10 2012
FÜGUNGEN
Versuch über Flucht und Recht und Sprache
(Auszug[1])
FREMDENZIMMER
Im Oktober 1975 fuhr ich mit meinem Wagen, der beinahe so alt war wie ich, der ich noch jung war, nach Österreich, um mit meinem Studium im Wintersemester zu beginnen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wer es war, der mich damals im Oktober darauf hinwies, daß ein Ausländer, um in Österreich länger bleiben zu dürfen, ein Visum benötige und dieses zu beantragen sei bei der Fremdenpolizei, deren Büros in der Taubstummengasse lagen.
Das Wort Fremdenpolizei und eine solche Einrichtung für Fremde waren mir nicht bekannt – sie waren neu für mich, allerdings nicht fremd deswegen. Ich hatte viele Jahre in Deutschland – nicht darüber nachdenkend, ob als Fremder oder nicht als Fremder – gelebt. Beide Eltern waren nicht in Deutschland geboren. Sie hatten in den Jahren in Deutschland nie mit der Fremdenpolizei zu tun gehabt. Wo war ich geboren? Die Mehrzahl der Menschen in Europa weiß, in welchem Land sie geboren sind. Ich zähle zu denen, welche in einer Stadt geboren sind, die im Geburtsjahr keinem Land angehörte, auch kein eigenes Land darstellte – in der Mitte von Europa. Ich bin in keinem Land geboren, in keinem Staat. Die Wiener Fremdenpolizei hat nicht so genau gefragt – sie hat nach dem Ort der Geburt gefragt, nicht nach dem Land. Ohnehin konnte ich einen Paß vorzeigen, auf dem in Großbuchstaben der Name eines Landes geschrieben stand, wenngleich die Geburtsstadt nicht in diesem Land lag, wenngleich sie damals in keinem Land lag – aber doch mitten in einem, und zwar mitten in einem Land, das nach dem Krieg auseinandergerissen war zu zwei Ländern. Bald nach meiner Geburt in Berlin Charlottenburg kamen wir, nach einer viele Wochen langen Schiffsreise, während der wir zweimal den Äquator überquerten und uns zweimal taufen ließen bei diesem Übergang, auf dem in einer deutschen Werft, nach dem Weltkrieg englischen und viel später zu einem Pilgerdampfer, für Pilger von Südostasien nach Mekka, gewordenen Truppentransportschiff ‘Empire Orwell’ in ein fernes Land, wo wir Fremde waren oder jedenfalls Menschen von der anderen Seite der Welt und wo England einen nicht erklärten Krieg führte, bis heute in den Schulbüchern nicht als Krieg beschrieben, Vorgänger des weltberühmten Vietnamkriegs, welcher in Vietnam bezeichnet wird als der Amerikanische Krieg.
Nach fünf Jahren ging es wieder zurück nach Europa und eines der ersten Wörter, die ich in Europa, in der Sommerfrische in Österreich, lesen lernte, war das auf allerlei kleine Schilder die Landstraßen und Dorfstraßen entlang, auf Schilder in Blumengärten, auf Schilder an den Zäunen befestigt und an Hausmauern befestigt, auf Schildern, die nach links oder rechts in die Weite zeigten, auf kleine Schilder fast immer mit der Hand geschriebene Wort Fremdenzimmer, das wohl ebenso oft zu lesen war wie das andere Schild, auf dem bloß stand Zimmer frei, welches manchmal verhangen war von einem Besetzt-Schild. Ein Kind, das 1962 im Auto durch Österreich reiste, auf den Landstraßen, durch die Dörfer, las oder sah immer wieder, daß die Zimmer und die Stuben und vielleicht die Häuser den Fremden frei und offen standen. Wenn wir auf den langen Autoreisen in einem Hotel übernachteten, so konnte ich manchmal das Wort Hotelgäste hören, nie Hotelfremde. Oder wir übernachteten in einem Gasthof, nie in einem Fremdenhof. Es gab also eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den Häusern, in denen Gäste in den Zimmern und Fremde in den Zimmern wohnten.
Vor mir auf dem Tisch liegt das 775 lange Buch mit dem Titel Fremdenrecht (4., aktualisierte und erweiterte Auflage, erschienen in Wien und Graz 2010, gedruckt in Prag). Wer wie ich das Wort Fremdenzimmer als eines der ersten langen Worte der deutschen Sprache lesen gelernt hat, dem wird vielleicht auffallen, daß an das Wort Fremde ohne weiteres andere Wörter angefügt werden können, hinzugefügt werden können, zugefügt werden können. Im Deutschen kann man dem Wort Fremder etwas zufügen. Es ist auch möglich, Menschen etwas zuzufügen. Das hätte ich als Kind nicht ins Englische übersetzen können, hätte es vielleicht als attach übersetzt und mir nicht erklären können – auch nicht erklären können, daß das Wort to attach zusammenhängt mit dem Wort to attack. Wer das Wort Fremdenzimmer so oft gesehen hat und die von dem Wort ausstrahlende Fensteröffnung und Türenöffnung und Hausöffnung, dem wird es vielleicht besonders auffallen – falls er ein Leser des 775 langen Buchs ist –, daß auf den ersten Seiten des Buchs nicht von den gastlichen Fremdenzimmern die Rede ist und nicht von den Gasthöfen und Gasthäusern, auch nicht von den Hotels. Wer die Fremdenzimmer und gastlichen Höfe im Stichwortverzeichnis sucht, welches auf der Seite 765 beginnt, der findet dort die Stichwörter Fremdenpass (Ausstellung, Entziehung, Form und Inhalt, für Minderjährige, Geltungsdauer, Versagung), Fremdenpolizei, Fremdenpolizeibehörde und Fremder. Ich schlage nach unter dem Stichwort Fremder, vielleicht weil ich selber einer bin oder gar nicht richtig fremd sein kann oder mehr Freunde kenne als Fremde, viele Freunde habe, aber Fremde gar nicht haben kann. Feinde kann man haben, aber Fremde …
Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist Fremder: wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt.
Auf Seite 47 steht es noch
einmal:
„Im Sinne dieses Bundesgesetzes
ist Fremder: wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt.“
An dieser Stelle erinnere ich mich an Karl Valentin und sage mir vor, was er geschrieben hätte, hätte er etwas geschrieben zum Fremden im Sinne des Gesetzes: So zähle ich also im Sinne dieses österreichischen Gesetzes zu jener beträchtlichen und weltberühmten Zahl von Fremden verstreut über die ganze Welt, für die alle dieses Gesetz gilt, zu den mehr als vier, bald fünf Milliarden auf der Welt, auf welcher es verhältnismäßig wenige Einheimische gibt. Das österreichische Fremdenrecht gilt für oder ist anwendbar auf mehr als vier Milliarden Menschen in Hunderten von Ländern und Städten, die alle nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und nicht besitzen werden.
ALPHABETISIERUNGSKURS
Wer im Stichwortverzeichnis die Gasthöfe und -häuser sucht, findet sie nicht. Wer unter dem Buchstaben G den Gast sucht, findet als erste Stichwörter die Gebietsbeschränkung, die Gebühren, die Gefahr im Verzug und die Gegenstandslosigkeit. Das Stichwortverzeichnis beginnt mit A2-Niveau und Aberkennung, mit Abschiebung und Alphabetisierungskurs. Der Alphabetisierungskurs erinnert mich daran, daß ich in der Volksschule als Fremder begonnen habe, Deutsch lesen und schreiben zu lernen, in Aigen im Ennsthal, nicht lange nach einem Streit in der Familie und nach der Flucht meiner Mutter gemeinsam mit mir in ihr Herkunftsland, Österreich, wie mit einem Flüchtlingskind, das nicht Deutsch lesen und buchstabieren konnte. Der Alphabetisierungskurs in Aigen im Ennsthal hieß Deutschstunde. Wir wohnten in einem Fremdenzimmer, im ersten Stockwerk des Bauernhofs der Familie G., am Südrand des Dorfs, bei dem Militärflugfeld.
Unsere Mitfremden heute in Österreich, wenn sie nicht gut Deutsch sprechen, werden allesamt alphabetisiert. Auf Seite 746 im Fremdenrecht heißt es:
„Der Kursteilnehmer soll am Ende des Kurses (nach 75 Unterrichtseinheiten) über ausreichende Fähigkeiten des Lesens, Hörens, Schreibens und Sprechens verfügen, und ohne lesen und schreiben zu können, sei die Teilnahme an dem nächsten Sprachkurs, der auf höherer Stufe weiterführe, nicht möglich.“
Man kommt auf diesen Seiten des Fremdenrechts, das seinem Namen nach so sehr an das Gastrecht erinnert, welches seinerseits mehr Ähnlichkeit hat mit einem Privileg als das Fremdenrecht – doch die Fast-Identität der Worte Gast und Fremder ist nicht zu überhören und war auf den Landstraßen in Österreich nicht zu übersehen, wo nebeneinander die Gästezimmerschilder und Fremdenzimmerschilder hingen –, man kommt auf diesen Seiten des Fremdenrechts ins Stocken. Laut Integrationsvereinbarungs-Verordnung – IV – V, was für ein Alphabetisierungsaufwand, baut der Sprachkurs auf dem Alphabetisierungskurs auf. Sollen die Fremden, ehe sie an einem Sprachkurs teilnehmen und Deutsch lernen, zuerst alphabetisiert werden? Was ist im Fremdenrecht gemeint mit dem Alphabetisieren? Nach der Teilnahme am Kurs sollen die Schüler lesen können, schreiben können, hören können und sprechen können. Man stockt also: Wer kommt nach Österreich und kann weder lesen noch schreiben, noch hören, noch sprechen? Wer kommt nach Österreich und kann nicht sprechen? Und wird das Alphabetisieren ihm dabei helfen, sprechen zu lernen, hören zu lernen?
Folgende Ziele sollen von den Schülern des Alphabetisierungskurses erreicht werden, um dann im nächsten Schritt an einem Deutsch-Integrationskurs teilnehmen zu können:
„Einfache schriftliche Inhalte können gelesen und nach mehrmaligem Lesen auch sinngemäß erfaßt werden. Texte auf einfachstem Niveau, die im Zusammenhang mit dem Lebensalltag der Teilnehmer und Teilnehmerinnen stehen, können mit Hilfe von visueller Aufbereitung erfaßt werden. (…) Kurze Sätze werden memorisiert, um das phonematische Bewußtsein der Teilnehmer und Teilnehmerinnen für Satzkonstruktionen zu schärfen. Das beinhaltet das Unterscheiden von Lauten, Buchstaben, Silben, Wörtern und Sätzen. Dazu eignen sich beispielsweise Übungen wie Klatschen oder Stampfen. (…) Darüber hinaus wird das Schreiben der Ziffern von 0 bis 9 erlernt und das Zuordnen von Ziffern zu entsprechenden Mengen trainiert. (…) Mit einher geht das Vertrautwerden mit der Handhabung der im Kurs verwendeten Materialien (Arbeitsblätter, Hefte, Schreibutensilien, Radiergummi, Schere, Klebstoff usw.).“
Menschen, die mit den Hunderten Sprachen der Welt – achten wir genauer, sind es Tausende Sprachen der Welt – nach Österreich kommen, sollen an Kursen teilnehmen, in denen sie sprechen lernen sollen und Laute, Silben und Buchstaben, Wörter und Sätze unterscheiden, zählen von null bis neun und weiter als neun – alle die, die aus Afghanistan und Pakistan und Tschetschenien und Georgien gekommen sind und aus Syrien und Libyen und Nigeria und Kongo und Somalia und Russland und aus Armenien und Kasachstan? Nicht von einem Grundkurs Deutsch, auf welchen der Folgekurs und Aufbaukurs folgt, ist im Fremdenrecht die Rede, sondern von einem Alphabetisierungskurs. Ist schon einmal mit angemessener Sorgfalt untersucht worden, wieviele Alphabete oder wieviele Schriften diejenigen schreiben, die von weither nach Österreich kommen? Ich kenne manche, die mit drei oder vier verschiedenen Buchstabiersystemen schreiben können und vier und fünf Sprachen sprechen und jetzt in Österreich leben.
Die nicht lesen und schreiben können, was wäre möglicherweise von ihnen zu lernen? Wäre zu lernen, daß es eine Diskrepanz zwischen dem Mündlichen und Schriftlichen gibt, daß das Eine eine größere unmittelbare Gültigkeit aber eine geringere Dauer hat, das Andere kaum Gültigkeit besitzt, aber dauerhaft ist, also eine wenig gültige Dauer und Fixierung? Daß Wörter etwas Flüchtiges sind wie Atem und wie Körperbewegungen – und man sich also atmend und mit bewegtem Körper orientiert und verständigt. Als ich im Asylgerichtshof in Wien an den Verhandlungen teilgenommen habe, im Verhandlungssaal 6, wurde einem jungen Taxichauffeur aus Benin City in Zentralnigeria das Protokoll seiner kurz zuvor gegebenen Antworten zur Überprüfung vorgelesen, rückübersetzt ins Englische – im Protokoll standen seine Antworten in deutscher Übersetzung. Er hat dem Übersetzer, ohne irgendetwas zu korrigieren, zugehört und vielleicht nicht daran gedacht, daß es eine schriftliche Grundlage für die Worte des Übersetzers gab, daß es einen dauerhaften Text gab. Vielleicht bestand das Protokoll nur während der Rede und des Atmens des Übersetzers. Und vielleicht war das für ihn vorgelesene und übersetzte Protokoll keine Wiederholung seiner Worte, sondern etwas Neues, wie ein neuer Atemzug. Es gab darum vielleicht keine Notwendigkeit, etwas zu korrigieren, obgleich es eine Auslassung im Protokoll gab, die ich bemerkt und notiert hatte. Der Taxifahrer hatte, auf die Frage nach der Bedrohlichkeit einer Rückkehr nach Nigeria, nach Benin City oder andernfalls nach Lagos oder andernfalls anderswohin, geantwortet – nicht zu Protokoll gegeben, sondern geantwortet –, daß dann sein Leben in Gefahr wäre. Zu Protokoll gegeben aber wurde – von wem eigentlich: vom Übersetzer, von den Richtern, die des Englischen kundig waren –, daß die Rückkehr gefährlich wäre. Im Protokoll stand nicht, daß das Leben in Gefahr wäre, sondern, daß die Rückkehr gefährlich wäre: genauer gesagt, it would be dangerous, es wäre gefährlich. Daß er in der Befragung von einer Lebensgefahr gesprochen hatte, korrigierte der Taxifahrer im Protokoll nicht. Vielleicht hörte er wie ich, daß der Übersetzer nicht alleine vom Deutschen ins Englische übersetzte, sondern vom Schriftlichen ins Mündliche, in das besonders gültige Medium ohne Dauer. Das Gesagte war das Gültige, aber es war nicht von Dauer.
FREMDENRECHT
Flüchtende, die heute nach Europa kommen, kommen in einem Leben an, in welchem sie viele Jahre lang befragt, interviewt und geprüft werden, Gründe und Information angeben und geben sollen, nicht das Schöne sagen können, das Nichtinformative, Nichtprüfbare. Das Computerprogramm, mit dem ich meine handschriftliche Erstschrift abschreibe, kennt das Wort Verletztheit nicht – es unterstreicht das Wort mit einer roten Wellenlinie und macht die Verletztheit zu einem Fehler. Das Schöne ist um so viel schöner als alle Sätze im Fremdenrecht, die ich studiert habe. Wäre es nicht vorstellbar, daß das Recht schön ist? Ist nicht das Gastrecht, ein alter Verwandter des Fremdenrechts, ein schönes Recht und Vorrecht, viel älter als die Genfer Flüchtlingskonvention?
Wie sprechen wir, wenn wir nicht hören, welche Schönheit diejenigen mitbringen, die nach Europa flüchten, auswandern, emigrieren oder sich verirren? Wir sprechen von der Alphabetisierung, wenn Flüchtende und Auswanderer nach Europa kommen, die hier eine neue, eine weitere, die soundsovielte Sprache lernen und vielleicht das dritte oder vierte Alphabet und die soundsovielten Laute und Nuancen von Lauten.
„Der Kursteilnehmer soll am Ende des Kurses (nach 75 Unterrichtseinheiten) über ausreichende Fertigkeiten des Lesens, Hörens, Schreibens und Sprechens verfügen.“
Jeder, der im Fremdenrecht als Kursteilnehmer bezeichnet wird, der das Lesen und Hören und Schreiben und Sprechen erlernen soll, ist zuvor längst von der Grenzpolizei und in der ersten Verhandlung vor dem Bundesasylamt befragt worden und hat geantwortet, hat also sowohl gehört wie gesprochen, vielleicht dabei auch etwas gelesen und geschrieben.
Sollten wir nicht über unsere eigene oder eigenen Sprachen zuerst gründlich nachdenken, ehe wir über die fehlende Alphabetisierung der Flüchtenden und Auswanderer nachdenken? Sollten wir mit der Befragung nicht zuerst bei dem Wort Alphabetisierung beginnen? Es sind doch gewiß 9 von 10 Einwanderern, auch die allermeisten Kinder, die nach Österreich kommen, alphabetisiert? Haben wir ihre Sprachen und Alphabete überhört und übersehen? Wie steht es also um die Kursteilnehmer, die das Hören einüben sollen? Sollten wir das Hören und Zuhören mit einüben?
Wie steht es um das Wort Fremdenrecht? Warum brauchen wir ein Recht, das nicht für alle gilt, sondern für eine eingeschränkte Anzahl von Menschen, die Fremden? Das Strafrecht, das Zivilrecht, das Verwaltungsrecht, das Steuerrecht, die Straßenverkehrsordnung, das GrekoG – das Grenzkontrollgesetz –, das Erbschaftsrecht, das Handelsrecht, sie gelten für alle, die großjährig sind. Die Polizei ist, was ihre Wirkungskreise betrifft, zuständig für alle. Warum gibt es eine Fremdenpolizei? Oder soll das Wort Fremdenrecht an das Gastrecht erinnern? Ist der Fremde ein Gast? Betrachtet man die Geschichte der Wörter Gast und fremd, so zeigt sich, daß sie nicht recht auseinanderzuhalten sind. Gast im Mittelhochdeutschen bedeutete soviel wie Fremder, Krieger und Gast. Doch was bedeutete fremd? Das Wort fremd ist ein Verwandter des englischen Präposition from, die soviel bedeutet wie weg von, fern von, auch unterwegs, vorwärts, voran, auch vorwärtstreibend, tapfer. Das Wort fremd ist ziemlich eng verwandt mit dem Wort fromm, das anfangs tüchtig und nützlich bedeutete und erst später die religiöse Bedeutung annahm. Verwandt ist fremd auch mit dem lateinischen primus, griechisch promos, der Vorderste, der Vorkämpfer. Warum sprechen wir nicht, in Analogie zu dem Wort Flüchtling, vom Fremdlingsrecht? Warum Fremdenzimmer und nicht Fremdlingszimmer? Ist die Anerkennung in dem Wort Fremder (der auch ein Frommer und Tapferer ist und vorwärtsstrebend und sogar ein Erster) noch zu hören – und die Bezeichnung Fremdling ist nicht anerkennend? Ist der Fremde zu beschützen, so zu beschützen wie der Gast, genießt er das Gastrecht? Wie kann man das österreichische Fremdenrecht genießen? Ist es überhaupt ein dem Gastrecht vergleichbares Recht und Privileg? Ist es nicht vielmehr ein umfangreiches, kompliziertes, so oft schon umgeschriebenes Gesetzeswerk? Fremdenzimmer, war das noch ein respektvolles Angebot? Warum Flüchtling? Flüchtling, wie der ähnlich lautende Feigling oder wie der Schreiberling? Ein Schreiberling ist einer, der viel zu viel schreibt, immerzu schreibt und schlecht schreibt. Ist ein Flüchtling einer, der immerzu flüchtet, immer auf der Flucht, auch nach einem Jahrzehnt in Europa? Und macht er seine Sache irgendwie schlecht, flüchtet er fehlerhaft, ungeschickt, zu planlos? Der nichts Besseres zu tun hat? Wie ein Sträfling seine Strafe immerzu absitzt im Gefängnis und nichts Anderes und nichts Besseres zu tun hat? Ungeschickt wie ein Sträfling, Fehler gemacht wie ein Sträfling? Der Staatsgast wird respektvoll empfangen? Ist er nicht auch ein Staatsfremder? Im Fremdenrecht ist von ihm nicht die Rede. Hat der Fremde ein Fremdenrecht oder unterliegt er ihm?
Ich habe vorgegriffen auf das Stichwortverzeichnis und die Alphabetisierungskurse. Ich kehre zurück zum Anfang des vor mir auf dem Tisch liegenden Buchs mit dem zu drei Vierteln grauen Buchumschlag Fremdenrecht. Das Wort Fremdenrecht habe ich im Stichwortverzeichnis nicht gefunden. Auch vorne im Buch, im Abkürzungsverzeichnis, ist das Wort oder der Begriff nicht verzeichnet. Auf Seite 3 stellt sich heraus, daß Fremdenrecht bloß der Titel des Buchs ist. Fremdenrecht ist weder ein Recht noch ein Gesetz. Es gibt in Österreich kein Fremdenrecht, nur ein Buch mit einem solchen Namen. Es gibt allerdings das Fremdenrechtspaket – ebenfalls im Stichwortverzeichnis nicht angegeben, im Abkürzungsverzeichnis nicht abgekürzt. Auf dieses Fremdenrechtspaket, über das im Jahr 2005 im Parlament abgestimmt wurde, führen die fünf Autoren den Buchtitel zurück, allerdings erst den Buchtitel der vor mir auf dem Tisch liegenden vierten Auflage. Erste, zweite und dritte Auflage des Buchs, allesamt erschienen aus Anlaß des Fremdenrechtspakets 2005, hießen nicht Fremdenrecht.
Das Paket, das als Fremdenrechtspaket bezeichnet wurde, umfaßt, soweit ich es verstehe, kein Fremdenrecht. Das mit 1. Jänner 2006 in Kraft getretene Paket umfaßt das Asylgesetz, das Fremdenpolizeigesetz und das Niederlassungsgesetz. Das Paket ist später novelliert worden und ganz schön viele Verordnungen sind hinzugekommen, die sehr lange Namen haben, wie zum Beispiel die Niederlassungs-und-Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung, die beispielsweise ins Tschetschenische unübersetzbar sein könnte. Es fiele mir nicht leicht, sie ins Englische zu übersetzen. Es fiele mir schon schwer, das Wort Fremder zu übersetzen. (Im Georgischen gibt es das Wort Fremdergast, uzhostomari; im Sprichwort heißt es, daß der Gast von Gott geschickt sei). Fremdenzimmer? Bed & Breakfast? Das hilft uns nicht weiter. Viele Neuerungen hat es auch gegeben, weil am 1. Juli 2008 ein neues Gericht seine Arbeit aufgenommen hat, der Asylgerichtshof, an welchem zwei der Autoren des Buchs als Richter gearbeitet haben, als es erschien. Seither gibt es das Asylgerichtshofgesetz.
Beginnend auf der Seite 3 beginnt mich die Terminologie zu verwirren. Es gibt kein Fremdenrecht, als verbrieftes Recht, in Österreich. Aber es gibt – oder soll man sagen, es gab – ein Fremdenrechtspaket. Liest man langsam und vorsichtig, so ergibt sich aus den Vorworten zu den verschiedenen Auflagen des Buchs Folgendes: Im Jahr 2005 hat das Parlament das Fremdenrechtspaket beschlossen. Inhalt dieses Fremdenrechtspakets sind nicht das Asylrecht, sondern das Asylgesetz, nicht das Fremdenrecht, sondern das Fremdenpolizeigesetz, nicht das Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht, sondern das entsprechende Gesetz. Was Rechte sein könnten (also Anrechte, Ansprüche, Privilegien sein könnten), sind Gesetze. Warum gibt es im Fremdenrechtspaket kein Fremdenrecht, und zwar kein einziges? Nur ein Buch gleichen Namens gibt es. Ich werde das Buch mit der Bereitschaft zu Verwirrung und Vorsicht lesen. In dem Vorwort zur ersten Auflage lese ich: „Möge diese Sonderausgabe den Rechtsanwendern bei ihrer Arbeit eine Hilfestellung geben.“ Und ich schreibe mit Bleistift daneben: Möge es ihnen und mir auch eine Verwirrungsstellung geben und eine Vorsichtsstellung.
Ich komme zum ersten Satz im Hauptteil des Buchs, zum ersten Satz des ersten Kapitels in diesem großen Fremdenroman.
„Im Regierungsprogramm ist im Kapitel ‚Staats- und Verwaltungsreform‘ die Schaffung eines eigenen Bundesasylgerichts vorgesehen, das in letzter Instanz entscheidet.“
Vorgesehen in diesem Satz, gesehen und wahrgenommen und in den Mittelpunkt gestellt ist ein Gerichtshof, genauer gesagt sogar ein eigener Gerichtshof, nicht etwa ein fremder. Das Buch heißt Fremdenrecht, der erste Satz spricht, ein wenig versteckt, von etwas Eigenem. Wie steht es aber um das Fremde, dem ich verwirrt und vorsichtig nachsinne? Ist nicht die Schaffung eines Bundesasylgerichtshofs etwas Neues, etwas Fremdes? Ist das Bundesasylgericht – das heute Asylgerichtshof heißt – nicht neu nach Österreich gekommen und noch ein bißchen fremd gewesen, damals im Jahr 2005? Nein, der Satz betrachtet das neue Gericht nicht als fremd, sondern als eigen. Sollte sich der erste Satz des Fremdenrecht nicht mehr mit dem Fremden als mit dem Eigenen beschäftigen?
ASYLRECHT
Auch der 2007 in Wien erschienene „Asylrecht: Leitfaden zur neuen Rechtslage nach dem AsylG 2005“ – beide Autoren waren Richter am damaligen Bundesasylsenat – spricht im ersten Satz des ersten Kapitels sich selbst an und nicht die Fremden: „Das gegenwärtige Asylrecht ist eine komplexe Materie.“ Bei dem Ausdruck gegenwärtiges Asylrecht verweile ich. Mit Asylrecht ist ja das österreichische Asylrecht, genauer gesagt das verflixte österreichische Asylgesetz gemeint (welches im Untertitel des Buchs namentlich genannt wird). Asylrecht ist aber auch der Titel des roten Buchs, das jetzt vor mir liegt. Wenn also, wie der erste Satz behauptet, das gegenwärtige Asylrecht (das es eigentlich gar nicht gibt) komplex ist, handelt es sich dann auch um dieses rote Buch? Spricht der erste Satz über sich selbst, über seine eigene Komplexität, wobei der Satz selbst gar nicht sehr komplex ist, sondern eine einfache Behauptung und möglicherweise nicht ganz richtig?
Asylrecht, Fremdenrecht, zwei Bücher, zwei nicht existente Rechte. Aus den ersten Sätzen der beiden Bücher geht hervor, daß der Fremde, der nach Österreich kommt, es mit den Gesetzen und dem Gericht zu tun haben wird. So viel Recht – wo kommt der Fremde vor, der gekommen ist, wo wird von ihm gesprochen oder erzählt oder über ihn nachgedacht? Ehe noch die Rede ist von einem traumatisierten Menschen, ehe von einem Trauma die Rede ist, ist schon auf Seite 3 die Rede von der Neuregelung der Traumatisierungsbestimmung; ehe von einem Fremden die Rede ist als dem Subjekt und dem Akteur eines Satzes, ist die Rede vom Gesetzgeber als Akteur und von der genauen Umschreibung der verfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten von Asylwerbern, so daß also diese Umschreibung wichtiger ist als der Asylwerber und auch die Mitwirkungspflichten wichtiger sind als der fremde Gast. Ehe im Fremdenrecht von den Fremden die Rede ist, geht es um Lösungen für straffällige Asylwerber.
In dem 2010 erschienenen Fremdenrecht, 4., aktualisierte und erweiterte Auflage wird auf den ersten Seiten, nämlich im Vorwort von keinem Fremden gesprochen. Die ersten Sätze des Buchs lauten:
„Seit der letzten Auflage sind mehrere, zum Teil sehr umfangreiche Neuregelungen erfolgt. – Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 27. Juni 2008, G 246, 247/07 ua, die Wortfolge ‚von Amts wegen‘ in den Para. 72 Abs. 1, 73 Abs. 2 und 3 NAG wegen Verfassungswidrigkeit mit Ablauf 31. März 2009 aufgehoben (siehe BGBl I 2008/103). Der Gesetzgeber hat dies zum Anlass genommen, den Aufenthalt aus humanitären Gründen einer völligen Neuregelung zu unterziehen.“
Das Buch hebt an mit der gestrichenen Wortfolge von Amts wegen. Und diese drei Worte, nämlich die Streichung oder Aufhebung der drei Worte, macht mich aufmerksam. Wenn in dem Buch aufmerksam gemacht werden soll auf die Streichung dreier Worte – von Amts wegen –, wird im Fremdenrecht auch aufmerksam gemacht auf andere Streichungen? Ja, denke ich mir, im selben Absatz sind die Fremden, die Gäste, die Auswanderer, die Flüchtlinge, die mit Kind und ohne Kegel gekommen sind, gestrichen.
FLÜCHTLING
„Wie weit ist es mit
unserem Land gekommen, daß wir Hotels brauchen!“
Aus einem Gespräch im nördlichen
Irak, 1970er Jahre
Der Flüchtling, der im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention noch gar keiner ist, denn er hat noch nichts begründet, der soeben in Österreich angekommen ist, wird zum Beispiel sagen: Ich bin Flüchtling aus Tschetschenien (und dieses wahrscheinlich auf Russisch, also nicht Flüchtling, sondern bejschniz, oder er wird, aus Nigeria gekommen, vielleicht sagen refugee, oder er wird sagen ltolwili). Wenn, sagen wir, ein Grenzpolizist die Identität des Reisenden nachprüfen will, wird er sich den Reisepaß ansehen und feststellen, daß der Engländer ein Engländer ist. Wie überprüft er, ob der Flüchtling ein Flüchtling ist? Ein monate- oder jahrelanges Verfahren beginnt, welches dem mit Kind und ohne Kegel nach Österreich Gekommenen das Leben schwer macht. Genauer gesagt, macht das Verfahren das Leben, das schwer ist, noch etwas schwerer, schränkt es nämlich rechtlich ein, macht daraus ein unbürgerliches.
Kein Flüchtling, der soeben die Flucht hinter sich gebracht hat, eher eine Reihe von Abgründen hinter sich gebracht hat und sie zugleich noch in sich trägt, kann ein Flüchtling im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention sein. Ich nehme an, daß manche Flüchtlinge die Konvention nicht kennen und viele sie nicht gelesen haben. Zu der Konvention, zu der Zusammenkunft sind sie nicht zusammengekommen. Unausdrücklich aber nachdrücklich sagt diese Konvention, daß Flüchtlinge, und zwar gerade nicht in ihrem Sinne, derjenige und diejenige sind, die es nur sagen können – mehr nicht, als es einfach sagen, ohne Interview, ohne Verfahren, ohne Begründung, ohne Bescheid und Spruch. Ausweise, Beweise, Reisepässe gibt es nicht. Gerade daran ist der Flüchtling zu erkennen: Es gibt keine Ausweise, keine Beweise, keine Reisepässe. Es gibt nur den Flüchtling, da steht er, vielleicht mit seinem Kind, gewiß ohne Kegel. Er hat nichts (vielleicht 500 Dollar und eine Reisetasche), er spricht kein Wort Deutsch oder drei, er ist müde, er hat Angst vor dem neuen Land, vielleicht soviel wie die begründete oder nicht begründete vor seinem und um sein Heimatland, er ist nicht hungrig, er ist unruhig. Er hat nichts, dieses nichts, diese Kegellosigkeit ist sein Ausweis; sie weist ihn als Flüchtling aus. Wie darauf antworten? Sofort einen Nansenpaß ausstellen; sofort schützen. Derjenige, diejenige, die bloß sagen kann: ich bin Flüchtling, ist Flüchtling. Das nichts begründet den Flüchtling wohl; weniger als fünf Worte begründen ihn.
Das nichts ist eine gute Begründung. Welche Begründung aber verlangt die Genfer Flüchtlingskonvention vom Flüchtling? Die Konvention, in ihrer deutschen Fassung, verlangt – definiert nicht, sondern verlangt –, daß der Flüchtling seine Furcht – die Furcht vor Verfolgung – wohl begründet. Soweit ich die Sache verstehe, gab es einen Originaltext der Genfer Flüchtlingskonvention und dieses Original ist in englischer Sprache verfaßt. Die wohlbegründete Furcht heißt im englischen Original well-founded fear. Well-founded bedeutet nicht unbedingt, daß der, der sich fürchtet, die Furcht mit einer Begründung versehen muß. Von den guten Gründen der Furcht ist zwar die Rede, nicht aber vom Begründen. Dem Furchtsamen ist hier keine Aufgabe gestellt – es wird nicht gesagt, daß er begründen soll. Die englische Version sagt, sagt möglicherweise, daß es gute Gründe geben soll – nicht aber, daß der sich Fürchtende die Aufgabe hat, sie aufzuzählen. Mit well-founded ist keine Aussage von dem sich Fürchtenden gefordert. Es soll da nur eine solide, substantielle Basis geben: well-founded, aber nicht notwendigerweise ausführlich und mühsam begründet, gegen Einwände und Zweifel. Die Alternative zur wohlbegründeten Furcht ist nicht die schlecht oder unzureichend begründete Furcht; die Alternative ist die unbegründete Furcht, die Furcht, zu der es gar keinen Grund gibt, die unbegründbar ist. Hören wir in dieser Sache Shakespeare, Macbeth, Akt III, 4. Szene: „Then comes my fit again. I had else been perfect, whole as the marble, founded as the rock.“ Doch kam mein Anfall wieder. Vollkommen wär ich sonst gewesen, wie der Marmor ganz, wie der Fels gegründet. Bei diesem Felsen geht es nicht darum, daß ihn jemand begründet. Ich denke mir: Keine Beweislast oder Begründungslast liegt bei dem Flüchtling.
Um die Sache verzwickter zu machen, heißt es in der deutschen Fassung: „… aus Gründen der Rasse etc. verfolgt zu werden.“ Es sieht so aus, als ob diese Gründe die Gründe sind, die die nach Europa Geflüchteten in ihrer Begründung wohl-begründen sollen. Diese Vermischung von wohl-begründen und Gründe findet sich im englischen Text nicht. Dort heißt es well-founded und reasons. A well-founded fear scheint mir eine tiefgehende oder tiefreichende Angst zu sein. Es ist damit wohl eine große Angst gemeint, die so groß ist, daß jemand aus seinem Land flüchtet und alles ihm Wichtige zurückläßt oder verliert.
Die well-foundedness, die Tiefe oder Größe der Angst rührt wohl daher, daß etwas geschehen ist, das Angst gemacht hat, daß Drohungen getan wurden, Gewalt angewendet worden ist. Well-founded: durch etwas in der Vergangenheit verursacht. Es stellt sich aber heraus, daß es in der Diskussion über diese schwierige Stelle – an welcher die Flüchtlinge selten beteiligt sind, die selten gefragt werden, welche Angst und Ängste es sind, die sie haben, Angst vor dem, was dort, wo sie herkommen, geschehen ist, was dort in Zukunft geschehen könnte, hätte geschehen können, oder Angst vor dem neuen Land, das ihnen Schutz bieten wird oder nicht, vorläufig, vorübergehend oder dauerhaft, oder Angst um zum Beispiel das eigene Kind –, es stellt sich heraus, daß bei dieser Angst und diesen Ängsten auch die Glaubwürdigkeit im Spiel sein soll, um eine Unterscheidung treffen zu können zwischen Flüchtling und Nicht-Flüchtling. In Para. 3 des Asylgesetzes heißt es: „… wenn glaubhaft ist, dass ihm im Heimatland … Verfolgung droht“. Das österreichische Asylrecht bezieht sich bei der Definition des Begriffs Flüchtling auf die Genfer Flüchtlingskonvention und in dieser steht nichts von der Glaubwürdigkeit oder vom glaubhaften Begründen. Well-founded fear ist nicht die glaubhaft begründete Furcht. Well meint nicht glaubhaft, sondern zeigt eine Intensität an, die große Größe der Angst. Das Gegenteil der well-founded fear ist nicht die schlecht begründete Furcht. Die schlecht begründete Furcht ist bloß eine Variante der begründeten Furcht, eine schwächer begründete als die gut begründete, nicht ihr Gegensatz. Am Gegensatz aber wird erkennbar, was es mit der Begründung auf sich hat – sie ist keine Leistung, die der Flüchtling, der zu diesem Zeitpunkt noch gar kein gesetzlicher Flüchtling ist, zu erbringen braucht. Das Gegenteil ist die unbegründete Furcht, die grundlose Furcht. Die unbegründete Furcht ist nicht eine Furcht, die niemand begründet oder wohl-begründet hat; sie ist unbegründet, sie ist grundlos, entbehrt der Gründe.
Im Fall der unbegründeten Furcht gibt es keine Gründe. Im Fall der begründeten Furcht gibt es Gründe. Daß der Geflüchtete die Gründe glaubhaft darstellen soll, ist aus der Genfer Flüchtlingskonvention nicht ablesbar. Aber ist nicht die wichtigere Frage: Muß man nicht die Verläßlichkeit der Genfer Flüchtlingskonvention in Frage stellen? Ist nämlich nicht jede Flucht begründet, ziemlich tief- und wohl-begründet? Wäre es nicht besser, die Definition des Begriffs Flüchtling der Genfer Flüchtlingskonvention nicht zu übernehmen, sondern die beiden folgenden:
A) Politischer Flüchtling ist, wer sich außerhalb seines Landes befindet, weil er oder sie aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt wird. B) Flüchtling ist, wer flüchtet. Die Republik würde sich mit dieser Österreichischen Flüchtlingskonvention auf der ganzen Welt Ruhm erwerben, einen neueren Ruhm als den Mozart- und Strauß- und Salzburgruhm. Einen Ruhm, der die Welt stärker bestärken würde als Salzburg. Vier Worte bloß: Flüchtling ist, wer flüchtet . Ein großer Schritt für diese Republik, ein großer Schritt für die Menschheit. Flüchtlinge in so großer Zahl gibt es, weil die Politik weltweit versagt. Kann man auf schlechte Politik nicht mit Politik antworten?
Es kämen neue, riesengroße Probleme auf Österreich zu? Wunderbar; sind wir nicht da, um viele große Probleme zu haben? Um über sie nachzudenken, über sie zu streiten, um mit ihnen intelligenter, klüger und sogar weiser zu werden, phantasievoller, ideenreicher, vielseitiger, aktiver, fröhlicher, mutiger? Braucht die Politik nicht möglichst viele große Probleme? Wird die Welt nicht größer durch große Probleme? Es gäbe mehr zu denken und zu handeln, also mehr Politik.
Zurück zur Genfer Konvention. Furcht vor? Oder Furcht um? Ich kenne Flüchtlinge, die, auf die Frage, wovor sie Angst haben oder wovor sie sich fürchten, antworten, daß sie nicht vor etwas Angst haben, sondern um, zum Beispiel um ihr Kind Angst haben, um ihr Kind fürchten. Und wie steht es um diejenigen Flüchtlinge, die sich außerhalb ihres Heimatlandes befinden aus Verzweiflung über die Verfolgungen, aus Kummer, aus Sorge, aus Zorn? Wie steht es um die, die sich aus Mut auf den Weg gemacht haben, aus Hoffnung, aus Optimismus, aus ausreichend Kraft und Intelligenz und Vielseitigkeit und Phantasie und Lebenslust, um das Leben neu zu beginnen und zu begründen? Oder aus Schmerz, subjektiv empfunden oder wohl-begründet, physischem oder seelischem? Die Mutigen, die vor Verfolgung und Gewalt geflüchtet sind, sollen keine Flüchtlinge sein? Soll man denken, daß die Flüchtlinge allesamt Feiglinge sind? Darum nennen wir sie Flüchtlinge, weil die Worte Flüchtling und Feigling so ähnlich klingen?
Ich habe über noch nicht einmal einen ganzen Satz im Kapitel II des Fremdenrechts nachgedacht. Sagt ein Wort vielleicht mehr als tausend Worte? Oder wenigstens genau soviel wie tausend?
(BE)WERBUNG
A aus ich weiß nicht woher sagte mir, als ich versuchte sie zu unterstützen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz (und die Wirtschaftskammer Österreichs ein Programm ihr anbot, das sie unterrichten würde im Schreiben von Bewerbungsbriefen und im Führen von Bewerbungsgesprächen), daß sie nicht für sich werben könne. Sie könne nicht sich anpreisen, sich hervortun, sie könne ihre Eigenschaften, ihre Erfahrungen, ihr Können, ihre Geschicklichkeit oder Ehrlichkeit nicht bewerben, preisen, zur Schau stellen. Sie könne gar nichts zur Schau stellen, auch ihre Schönheit nicht, auf die sie Wert lege, aber verborgener Weise.
Ich kann mich nicht bewerben. Ich kann mich auch nicht bewerben um das Asyl, mich höher stellen oder ängstlicher als andere. Ich kann meine Fluchtgeschichte und meine Leben zu Hause nicht erzählen und bewerben als Grund dafür, mich hier zu beschützen. Ich kann mich nicht in einem Schönheitswettbewerb oder Asylwettbewerb zur Schau stellen. Ich habe nicht gelernt, mich als besser anzusehen als alle anderen, als ängstlicher als alle anderen, als mutiger als alle anderen. Meine Schönheit ist darin begründet, daß ich mich nicht bewerben und preisen kann. Zu einem großen Teil unsichtbar.
Wie kann ich mich bewerben, um Arbeit, um Asyl? Warum muß man Werbung für sich selbst machen? Muß ich so sein wie die Schauspieler in den Werbespots? Die Schönheit und das Gute sind für viele Worte nicht geeignet. Die wohlbegründete Furcht ist wie eine wohlbeworbene Furcht. Meine Scham, sie hält mich davon ab, einem fremden Beamten im Bundesasylamt zu sagen, was mir in meinem Land zugestoßen ist. Seit ich nach Österreich gekommen bin, vor acht Jahren, habe ich niemanden von meiner Not in meinem Land erzählt.
Meine Angst wohlzubegründen, die wahrscheinlich gleich groß ist wie mein Mut und mein Kummer und mein Schmerz, das habe ich mir in den acht Jahren noch nicht vorgenommen. Über meine Angst schweige ich und ich begründe sie nicht. Sie ist nicht grundlos. Ich begründe sie nicht, jemand anderer hat sie begründet. Würde ich beginnen, sie zu begründen, vor einem Beamten, den ich für einen Polizeibeamten halte und nie zuvor in meinem Leben gesehen habe, in Anwesenheit einer Übersetzerin, die ich nicht kenne und mit der ich nicht sprechen möchte, in Anwesenheit eines fremden Protokollführers, der meine Angst im Protokoll zusammenfaßt oder verkürzt, ich würde vielleicht sterben. Angst; Angst habe ich auch vor dem Polizeibeamten, der Fragen stellt wie ein Polizeibeamter, davor, daß er mich nicht verstehen wird, mich vielleicht nicht verstehen will, daß ich ihn nicht verstehen werde, daß er mißtrauisch ist, daß ich mißtrauisch bin, daß er ungeduldig sein wird, daß er zwischendurch auf die Uhr schauen wird, daß er mich ersuchen wird, meine Sache kürzer darzustellen, weniger ausführlich, weniger gründlich, daß er in einem Augenblick aus dem Fenster schauen wird, in welchem man nicht aus dem Fenster schauen kann, daß er eine Entscheidung treffen wird gegen mich, daß ich die Begründung dieser Entscheidung nicht verstehen werde, daß diese Entscheidung wohlbegründeter sein wird als meine Furcht, daß der Polizeibeamte besser begründen kann als ich, daß ich die diese Entscheidung begründenden Gesetze nicht kenne und gegebenenfalls gar nicht verstehen würde, daß ich nach der Entscheidung gegen mich und meine zwei Kinder nicht wissen werde, welchen weiteren Verlauf mein Verfahren nehmen wird, daß ich das Asylgesetz nicht kenne, daß ich es nicht lesen kann, daß ich das Fremdenpolizeigesetz nicht lesen kann, zuerst viele Jahre lang Deutsch lernen müßte, um es studieren zu können, vielleicht zuerst an der Universität studieren gehen müßte, um es dann studieren zu können und meine Rechte zu lernen, meine Pflichten und überhaupt alles das, wovon der allererste Satz im roten Asylrecht spricht, das ich mir angeschaut habe in der Universitätsbibliothek: „Das gegenwärtige Asylrecht ist eine komplexe Materie.“ Vor der komplexen Materie habe ich keine Angst. Jede Materie ist komplex. Ich habe Angst davor, daß ich die im Titel und im Untertitel des roten Buchs getroffene Unterscheidung zwischen Asylrecht, so heißt das Buch, und Asylgesetz, so steht es im Untertitel, nicht unterscheiden kann. Ich habe Angst vor dem einen Blick, der auf dem Buchumschlag versprochen und angepriesen wird: „Auf einen Blick – Verfahren und Fristen“, und ein gebogener Pfeil fordert dazu auf, das Buch zu öffnen und die Innenseite des Buchumschlags zu betrachten, auf der unter dem Titel Gang des Asylverfahrens dieser Gang in Kurzform dargestellt ist und mit gänzliche Abweisung des Antrags und Ausweisung endet, nicht mit dem Asyl, das weiß auf rot im rot-weiß-roten Titel des Buchs geschrieben steht.
[1] Der folgende Text ist einem sehr viel umfangreicheren Text gleichen Titels entnommen. Die hier publizierten Auszüge entsprechen in Teilen zugleich einer Fassung, die Peter Waterhouse unter dem Titel „Gesetz und Entsetzen“ am 24. Oktober 2012 am Asylgerichtshof in Wien vorgetragen hat (im Rahmen des von den Literaturhäusern und Literaturzentren in Österreich initiierten Projekts „mitSprache 2012“). – Für eine Videoaufzeichnung der Rede wie auch eine Vollversion von Fügungen vgl. www.zintzen.org/mitsprache-2012/projekte-texte/gesetz-und-entsetzen/ (abgerufen am 20. 2. 2013). [Anm. d. Red.]