03 2025
"Ich bekomme keine Luft": Verkörperte Widerstände in Griechenland nach Tempi
Hinweis an die Leser_in: Dieser Text ist work in progress und diskutiert die Proteste nach dem Zugunglück von Tempi in Griechenland. Die vollständige Fassung des Artikels wird im April 2025 in transversal veröffentlicht.
In den Tagen, in denen dieser Text geschrieben wurde, verbreitete sich der Slogan "Ich bekomme keine Luft"[1] in ganz Griechenland und in der griechischen Diaspora und erregte gleichzeitig das Interesse eines großen Teils der internationalen Presse. Der Aufruf zur Teilnahme an den Mobilisierungen und die Studierendenproteste, die am 26. Januar bzw. 6. Februar 2025 stattfanden, haben den Fall des Zugunglücks von Tempi in den Mittelpunkt der politischen Debatte des Lands gerückt und Druck auf die Mitglieder der Regierung ausgeübt, die an den entscheidenden Stellen des Falles oder in den verschiedenen Stadien der Ermittlungen zum Zusammenstoß der beiden Züge beteiligt waren. Unmittelbar nach den Massendemonstrationen zum Gedenken an die Opfer des Zugunglücks von Tempi sind die Konnotationen des Slogans direkt mit diesem traurigen und verdunkelten Fall verbunden. Der Verweis auf Sauerstoff bezieht sich einerseits auf die letzten Sätze einiger Opfer (die in ihren letzten Momenten buchstäblich "Ich bekomme keine Luft" riefen, was auch aufgezeichnet und an die Medien weitergegeben wurde) und andererseits auf den erstickenden Zustand der sozialen Ungerechtigkeit, der Korruption und der miteinander verbundenen Formen der Gewalt, die durch den explosiven Erkenntnismoment der sozio-politischen Sackgasse in Griechenland, die durch die Tempi-Affäre offenbar wurde, an die Oberfläche kommen.
Die universelle Dimension des Atmens und der Fähigkeit zu atmen hängt jedoch mit dem Massencharakter dieser Demonstrationen und dem großen Interesse der Gesellschaft an dem Fall zusammen. Auf die Demonstrationen folgten Momente der Hoffnung, obwohl wir uns in einer Zeit des sozialen Abstiegs, der demokratischen Sackgassen und des Aufstiegs recht(sextrem)er Politik im ganzen Land befinden. Nicht nur die Opfer des Zusammenstoßes konnten aufgrund des Sauerstoffmangels nicht atmen, sondern auch der Teil der Gesellschaft, der den Fall seit zwei Jahren verfolgt, und der vermutet - wenn er nicht sogar davon überzeugt ist - dass dieser Fall vertuscht wird, um die Schuldigen nicht zur Verantwortung zu ziehen. Das Bedürfnis zu atmen wird hier als das Bedürfnis nach Gerechtigkeit ausgedrückt, und zwar zu einem Zeitpunkt, der nach einer Reihe von gewalttätigen Fällen und einer systemischen Politik der Ausgrenzung, die vom griechischen Staat reproduziert wird, eine Zuspitzung darstellt.
Slogans, die sich auf Atmungsfähigkeit und Erstickung beziehen, sind in den letzten Jahren international viral geworden, vor allem durch intersektionale Kämpfe, wie etwa antirassistische Forderungen im Zusammenhang mit Fällen von Morden an Schwarzen durch Polizisten (Athanasiou 2020) oder feministischer und umweltpolitischer Gerechtigkeit (Gorska 2016). Atmen und Atmungsfähigkeit können auch als Teil der verkörperten Antworten der Protestierenden und all derer gelesen werden, die die Forderung nach Gerechtigkeit unterstützen, die sich weigern, den Fall zu vertuschen und sich gegen das Vergessen und Schweigen der Faktoren wehren, die zu diesem Staatsverbrechen führten.
In der so genannten "Nach-Krisen-Ära" Griechenlands versinken die Einwohner_innen des Landes in finanziellen Schwierigkeiten, wobei die Indikatoren für Armut[2] , Arbeitslosigkeit[3] und Wohnverhältnisse[4] das Land häufig auf die hintersten Plätze unter den EU-Ländern verweisen. Vorfälle von geschlechtsspezifischer und rassistischer Gewalt sowie von Gewalt gegen Kinder häufen sich, während die Gesellschaft im Einverständnis mit dem Staat nicht in der Lage ist, diese zu bewältigen oder Präventionsmaßnahmen zu setzen. Darüber hinaus führen die politischen Kräfte der Linken die lange Tradition der Spaltung fort und sind nicht in der Lage, strategische Allianzen zu bilden, während neue recht(sextrem)e Parteien in das griechische und das Europäische Parlament einziehen. Wenn man all dies vor dem Hintergrund der aktuellen Lage des Lands sieht, steht der wörtliche Verweis auf den Sauerstoffmangel, der aus den Tondokumenten vom 28. Februar 2023 in Tempi stammt und vor einigen Wochen veröffentlicht wurde, in direktem Zusammenhang mit den Forderungen der Demonstrant_innen, die den Slogan wiedergeben. Der Satz "Ich bekomme keine Luft" bezieht sich auf die Unmöglichkeit zu atmen und die Unmöglichkeit, ein atembares und respektvolles Leben zu führen, wie es die alltäglichen Lebensbedingungen eines großen Teils der Bevölkerung des Lands zeigen.
Gefühle des Verlusts, der Trauer, der Wut und der Enttäuschung koexistieren mit Formen der sozialen und politischen Erstickung, die nach der COVID-19-Pandemie, deren Management durch die Regierung und der immer stärkeren Polizeipräsenz im öffentlichen Raum noch präsenter wurden. Wie Ulrika Dahl unterstreicht, muss darauf geachtet werden, wie die neuen Formen der Überwachung, die in dieser Zeit etabliert wurden, "durch das Monitoring der Pandemie unsere Freiheit, uns zu versammeln, zu schreiben, zu handeln und unsere Stimme gegen die anhaltende Ungerechtigkeit zu erheben, formen und beeinflussen werden" (2022, 6). Die nebeneinander bestehenden und miteinander verflochtenen Krisen, die das Land heimsuchen, kehren mit dem Fall Tempi stillschweigend, aber mit gesteigerter Intensität, auf die heutige politische Tagesordnung zurück. Viele der öffentlichen Debatten über Tempi brachten den Schiffbruch von Pylos am 14. Juni 2023 und den Großbrand in Mati im Juli 2018 wieder in den Vordergrund und eröffneten Diskussionen über die staatlichen Verbrechen der letzten Jahre, die das Leben derjenigen gefährdeten und weiterhin gefährden, deren Leben nicht als schützenswert angesehen wird. Rechtsgerichtete politische Kräfte, die die europäische politische Szene dominieren, nationalistische Rhetorik und Trumps jüngster Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen 2024 verstärken die düstere Atmosphäre und den Drang, sich mit dem Rückschritt der Demokratie auseinanderzusetzen.
Alltägliche Solidaritätsaktionen, lokale Aktionen von Aktivist_innen und kleine Kollektive scheinen die gegenwärtigen Kämpfe in diesen turbulenten Zeiten und insbesondere nach den politischen Ereignissen, die auf das Zugunglück von Tempi folgten, zu reflektieren. Die Versuche, Räume, in denen wir atmen und zusammenleben können, zu schaffen, erinnern an das, wovon Sara Ahmed sprach, als sie den Kampf um ein erträgliches Leben als die Bedingung beschrieb, Raum zum Atmen zu haben, während sie gleichzeitig das Atmen als eine Voraussetzung für Vorstellungskraft und Vermögen betrachtete (2010, 120). Die Forderung nach Räumen, in denen wir atmen können, und die Forderung nach Gerechtigkeit scheinen in diesem Kontext irgendwie synonym zu sein, nun da sich das Zugunglück von Tempi vor zwei Jahren jährte und diese Mobilisierungen als Gelegenheit gesehen werden könnten, trotz der oben erwähnten soziopolitischen Unwegsamkeiten ein Feld politischer Hoffnung zu eröffnen.
Referenzen
Ahmed, Sara (2010). The Promise of Happiness. Durham, London: Duke University Press, 2010. (Ahmed, Sara (2018). Das Glücksversprechen. Eine feministische Kulturkritik, aus dem Englischen von Emilia Gagalski, Unrast: Münster.)
Apata, Gabriel O. (2020). "'I Can't Breathe': The Suffocating Nature of Racism." Theory, Culture & Society Vol. 37, Nr. 7-8: 241-54. https://doi.org/10.1177/0263276420957718.
Athanasiou, Athena (2020). “(Im)possible Breathing: On Courage and Criticality in the Ghostly Historical Present”. Redescriptions: Political Thought, Conceptual History and Feminist Theory, Vol. 23, Nr. 2.
Dahl, Ulrika. (2022). "Open forum: The politics of gender (research) in a global pandemic”. European Journal of Women's Studies Vol. 29, nr. 3, 13505068211065138.
Górska, Magdalena (2016). Breathing Matters: Feminist Intersectional Politics of Vulnerability. Linköping: Linköping University Press.
[1] Der Slogan "Δεν Έχω Οξυγόνο" steht im Mittelpunkt der Mobilisierungen zum Gedenken an die Opfer des Zugunglücks von Tempi. Der Unfall ereignete sich kurz vor Mitternacht am 28. Februar 2023, als ein Güterzug und ein Personenzug auf der Strecke zwischen Athen und Thessaloniki frontal zusammenstießen. Der Zusammenstoß löste Massenproteste in ganz Griechenland und in anderen Ländern aus, da der Zusammenstoß für viele Menschen die jahrelange Vernachlässigung des Schienennetzes nach einer jahrzehntelangen Finanzkrise zeigt. Außerdem behaupteten einige Vertreter_innen der Familien der Opfer, der Güterzug habe eine "illegale chemische Ladung" transportiert, die das Feuer nach dem Unfall verursacht habe. Die Demonstrant_innen fordern nach wie vor Gerechtigkeit für die 57 Todesopfer und die zahlreichen Verletzte,n und ein offener Aufruf mobilisiert am 28. Februar 2025 alle auf die Straße zu gehen.