Bedingungen der Wissensproduktion auseinandergesetzt haben. Dabei geht es um das altbekannte Frage der Dynamiken der Eigenbildung und der gemeinsamen Forschung (nach dem Vorbild der mythopoetischen conricerca Alquatis oder den ersten Quaderni Rossi). In den vergangenen zehn Jahren haben sich viele dieser Erfahrungen um ähnliche politische Parameter, Kompositionen und Prototypen entfaltet: von den besetzten Sozialzentren über Genua 2001 und den zivil-sozialen Ungehorsam bis zum EuroMaDay. Abgesehen von den Ergebnissen dieser Erfahrungen, die von der Dynamik des permanenten globalen Kriegs seit dem 11. September 2001 neutralisiert und von der gegenwärtigen, seit September 2008 andauernden Krise in Geschichte verwandelt wurden, finden sich im Fall der Universidad Nómada einige wenige Vektoren der Singularisierung, die es in gewisser Weise ermöglichen, diese Erfahrungen zu begreifen und in unsere Gegenwart zu verlagern.

 
Armut und Potenz der kognitiven und kreativen Arbeit. Eine neue Punk-Pragmatik gegen die Kontrolle der kreativen Individualisierung

Jenseits der Kulturwissenschaften, der Pop-Mythologien à la Greil Marcus, oder auch bloß von Nostalgie oder Fetischismus erhält die Palette der Punk-Gesten avant et après la lettre durch die Autosabotage des „Ich-Projekts“ der totalen kreativen und kognitiven Mobilisierung neue Aktualität. Mehr noch, dank Foucaults Studien über die Parrhesia im antiken Griechenland, und vor allem über den ethischen und politischen Wert, der sich damit in der praktischen Philosophie der Kyniker neu entdecken lässt, können wir jetzt mutatis mutandis die intime Affinität zwischen Diogenes von Sinope und John Lydon (Public Image Limited) erkennen. Die Fortsetzung des Punk als Selbstsabotage und Werden. Und diese hat offensichtlich nichts mit der Serien-Lobotomie der Irokesenschnitte oder der Selbsterniedrigung zu tun, mit denen sich die Cultural Studies und die Soziologie der urbanen Tribes befassen. Vielmehr verstehen wir hier die Fortsetzung des Punk als Verwirklichung der „wahren Rede und des wahren Tuns“ im Unterschied zur „Selbstverwirklichung“ des kreativen und unvermeidlich opportunistischen vernetzten Individuums, als ein Repertoire des Monster-Werdens des general intellect. Im Fleisch der Metropole, mitten in der „emotionalen Bildung“ des Web 2.0, als Geste der Parrhesiastes.

Anders kann es gar nicht sein. Was vielleicht daran liegt, dass unsere Genealogie nicht aus universitären Qualifikationen und akademischen Erfahrungen besteht – womit wir diese nicht aus einer populistischen Lumpen-Proletariats-Perspektive ablehnen wollen – sondern dass wir eine fast unmögliche Ansammlung von Generationen, akademischen Positionen, Dropouts, AktivistInnen und KämpferInnen, intermittierenden und wechselweise schizoiden Subjekten sind. Genau dieser Genealogie müssen wir paradoxerweise treu sein, denn sie ist unsere wichtigste Quelle der Orientierung: Kapitalismus und Schizophrenie. Wir können uns nicht normalisieren, ohne uns aufzulösen. Wir können keine Maschine sein, ohne unseren finalen „Erfolg“ zu sabotieren.[8] Dieser ganze Diskurs führt uns zu alten Thematiken zurück: eine kollektive intellektuelle Lebensform, die intermittierend und mittelfristig unmöglich ist, zeichnet sich so ab und wird in diesen Jahren gesucht.

Letzen Endes geht es darum, jene Problematisierungen des gemeinsamen Tuns am Leben zu erhalten, die sich mit jedem Versuch des Ausdrucks und der Intervention auftun, die aber vor allem als institutionelle Experimente Atemfreiheit schaffen und das Erstickungsgefühl lindern, das uns überkommt, wenn wir die Potenzen, die verkettet werden sollen, nicht in wirksame Kampfmaschinen verwandeln können. Diese Im-potenz wird als Schmerz spürbar, als Erosion der Kooperation, als Gruppen-Aphasie, als gewollte Flucht vor der definitiven Suche nach einem „Qualitätssprung“. 

Doch kein Grund zur Beunruhigung: Wir werden jetzt nicht die Unschuld des Werdens entdecken oder die Apologie der schönen Niederlage ausgraben, und auch nicht die Ästhetik des Scheiterns. Wir sind drinnen, wir sind aber nicht „aufgestellt“. Gegen das Begriffspaar Erfolg/Scheitern, welches nur als die der neoliberalen Gouvernementalität unterliegenden „Technologien des Selbst“ des Individuums Sinn macht, die auch heute noch das Non-Plus-Ultra dessen markieren, was der Kopf und der Körper des kreativen/kognitiven Subjekts von abgeben können.

Heute, 2011, besteht die Fluchtlinie innerhalb der und gegen die „Durchführung der Krise“, gegen die Krise als Regierungsform, in der Herstellung von Zeit und Raum gegen die Neutralisierung der Mehrwert erzeugenden und überschüssigen affektiven Beziehungen, und gegen die  Binarisierung und Verarmung der Palette des Möglichen in der kollektiven Aktion und den institutionellen Formen: gegen die Sparpolitik.

Was uns allerdings am meisten abverlangt (als etwas, das wir überprüft haben, was aber nicht allein unserer Erfahrung vorbehalten ist) ist als Minderheit der Werdens wirkungsvoll in den Wissensfabriken zu operieren. In Wahrheit haben wir noch nicht gelernt, wie wir verfahren müssen, um im Milieu der Intellektualität, der Forschung, der kulturellen Produktion, der dazugehörigen Landschaft von Institutionen und Unternehmen und ihrer zähflüssigen, ambivalenten governance eine Alterität zu konstruieren und zu kommunizieren, die Felder des Werdens strukturiert. In einem Milieu der kreativen „Ich-Projekte“, das in der kulturellen Produktion und im Großteil der soziologisch als „kognitiv“ bezeichneten Arbeit vorherrscht, und in dem paradoxerweise das Hervorbrechen von möglichen Welten ohne Antlitz, Minorität, Monster, ohne obsessives Ritornell ist, an denen ein reales, körperliches minoritäres Werden und Anders-Werden anschließen könnte, eine kreative Transduktion von Welten des Leidens an der Armut jedes minoritären Werdens. 


Exkurs: Facebook als Beispiel und Modell

Möglicherweise bietet das Brechen des ontologischen und moralischen Dualismus zwischen Produktion/Kommunikation und Einsamkeit/Kreation einen Ausgangspunkt für diese kollektive institutierende Übung; dort, wo das Schaffen zum individuellen Territorium wird, und das Sich-Organisieren auf einen kodifizierten Produktionsraum reduziert ist. Als Beispiel dafür mag Facebook dienen, denn es aktualisiert Deleuzes Kritik an der Kommunikation. Für Deleuze lag genau hier die Schwachstelle des abweichlerischen, operaistisch-sozialen Marxismus. „Vielleicht sind Wort und Kommunikation verdorben. Sie sind völlig vom Geld durchdrungen: nicht zufällig, sondern ihrem Wesen nach. Eine Abwendung vom Wort ist nötig. Schöpferisch sein ist stets etwas anderes gewesen als kommunizieren. Das Wichtige wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“[9]

Leider ist die Evidenz dieser Diagnose im Fall der Phänomenologie von Facebook und der so genannten „sozialen Netzwerke“ überhaupt einfach nur schmerzhaft. Und dennoch lebt der monströse Zustand in der Immanenz der Produktion; das Gemeinsame wird in der Kommunikation produziert und reproduziert. Wenn Regieren die Politik der Beziehung ist, dann ist diese die Verfassung der Regierung selbst und in gewisser Weise ihre formale Unmöglichkeit, die sich in den governance-Prozessen als dislozierte Praktiken und permanente Krise innerhalb der Komplexität des produzierenden sozialen Körpers manifestiert. Gegenüber der Binarisierung  von Produktion-Kreation gilt es, die Verkettungen des Schweigens in der Immanenz der Kommunikation zu lokalisieren und zu beschreiben, ihre politischen, institutionellen und ethischen Verfassungen und Situationen, aber auch ihre semiotischen, materiellen, spezifisch territorialen Verfahren und deren Pflege und kooperative Analyse. 

Um zur Palette der Punk-Gesten zurückzukehren – vielleicht ist es notwendig, mit einer Ethik des „freiwilligen Scheiterns“ zu experimentieren und sie anzuwenden (in Anlehnung an de La Boétie), und diese als Sabotage der Gleichsetzung von kognitiver und kreativer Arbeit zu verstehen, aber auch der Abstrahierung der Arbeit (relationaler, kooperativer, innovativer Mehrwert), die in der Anthropogenese des kognitiven Kapitalismus vom Projekt selbst nicht zu trennen sind. Dies ist die paradoxe Definition, die wir dem Scheitern heute geben können, nämlich als Resultat einer Unternehmung und nicht etwa als Metapher und moralische Wertung einer individuellen Existenz, wo die Frage komplexer und heikler ist. Wo bleiben also der generative Mehrwert, der  maschinische Mehrwert, seine konstituierenden (Ambi)valenzen?

In diesem Zusammenhang ist es aber auch wesentlich, die Differenz dieser Überlegungen gegenüber verschiedenen Varianten des (post-)heideggerschen (Post-)Nihilismus von Santiago López Petit bis zu Giorgio Agamben zu bestimmen. Diese Autoren haben das Problem der Potenz aufgegeben und sich der Ambivalenz unterworfen, während wir hier immer vor einer schwierigen, paradoxen, hartnäckigen Potenz stehen. Kaum jemand hat sowohl gegen die Aufgabe der Potenz als auch gegen den Modus der Äquivalenz und der Mensurabilität des „Ich-Projekts“ die Gültigkeit von Guattaris Idee einer „Wahl der Endlichkeit“ gegenüber den verschiedenen gewollten und dezisionistischen Entschlossenheiten[10] aufgegriffen oder auch nur angedacht.    

 
Making politics with knowledge

Nach unserer Auffassung liegt das Entscheidende an der Frage, wie „mit Wissen Politik gemacht“ werden kann, in der Fähigkeit, die Sequenzen der Aneignung und Gleichsetzung des Mehrwerts (des kodierten und maschinischen, d.h. der möglichen Welten) zu sabotieren, welche die kooperative Tätigkeit unweigerlich hervorbringt. Als einziger Modus der (politischen) Existenz, der uns gegeben ist, der überhaupt gegeben ist. Es gibt kein existenzielles Territorium der kreativen und kognitiven Arbeit ohne diese „Wahl der Endlichkeit“. Als immanenter Bruch in einer „Lebenswelt“, in welcher der Zynismus, der Opportunismus und die Angst des kreativen Individuums als einzige praktische Tugenden herrschen (Paul Virno). Diese „Wahl der Endlichkeit“ dringt in den „problematischen Block “ (Guattari) ein, wo über die „Potenz“ entschieden wird: Universen des Affekts und des Effekts, (problematische) unkörperliche Affekte an der Schnittstelle zwischen Subjekt und Objekt, Spannfedern möglicher Welten, und hyperabstrakte maschinische Effekte, die neue Entwürfe der Kooperation entstehen lassen können, entscheidende Verkettungen von kollektiven menschlichen und nicht menschlichen Äußerungen, zeitgenössische und wirksame soziale Kriegsmaschinen und Artefakte der kollektiven Existenz eines transitorischen und transitivistischen, jedoch in seinem ontologischen Bruch resistenten und irreversiblen Wir.[11] Das Gewebe, aus dem die „Lebensformen“, von denen wir sprechen, bestehen, unterscheidet sich davon nicht. Die Ambivalenz erscheint hier als problematischer Block und Affekt, als Fleisch des Leidens. Die Ersatz[12]-Ewigkeit, die das Projekt der totalen Auto-Mobilisierung des kreativen Individuums versorgt, sowie die radikale Abtrennung der dem Individuum innewohnenden Potenz brechen nur in der Chaosmose der endlichen existenziellen Territorien, Fragmente eines „Für-sich“ der Armut und der Prekarität, welche die einzige körperliche, weltliche Bestimmung der generativen Potenz des general intellect sind. Diese „Schizoanalytik der Endlichkeit“ des general intellect ist ein unvollbrachtes Werk, ein kommender Appendix an das „Fragment über Maschinen“ in Marx’ Grundrissen.   

In diesem Sinne geht es also darum, Produktionsprozesse zu erfinden, die reproduzierbare Sequenzen organisieren, und Interventionspläne, die in der Lage sind, neue materielle Beziehungen  einer – noch prekären und experimentellen – sozialen Reproduktion zu generieren. Die alltägliche Konstruktion dieser Fluchtlinien innerhalb und gegen die Durchführung der Krise erfordert zuerst die Schaffung von verschiedenen Takten (Ritornellen) und Räumen. Praktiken, die radikal gegen die Neutralisierung der Mehrwert erzeugenden, überschüssigen affektiven Beziehungen gerichtet sind und gleichzeitig imstande sind, Wege jenseits der binären Reduktion der Paletten des Möglichen zu suchen, die uns nicht nur in den konstituierten Institutionen der kulturellen und akademischen  governance den Weg verstellt, sondern auch in den kollektiven Praktiken. 

In anderen Worten, von einem problematischen Block aus zu handeln bedeutet, sich innerhalb eines Universums zu situieren und dabei von der Befehlsgewalt gefangen, aber auch von vielfältigen Feldern konstituierender Möglichkeiten durchdrungen zu sein; und es bedeutet auch, die Möglichkeiten der Praxis in einer endlichen, strategischen Affirmation zu kombinieren. In einem Plan, der die Fluchtlinien innerhalb der materiellen Komplexität des Alltags verkörpert, innerhalb und gegen die Machtverhältnisse der Krise, innerhalb und gegen die Prozesse der Vereinnahmung und der Individualisierung – eine materialistische Praxis, die in der Lage ist, die absolute Gegenwart der Krise und den Prozess der Enteignung der Lebensräume des Alltags herauszufordern.  

Ein erstes Element, das dabei nützlich erscheint, ist der Aufbau von Netzen als Räume. Nach Gerald Raunig denken wir die Netze als abstrakte Maschinen, deren Funktion die Zusammenführung unterschiedlicher Erfahrungen und an unterschiedlichen Orten stattfindender Kämpfe ist – Netze sind demnach gleichzeitig die Praxis koordinierter Aktion und unvorhersehbarer Hybridisierung.[13] Doch das Netz wird hier nicht als entterritorialisierte Maschine begriffen, sondern als materielles Experiment kollektiver Aktion innerhalb des instituierenden Prozesses neuer sozialer, institutioneller und technischer Territorien. 

Es geht um den virtuellen Raum des Netzes, aber auch der europäischen Dimension – heute mehr denn je Fluchtpunkte vor der künstlichen Knappheit der Nationalökonomie, des Staates, der Rhetorik eines guten und eines schlechten Kapitalismus. Es geht aber auch um den Raum der urbanen Netze, die jeden Tag gebaut werden, um ausgehend von einer analytischen und affektiv-militanten Intelligenz politische Räume hervorzubringen, die in der Lage sind, den Pathologien der klassischen Organisationsartikulation zu entkommen. Es sind die Räume der maschinischen Komposition wie n-1.cc, transversal, edufactory, noborder, Euromayday, oder Projekte wie Wikipedia – aber auch die Versammlungs- und Projektionsräume, die aus der Affirmation von politischen Prozessen auf europäischer Ebene entstehen – die Kämpfe an den Universitäten, gegen die Grenzen des Schengen-Europa, usw. Und es geht um jene Prozesse der urbanen Intervention, die imstande sind, unvorhersehbare Verkettungen herzustellen, Verbindungen zu öffnen, Allianzen zu bilden, um vom Unvorhersehbaren her die Geometrien der Feindschaft, die uns fesseln, in Frage zu stellen – die alltäglichen Mikrofaschismen der Krise.

Bei der Herstellung dieses neuartigen Raums wird das Netz der Netze nicht als neues Territorium konstituiert, sondern als jeweils weiteres Territorium von dem aus eine Intervention und Umdeutung der Alltagsräume möglich ist, ohne dass diese aufgegeben werden müssten. Das Netz wäre also ein sozio-maschinisches Territorium, das von Technologien, Sozialbeziehungen, Vergangenheiten, Körpern usw. bestimmt wird. Es wäre aber auch eine Erfahrung, die es ermöglichte, die „Wirklichkeit zu steigern“ – im Alltagskontext zu handeln und dabei die Machtverhältnisse mit unberechenbaren Flüssen zu überfordern, die aus den kollektiven Prozessen der Komposition, der Durchführung, der Reproduktion entstehen.

An diesem Punkt ist es nötig, die politische Praxis im Netz als Praxis der Komposition zu verstehen. Es gilt, über die repräsentative Dimension der Differenzen, welche die Identitäten beinhalten, hinauszugehen, und das Netz als kompositorische und expressive Praxis in der „Ruine der Repräsentation“ zu „machen“, um ein Bild von Dimitris Papadopoulos aufzugreifen.[14] Hier scheinen uns die Anregungen aus der politischen Praxis der translation studies von Nutzen zu sein, welche die Krise der „Artikulation“ als reduktionistische Praxis der Organisation und der Differenz hervorheben und eine heterolinguale Ausrichtung der Übersetzung als materielle Komposition von Möglichkeiten, als konkrete Suche nach möglichen Elementer einer Komposition und als kollektive Strategie der Aktion vorschlagen. Praktiken der materiellen Komposition, in der die kollektiven Praktiken der common speech (Gemeinsprache)[15] als kollektive Äußerungsprozesse hervortreten, und nicht als Theater, in dem vordefinierte Wörter repräsentiert werden. Es geht um die Möglichkeit, eine kollektive Praxis zu erfinden, die in der Gegenwart interveniert, die konkrete Veränderungen des Alltagslebens eines kollektiven Körpers durch Zusammentreffen, Gegenüberstellung, Übersetzung, Diskussion, Fabulierung, Geplauder und Liebe hervorbringt, welche die Gruppen aus sich selbst heraus und in mögliche Welten hineinwirft, die in der Wahl der Endlichkeit wurzeln. Durch die molekulare Metamorphose der Subjekte, die an den Kämpfen beteiligt  oder durch die aus diesen Praktiken der Verbindung, Kommunikation, Koordination und Austausch hervorgehenden Ereignisse affiziert sind.     

Andererseits glauben wir, dass es, um diese Herausforderung zu denken, nötig ist, uns auf die Prozesse der Konkretisierung und Reproduktion dieser Experimente in der Zeit zu konzentrieren: die Leere der Gegenwart zu brechen und Perspektiven zu konfigurieren, die eine Kontinuität zwischen dem Jetzt und einer (sehr nahen) Zukunft der instituierenden Experimente zu konstruieren vermögen. Darin besteht die Herausforderung der von der Krise zugesperrten Zeit: von der absoluten Gegenwart zu einem present continuous – einer kontinuierlichen Gegenwart überzugehen. Die Zeit, die als Rhythmus der diffusen und synkopierten Äußerung vergeht, die mit jedem Taktschlag die Linearität der modernen kapitalistischen Kantilene herausfordert und eine Krise der Zeit des Kapitals als Entwicklungsprozess auslöst (ausschließlich für die Überlebenden der Sparpolitik). Ein synkopierter Rhythmus, der es uns ermöglicht, das Schweigen vor dem Abgrund zu brechen, und der uns die Orientierung in der Dunkelheit erleichtert. Autonome Sequenzen, die es uns ermöglichen, aus der Krise als despotischer Dimension eines zähflüssigen Alltags und aus einer Sparpolitik als Moraltechnik auszubrechen, welche die Ausdrucksmöglichkeiten des Subjekts unterdrückt. Es geht also letztlich um die Neuerfindung der Zeit der Krise als Zeit der Autonomie.

In diesem Zusammenhang erscheint es uns von Interesse, auf die Geschichte zurückzukommen, mit der wir begonnen haben. Wenn im 15. und 16. Jahrhundert die Künstlerwerdung der mestiere als Werkzeug zur Steuerung dieses Produktivraums und zur Trennung von Kreation und Politik diente, dann gerät dieses Verfahren im 18. Jahrhundert in eine Krise. „Chambers hat Bücher gelesen, aber es gibt Dinge, die man nur in den Werkstätten lernen kann“, schreibt D’Alembert in seinen Vorüberlegungen zur Enzyklopädie. Und mit Diderot beginnen viele andere durch Frankreich zu reisen, um einen Prozess der inchiesta einzuleiten, der das soziale Diagramm der Wissenshierarchien ebenso in Frage stellt und verändert wie die Machtverhältnisse in der Produktion.

„Wir suchen die geschicktesten Handwerker in Paris und im Reich auf; wir machen uns die Mühe, in ihre Werkstätten zu gehen, sie zu befragen, niederzuschreiben, was sie uns diktieren, ihre Ideen zu entwickeln, von ihnen die passenden Begriffe ihrer Berufe zu erfahren, diese zu definieren und sie in Tabellen zu verzeichnen; mit jenen zu sprechen, die uns ihre Erinnerungen erzählen, und (eine fast unabdingbare Vorsichtsmaßnahme) in langen und häufigen Gesprächen mit einigen von ihnen über das, was andere uns fehlerhaft, unklar und manchmal falsch erklärt hatten, richtigzustellen.“ Die enzyklopädische Praxis ist keine Repräsentation der Wirklichkeit, sondern ein expressiver Prozess, der in den sozialen Dynamiken abläuft. Die Praxis der inchiesta schafft einen politischen und materiellen Raum, einen Raum der Analyse und der Eigenermächtigung, vor allem aber öffnet sie einen Raum und eine Zeit des „Antagonismus“, die von der Autonomie und dem Experiment aus artikuliert werden.

So wird einerseits eine Kartografie der Tätigkeitsformen der mestieri anerkannt und konstruiert, die immer noch in die untersten Schichten der Gesellschaft verwiesen werden. Andererseits wird in der Analyse der Reproduktionszyklen der Erde, der Arbeitsbedingungen, der Wissensübertragung eine materialistische Ökologie der Gesellschaft entworfen.  Es wird eine kollektive Praxis erfunden, welche die eigene – autonome – Reproduktionsfähigkeit als antagonistischen Ausgangspunkt gegenüber Aristokratie und Kirche behauptet. Und ebenso werden Fluchtlinien gezeichnet, die in der Lage sind, die Zeit zu öffnen, zu experimentieren. Eine Praxis, deren expressive und produktive Potenz täglich im wikipedischen Raum übersetzt und neu erfunden wird, also in der Reterritorialisierung der Praxis der inchiesta und der autonomen Produktion des enzyklopädischen Wissens im aktuellen sozio-maschinischen Kontext. 

Die Revolution denken zu können, mögliche Räume der Autonomie öffnen zu können, sie aber gleichzeitig am problematischen Block einer Wahl der Endlichkeit zu situieren; die Gegenwart als Schwelle der geschichtlichen Leere zu denken, als konstituierende, offene und kontingente Spannung, die sich auf eine unvorhersehbare Zukunft richtet. Und das Experimentieren als Praxis des Konflikts und der Transformation. Wir glauben, dass in diesem Spiel zwischen Endlichkeit und Potenz, zwischen inchiesta des Alltäglichen und Strategie der Transformation sich jene verkörperten Alteritäten auftun können, die uns in die Lage versetzen, es mit den Steuerungsprozessen der Krise aufnehmen zu können, welche sich auf die Enteignung des Gemeinguts und die Disziplinierung der Kooperation stützen. Und aus der Kunst der Krise ein gemeinsames mestiere des Alltags zu machen.

 



[1] Schrauben, Zangen, Feilen, Hebel, Blasbälge.

[2] Brizio, Leonardo: Saggi e ricerche, 1954, S. 278.

[3] I filosofi e le macchine, 1962, S. 45-55.

[4] „Ihr [Dichter] habt die Malerei den mechanischen Künsten zugerechnet; gewiss, wenn die Maler so geschickt wären wie ihr und mit der Schrift die eigenen Werke lobten, dann bezweifle ich, dass sie eine so niedrige Bezeichnung verdienten; wenn ihr sie mechanisch nennt, weil die Hände demjenigen die Form geben, was in der Vorstellung ist, dann malt auch ihr Dichter mit der Feder das, was sich in eurem Geist befindet.“

[5] Rossi, I filosofi e le macchine, 1962; Antal, La pittura fiorentina e il suo ambiente sociale, 1956

[6] Fumagalli, Bioeconomia e capitalismo cognitivo 2008; Tiddi, Precari 2002

[8] In dieser Hinsicht bildet die Erfahrung des französischen CERPHI einen bedeutenden und ähnlich gelagerten historischen Präzendenzfall, denn dieses wurde, sobald es sich den akademischen Strukturen des CNRS anpassen musste,  neutralisiert und aufgelöst (auch wenn das Ausmaß der Krise und die subjektive Verarmung der französischen Linken nach 1968 auch ihren Beitrag zu dieser und anderen Auflösungen geleistet hat).

[9] „Kontrolle und Werden“, Gespräch von Gilles Deleuze mit Toni Negri, in: Futur antérieur, Nr. 1, Paris, L’harmattan 1990, zitiert nach Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt am Main 1993, S. 252.

[10] Im Original deutsch (W.S.)

[11] vgl. Félix Guattari, Chaosmosis: An Ethico-Aesthetic Paradigm, Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1995.

[12] Im Original deutsch (W.S.)

[13] vgl. Gerald Raunig, Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung, Wien: Turia und Kant 2008.

[14] In the ruins of representation: Identity, individuality, subjectification British Journal of Social Psychology, Volume 47, Number 1, March 2008 , pp. 139-165(27))

[15] “In der Gemeinsprache kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass die Sprache, da sie sozialen Notwendigkeiten entspricht, kein Instrument des Individuums sondern der Gesellschaft ist.“ (Rossi-Landi)