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02 2011

Wissen versus Kreativität?

Über Beschreibungsweisen von Kunst und deren Bezug zu ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen

Judith Siegmund

Kunst wird heute vermehrt als eine Weise, Wissen zu produzieren, bestimmt. Wie der Begriff des Wissens in diesem Zusammenhang verwendet wird, wäre erst einmal zu erläutern und auch zu problematisieren. Er ist als ein Anzeiger zu verstehen für Transformationen, die sich teils in der Kunst selbst vollziehen, aber auch über sie hinausweisen, mitunter institutionell aufgegriffen werden – wobei der Wissens­begriff im institutionellen Zusammenhang vermutlich eher instrumentalisiert als bloß deskriptiv verwendet wird. Das Motiv dieses Beitrags ist es daher, den Wissensbegriff einerseits zu hinterfragen und ihn andererseits ins Verhältnis zu konträren Beschreibungen der Kunst zu setzen, die Kunstpraxen gerade als das Gegenteil von rationalem Handeln verstehen. Ein veraltetes Verständnis von Kunst zeigt sich zurzeit in der inflationären Anwendung des Begriffs der Kreativität in ökonomischen und allgemein gesellschaftlichen Zusammenhängen.


Die Rückprojektion von ‚Kreativität‘ auf nichtkünstlerische Arbeit

In seinen späten Vorlesungen beschäftigt sich Michel Foucault mit Spielarten neoliberaler Wirtschaftsmodelle, dem Ordoliberalismus und dem „amerikanischen Neoliberalismus“, der „Chicagoer Schule“.[1] Es geht ihm dabei letzten Endes auch um die Frage, wie Subjekte quasi von innen her konditionierbar sind, ohne unablässig durch Herrschaft von außen regiert zu werden.[2] In beiden von Foucault analysierten Wirtschaftstheorien wird der Freiheit des Marktes ein diese Freiheit begrenzender staatlicher Rahmen gegenübergestellt; in beiden Theorien soll es (wenn auch auf eine unterschied­liche Weise) die Funktion des Staates sein, die Konkurrenzfähigkeit der Subjekte auf dem freien Markt zu gewährleisten. Aus diesem Ansatz Foucaults leitet Ulrich Bröckling die These ab, die maßgebliche neue Lebensform in unserer Zeit sei das Unternehmertum. Subjekte seien – und dies nicht nur auf dem ökonomischen Sektor, sondern in allen Lebenslagen – als UnternehmerInnen ihrer selbst allein für Input und Output in verschiedene Bereiche ihres Lebens verantwortlich.[3] Das Individuum modelliert sich lt. Bröckling selbst, indem es nach dem ökonomischen Prinzip der Nutzenmaximierung immerfort Entscheidungen über Investitionen in sein eigenes Selbst als lebenslanges unternehmerisches Projekt trifft.[4] Ausgehend von vier verschiedenen Arten der Beschreibung des/r UnternehmerIn (als Nutzer von Gewinnchancen, als Innovator, als Träger von Risiken und als Koordinator) möchte Bröckling aufzeigen, dass gerade Kreativität das Prinzip ist, nach dem sich das Unternehmertum seiner selbst ausrichtet – Kreativität sei „ein gouvernementales Programm, ein Modus der Fremd- und Selbstführung“.[5] Es ist zumindest auf den ersten Blick nahe liegend, dass von Bröckling die Kreativität der KünstlerInnen als ein Modell, auf das sich das unternehmerische Selbst zu beziehen habe, herangezogen wird: „Entrepreneurship findet ihr Vorbild weit eher im Genius des Künstlers, im strategischen Geschick und der Entschlusskraft des Feldherren oder im Rekordstreben des Sportlers.“[6]

Stutzig kann man aber dennoch werden: War und ist nicht Rationalität die vordringliche Eigenschaft, die einem/r UnternehmerIn zu Eigen sein muss? Sind nicht Vernünftigkeit, Kalkül, Berechnung, Informiertheit und auch Wissen die entscheidenden Eigenschaften von Unternehmern? Warum werden die angeblich künstlerischen und sportlichen Momente so sehr herausgekehrt? Oder anders gefragt: Bedeutet Unternehmertum hauptsächlich Innovation und die Erzeugung von originell Neuem?

Der Analyse von Bröckling, der es in erster Linie um die Beschreibung einer Anspannung oder Überforderung geht, unter der die kreativen unternehmerischen Selbste leiden, steht die Beschreibung eines anderen Phänomens gegenüber: KünstlerInnen (vor allem bildende) nehmen in letzter Zeit für sich in Anspruch, Wissen zu produzieren. Was aber ist Wissen, was ist künstlerisches Wissen und wie unterscheidet es sich von der unterstellten Kreativität des Unternehmertums, die sich weit über die Kunst hinaus auch in völlig unkünstlerischen kapitalistischen Arbeitsverhältnissen wiederfinden lassen soll? Warum möchten KünstlerInnen Wissen generieren und warum wollen oder sollen NichtkünstlerInnen kreativ sein?

Während Foucault von der „ganz anderen Rationalität“ der Ökonomie und des ökonomischen Interesses gegenüber der Rationalität des staatlichen Regierens (also von verschiedenen Rationalitäten) spricht,[7] entwirft Bröckling, indem er sich auf den österreichischen liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek bezieht, ein Szenario eines sich kontingent vollziehenden Marktgeschehens, dem die ökonomisch Handelnden als einem opaken Geschehen gegenüberständen. Ökonomisches Kalkül kann laut Hayek vom Markt belohnt werden oder auch nicht, „keine notwendige Beziehung“ gebe es zwischen Verdienst, geschaffenem Wert und Bedürfnisbefriedigung.[8] Hayeks liberale Theorie richtet sich gegen sozialistische und nationalsozialistische Planwirtschaften; sie betont so aufgrund ihrer denkerischen Stoßrichtung die Nichtplanbarkeit von Fortschritt und spricht von der „Anmaßung von Wissen“, mit der sie eher die Anmaßung der Wissenschaft, insbesondere der Ökonomie meint, alles planen und lenken zu können.[9] Bröckling kann meines Erachtens die Kreativität als handlungsleitendes Mentalitätsparadigma nur deshalb als zentral für unternehmerisches Handeln bestimmen, weil er Hayeks Modell des Marktes voraussetzt, das er als die Erläuterung einer Irrationalität des Marktes versteht. Auf diese reagiere man zwanghaft mit künstlerisch-sportlichen Strategien. „Die Kontingenz des Marktge­sche­hens bewirkt so gerade keine Entlastung vom permanenten Zwang zur Selbstmobilisie­rung, sondern setzt diesen erst in Gang.“[10]


Die Kreativitätsprojektion auf die Kunst

Ein Interesse an den irrationalen Aspekten des Lebens sowie improvisierte bzw. kreative Reaktionen auf diese sind traditionell der Kunst, besser gesagt den KünstlerInnen zugeschrieben worden. Möchte man beurteilen, ob sich die Beschreibung Bröcklings (die an den aktuellen inflationären Gebrauch des Kreativitätsbegriffs anknüpft) plausibilisieren lässt, so muss zuerst gefragt werden: Warum und von wem wird künstlerisches Handeln als kreatives Handeln beschrieben? Es sind offensichtlich nicht die KünstlerInnen selbst, die den Akzent derart setzen, dass sie sich von ihrer eigenen Rationalität bzw. der ihrer Werke mittels kreativen Handelns verabschieden möchten.

Die Vermutung geht in die Richtung, dass es historisch gesehen die ‚StatthalterInnen des Wissens’ gewesen sind, welche die Kunst und damit das Handeln der KünstlerInnen als das absolut Fremde, ja das Unverstehbare, ihren eigenen wissenschaftlichen Handlungsformen gegenüberstellten mit dem Ziel, die Rationalität ihrer eigenen Strategien davon abzuheben. Mit den „StatthalterInnen des Wissens“ meine ich natürlich an erster Stelle die WissenschaftlerInnen, auch die Geisteswis­sen­schaftlerInnen, denen es um Erkenntnis geht; UnternehmerInnen sind hingegen vielleicht seit langer Zeit StatthalterInnen des praktischen Wissens. (Jedoch waren UnternehmerInnen wahrscheinlich nicht in einem wirklich hohen Maße an der Definition der Kunst beteiligt, es sei denn als Mäzene.) Da hier nicht der Ort ist, der Vermutung in der erforderlichen Breite nachzugehen, soll nur ausblickhaft dargelegt werden, wie in der ästhetischen Theorie in Anknüpfung an Kants Bestimmung des Schönen das ästhetische Wahrnehmen systematisch von der Erkenntnis und dem Moralisch-Praktischen abgetrennt worden ist. Die Auszeichnung eines ästhetischen Weltzugangs auf einer philosophisch-systematischen Ebene bedeutet die Trennung dieses Ästhetischen von Erkenntnisgewinn und praktischem Urteilen. Von dieser Isolierung des Ästhetischen von Erkenntnis und Moral ist es noch ein langer Weg bis hin zu der Auffassung, Kunst sei unbestimmbar, da es in ihrer Erfahrungsstrukturen weder um Erkenntnisgewinn noch um sittliches praktisches Wissen gehen könne. Solch gedankliche Verknüpfung einer Ästhetik des Schönen (die sich bei Kant zudem auf die Wahrnehmung des Naturschönen bezieht) mit einer Bestimmung von Kunst, die jenseits von Erkenntnis und Sittlichkeit verortet wird, hat aber stattgefunden. Und so ist das „Erbe“ einer solchen Theorietradition, dass der Kunst von großen Teilen der ästhetischen Theorie abgesprochen wird, Wissen im Sinne von Erkenntnis erzeugen sowie moralisch-praktisches Wissen vermitteln zu können. Hierbei handelt es sich nicht um Eigenschaften, die der Kunst neben anderen Eigen­schaf­ten zukommen, sondern es handelt sich um das, was Kunst per se als eine ästhetische Erfahrungsform auszeichnet, also um das zentrale Moment ihrer philosophischen Bestimmung. Die (sich auf Kant beziehende) philosophische Theorie grenzt die Kunst ab von Moral und Erkenntnis und begrenzt so zugleich ihr eigenes theoretisches Wirkungsfeld. Geopfert wird mit solch einer Beschrei­bung die Möglichkeit, Kunst substanziell als wirksam in konkreten nichtkünstlerischen Feldern zu beschreiben. Denn die einzige Möglichkeit, wie Kunst nach Auskunft der ästhetischen Theorie im Nichtkünstleri­schen wirksam werden kann, ist ihr subver­sives ‚Eingreifen‘ durch die Fremdheit/Andersheit ästhetischer Erfahrungs- und Wahrneh­mungs­strukturen. Subversion durch Fremdheit kann nicht konkret werden, sondern ist immer auf eine Denkfigur der Störung bzw. Auflösung festgelegt.

Die Arbeitswelt, in der der Kreativitätsbegriff in der letzten Zeit eine Konjunktur erlebte, hat Vertrauen ins Subversive entwickelt. Das, was zuvor als Kritik formuliert und bewertet worden ist, fungiert jetzt anscheinend als Maßstab für Anforderungen an jede Person im Arbeitsleben.[11] Künstlerisches Verhalten sowie die aus ihm resultierenden Produkte im Sinne eines Unverstehbaren, als das, was quer zu Erkenntnis und praktischem Wissen liegt, haben sich zu einer Orientierungs­figur in ganz unkünstlerischen Kontexten wie der Arbeitswelt entwickelt. Hinzu kommt, dass Anleihen gemacht werden bei der romantischen Figur des Künstler­genies und dem Wuchern seiner überschäumenden Kräfte. Jedoch bewegt sich „[d]as Genie […] in einer Sphäre jenseits der Norm, weshalb es der Common Sense in die Nähe des Wahnsinns rückte […] Kreativität ist dagegen normal.“[12] Normal soll Kreativität sein, weil fast jeder sie aufbringen soll als ein Mittel, um besser im Alltag bestehen zu können. Die falsche Kreativitätsprojektion auf die Kunst wird im Modus ihrer Anwendung im Arbeitsleben „in den Dienst des problemlösenden Handelns gestellt“.[13] Das Nicht-Planbare, Unverstehbare und Erstaunliche, welches man zuerst auf die Kunst und die KünstlerInnen projizierte, soll nun in einer domestizierten Form der Effizienzsteigerung und dem ökonomischen Profit dienen. Vergegenwärtigt man sich solche Konzepte der Nutzbarkeit von Kreativität in ökonomischen und lebenspraktischen Zusammenhängen, so ist man erstaunt darüber, wie weit letztendlich die Kreativität, die man der Kunst unterstellte, von der geforderten Kreativität im Bereich ökonomisch-praktischer Anwendungen entfernt ist. Das Bild eines Handelns in absoluter Freiheit ist einerseits Maßstab gebend und verwirrt laut Bröckling die Menschen, die anderer­seits an konkrete Effizienz und Nutzenoptimierung gebunden bleiben.

Verwandt mit der Beschreibung des Zwangs zur derart eingeschränkten Kreativität scheint die These von Axel Honneth über institutionelle Ansprüche an die Selbstverwirklichung der einzelnen Subjekte. Axel Honneth zufolge wenden sich die für westliche Gesellschaften charakteristischen Individualisierungsten­denzen von Subjekten inzwischen gegen diese Subjekte selbst, indem die ehemals subjektiv initiierten Ansprüche auf Selbst­verwirk­lichung zur Legitimations­grundlage des ganzen Systems geworden sind und von den Institutionen als Anforderung an die Einzelnen herange­tragen werden, so dass die Einzelnen unter diesen Ansprüchen leiden.

Die für den Zusammenhang des vorliegenden Beitrags entscheidende Frage ist, ob eine solcherart bestimmte Kreativität bzw. die durch diese erreichte Selbstverwirklichung nicht eigentlich vielmehr in rationalen Operationen aufgeht. Das würde bedeuten: Es gibt eine Art künstlerischen bzw. gesellschaftskritisch-alternativen Habitus, der sich mit berechnendem Kalkül zugunsten der eigenen Karriere einsetzen lässt.


Ist Kunstproduktion heute eine Wissensproduktion?

Während das Bild der Kreativität, an dem sich z.B. die Arbeitswelt heute orientiert, aus der Sicht der KünstlerInnen überholt scheint, erheben KünstlerInnen bzw. Kunstinstitutionen zeitgleich Ansprüche, durch Gestaltung Wissen zu generieren. In erster Linie deute ich solche Ansprüche als eine Zurückweisung jener historischen, theoretisch bestimmten Zweckfreiheit von Kunst, welche sich in ihrer systematischen Getrenntheit von Erkenntnis und praktischem Handeln zeigen soll. Viele KünstlerInnen wollen – entgegen dieser überkommenen Zuschreibung seitens der ästhetischen Theorie – ihr Handeln nicht als das Gegenteil rationaler Operationen aufgefasst sehen. Unter Wissen scheinen sie aber mehr als propositional reformulierbare Erkenntnis zu verstehen, mehr auch als die Fähigkeit, in sprachlichen Argumenten Gewusstes darzustellen. Die Frage, wie weit der Begriff des Wissens eigentlich gefasst werden muss, um das hier Gemeinte zu treffen, drängt sich auf, genauso wie die Frage nach einem Differenzkri­terium von Wissen in den Künsten und in den Wissen­schaften. Der Wissensbegriff der Künste müsste sich m.E. zu großen Teilen aus seiner Bestimmung als praktisches Wissen erklären bzw. als eine besondere Art eines praktisch-kognitiven Weltzugangs. Man kann Wissen mit Heidegger als ein Wissen verstehen, das „zum Sein des Da, das wesenhaft Verstehen ist“ gehört[14], anders ausgedrückt, als Wissen, welches uns allen immer schon gegeben ist zur Orientierung in der Welt – jener Welt, die von Heidegger in ihren einzelnen Kontexten als vorerschlossen gedacht wird. Heidegger schreibt dazu weiter: „Und nur, weil Dasein verstehend […] ist, kann es sich verlaufen und verkennen.“[15] „Verlaufen und Verkennen“ sind Modi des Irrtums, man könnte sagen falsches Wissen. Es muss also – theoretisch gesehen – die Möglichkeit gedacht werden können, teilweise zumindest zum richtigen Wissen, das bei Heidegger nichts mit Aussagewahrheit zu tun hat, zu kommen; dies findet also nicht durch verbesserte Argumentation, sondern vielmehr durch die Etablierung neuer Handlungsweisen statt. In diesem Sinne ließe sich ‚Kunst als Wissensproduktion‘ als die Schaffung ausgezeichneter konkreter Zugangsweisen zur Welt, zu ihren Kontexten und Gegenständen verstehen. Dass dieser Wissensbegriff kein universeller sein kann, liegt auf der Hand. Wenn es neue, besser gesagt im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext wertvollere oder wichtigere Zugangsweisen gibt, dann kann das nur bedeuten, dass etwas Verdecktes aufgezeigt, etwas Unbeachtetes ins Zentrum gerückt wird, nicht aber, dass im avantgardistischen Sinne Neues geschaffen wird. Das ‚Neue‘ bezeichnet in der zeitgenössischen Kunstproduktion keinen universellen Fortschritt, es ist somit auch anders definiert als in den Naturwissenschaften, es ist vielleicht eher verwandt mit den Geisteswissenschaften, die sich ja – hermeneutisch gedacht – aus unterschiedlichen historischen Kontexten heraus mit den gleichen Gegenständen befassen.

Hingegen hat die klassisch-avantgardistische Idee des Neuen viel mehr mit dem Kreativitäts- bzw. Geniediktat zu tun: Es sollen innovative neue Lösungen geschaffen werden, die es vorher nicht gegeben hat, so auch in den nichtkünstlerischen Anwendungsbereichen. Denn auch profitorientierte Kreativität soll Neues erzeugen. Hierbei scheint ein universeller Fortschrittsbegriff zu gelten, einer, der in der Kunst selbst und bei ihren AkteurInnen als überholt gilt. Die Fortschrittsidee für die Kunst als Wissensproduktion kann sich – das ergibt sich aus dem Gezeigten – auch nicht auf die Entwicklung der Kunst selbst beziehen, das wäre ebenfalls avantgardistisch gedacht und gehört in die inzwischen vergangene Epoche der (klassischen) Moderne. Wenn Kunst als Wissensproduktion jeweils kontextuell stattfindet, kann es auch im starken bzw. abschließenden Sinn ein innovatives Problem lösendes Denken nicht geben, da sich auch gesellschaftliche Kontexte und damit bisher Gültiges stets verändern. Es ist daher zu überlegen, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf der ‚Neuheit‘ der künstlerischen Produktion zu bestehen; denn das, was in dem einen Kontext neu ist, ist in einem anderen nicht neu oder auch gar nicht passend. Wenn man den Begriff des Neuen evtl. durch die Termini „Verbesserung“ oder „Veränderung“ ersetzt, ist es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass solcherart Wissenspro­duktion (im Gegensatz zur angewendeten Kreativität) nichts mit Nutzenoptimierung zu tun hat, mindestens nicht mit einem kalkulierbaren Nutzen, den man als AuftraggeberIn der Kunst bereits im Voraus berechnen könnte. Hier scheint der interessante Grenzbereich zu anderen Formen der Gestaltung zu liegen, wie z.B. zum Design. Für alle Genres der Gestaltung gilt, dass es einen gestalterischen „Überschuss“ gibt, der sich nicht nur als Nutzen ausweisen lässt. Nutzbarkeit und Überschuss sind bei jeder Gestaltung unterschiedlich gewichtet. Die Grenzen zwischen Kunst und Design sind daher fließend, auch in Bezug auf dieses Verhältnis.

Abschließend ist noch auf ein anderes, inzwischen verbreitetes Missverständnis einzugehen, das mit der Idee einer künstlerischen Wissensproduktion verbunden sein könnte. Der Ausdruck ‚Kunst als Wissensproduktion‘ lässt sich nicht sinnvoll auf die Weise erklären, dass man Wissen als immaterielle Entität bestimmt und parallel dazu statuiert, dass in der Kunst heute kommunikativ, digital und nicht mehr mit festen Materialien wie z.B. Holz oder Stein gearbeitet werde. Auch die Autorschaft von KünstlerInnengruppen, in denen zweifelsohne viel kommuniziert wird, ist kein ausreichendes Indiz, um auf einem Wissensbegriff für die Künste zu bestehen. Denn auch Kommunikation und Wissen bleiben (systematisch gedacht) an Gegenstände gebunden. Es lässt sich nichts abstrahieren, das reine Immaterialität besitzt, die kann also mit dem Begriff des Immateriellen auch nicht gemeint sein. Es scheint mir daher aus theoretischer Sicht plausibler, von einer Verschränkung von Wissen und Materialitäten zu sprechen. Der Begriff Material bedeutet in diesem Zusammenhang keineswegs so etwas wie Substanz oder Hardware. Die Welt als vorinterpretierte besteht selbst aus Materialien, denen bereits Bedeutungen eignen. Die Fähigkeiten, mit solchen Bedeutungen umzugehen, kann Wissen genannt werden. So kann Kommunikation, die stattfand, ebenso als Material genutzt werden wie Nachrichten oder Informationen. Menschliche Beziehungen ‚materialisieren‘ sich nicht allein in der Form von produzierten Waren, die ausgetauscht werden, sondern auch in Form von Texten, Bildern, Tönen, Sendungen usw.

Auch wenn in unserem Lebensumfeld Dienstleistung und kommunikative Arbeitsformen zugenommen haben, so leben wir doch von der „Handarbeit der ‚Zweiten‘ und ‚Dritten‘ Welt“, wie in der Beschreibung der theoretischen Ausgangspunkte für das Projekt "creating worlds" festgehalten wird.[16] Wenn Arbeit allgemein zur ‚immateriellen Arbeit‘ geworden wäre, dann würde sich zudem auch die Frage stellen, was denn künstlerische Wissensproduktion von anderen Formen hergestellten Wissens auszeichnen sollte. Es ist klar: Kunst und KünstlerInnen wollen sich heute nicht qua Definition auf die Sinnlichkeit ihrer Produkte festlegen lassen. Dafür ist es aber in keiner Weise nötig, den Begriff des Wissens von jeder Form von Gegenständlichkeit freizusprechen.[17] Damit würde man quasi übers Ziel hinaus­schießen.

Lässt man sich darauf ein, Kunst als eine Weise der Produktion von Wissen zu bestimmen, ist man, auch wenn man Arbeit im Allgemeinen nicht als immateriell versteht, in der Pflicht zu zeigen, was denn noch das spezifisch Künstlerische an der Kunstproduktion sein soll. Kunst findet nicht mehr im Sinne einer als Isolation aufgefassten Autonomie jenseits der Formulierung von Erkenntnis oder abseits von Hand­lungs­weisen des Guten statt, dennoch muss sie ihre eigenen Zugangs- und Handlungsweisen besitzen – oder eben ihre eigenen Weisen, Wissen zu generieren. Wäre dies nicht gegeben, dann würde sich früher oder später die Kunst als Handlungsform selbst abschaffen. Eine gewisse Autonomie muss also für künstlerische Praxen angenommen werden, auch wenn der Begriff der Autonomie nicht im traditionellen Sinn gebraucht wird. Nur durch die spezifische eigene Weise, die nicht strukturell oder systematisch, sondern vielmehr historisch bestimmbar ist, lässt sich das künstlerische von anderen gesellschaftlichen Feldern abgrenzen. Die Gemeinsamkeiten zu anderen Kontexten dagegen sind, dass sich künstlerisches Handeln auch zum Erkenntnisgewinn sowie zum Zwecke der Veränderung und Etablierung neuer moralischer Handlungsformen eignet. Diese Bestimmung verstehe ich als eine Herausforderung an die KünstlerInnen, sich (auf spezifisch künstlerische Weise) ins Außerkünstlerische einzumischen, ja, sich außerkünstlerische Handlungsweisen künstlerisch anzueignen.

 



[1] Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. 2006.

[2] Ich beziehe mich auf den Schlusssatz der Vorlesung 12: „Was jetzt folglich untersucht werden müßte, ist die Weise, in der die spezifischen Probleme des Lebens der Bevölkerung innerhalb einer Regierungstechnologie gestellt wurden, die, weit entfernt davon, stets liberal gewesen zu sein, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unablässig von der Frage nach dem Liberalismus beherrscht wurde.“ Geburt der Biopolitik, S. 442, vgl. dazu auch: Michel Sennelart [so bei Suhrkamp; er heißt eigentlich Senellart]: „Situierung der Vorlesungen“, in Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 445f.

[3] Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst, Frankfurt a.M. 2000.

[4] Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 93.

[5] Ebd., S. 153.

[6] Ebd., S. 124.

[7] Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 388; Hervorhebung von mir.

[8] Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 100.

[9] Vgl. Hayek: Die Anmaßung von Wissen in: ders. Die Anmaßung von Wissen, Tübingen 1996, S. 3-15.

[10] Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 103.

[11] Vgl. Axel Honneth (Hg.): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt a.M./New York 2002.

[12] Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 161.

[13] Vgl. Ulrich Bröckling: Kreativität in: (ders.): Das unternehmerische Selbst, S. 152-179.

[14] Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen  1993, § 31, S. 144.

[15] Ebd.

[17]  Ganz im Gegenteil gibt es vermehrt Ansätze zu einer materiellen Bedingtheit von Wissensproduktion im Sinne des Körpers der WissensproduzentIn und deren/dessen Situierung („bodypolitics of knowledge“).