03 2020
Jenseits des Zusammenbruchs
Drei Betrachtungen zu einer Zeit danach
Übersetzung: Adrian Hanselmann
Plötzlich muss das, was wir in den letzten fünfzig Jahren gedacht haben, von Grund auf neu gedacht werden. Gott sei Dank (ist Gott ein Virus?) haben wir jetzt reichlich Extra-Zeit, weil das alte Business seinen Betrieb eingestellt hat.
Ich möchte etwas drei verschiedene Themen besprechen. Erstens: das Ende der Menschheitsgeschichte, das sich eindeutig vor unseren Augen abspielt. Zweitens: die anhaltende Emanzipation vom Kapitalismus und/oder die drohende Gefahr des Techno-Totalitarismus. Drittens: die überfällige Rückkehr des Todes nach seiner langen modernen Verleugnung auf dem Schauplatz des philosophischen Diskurses und die Wiederbelebung des Körpers als Verschwendung.
1. Viecher (Critters)
Nummer eins: Die Philosophin, die die gegenwärtige virale Apokalypse am besten vorausgesehen hat, ist Donna Haraway. In Staying with the Trouble weist sie darauf hin, dass der Mensch nicht mehr Akteur der Evolution, Subjekt der Geschichte ist. Der Mensch verliert in diesem chaotischen Prozess seine Zentralität, und wir sollten aber deshalb nicht verzweifeln, wie es die Nostalgiker_innen des modernen Humanismus tun. Gleichzeitig sollten wir nicht in den Wahnvorstellungen einer Technik-Fixiertheit Trost suchen, wie es die zeitgenössischen transhumanistischen Technik-Verrückten tun. Die Menschheitsgeschichte ist vorbei, und die neuen Akteur_innen der Geschichte sind die «Viecher», wie Haraway es ausdrückt. Das Wort «Viecher/Critter» bezieht sich auf kleine Kreaturen, kleine verspielte Wesen, die seltsame Dinge tun, wie zum Beispiel Mutationen verursachen. Nun: das Virus.
Burroughs spricht von Viren als Akteuren von Mutationen: biologische, kulturelle, linguistische Mutation. Viecher existieren nicht als Individuen. Sie verbreiten sich kollektiv, als ein Prozess der Proliferation.
Das Jahr 2020 sollte als das Jahr angesehen werden, in dem sich die Menschheitsgeschichte auflöst – nicht weil die Menschen vom Planeten Erde verschwinden, sondern weil der Planet Erde, ihrer Arroganz müde, eine Mikrokampagne gestartet hat, um ihren Willen zur Macht* zu zerstören. Die Erde rebelliert gegen die Welt, und die Akteur_innen des Planeten Erde sind Überschwemmungen, Brände und vor allem Viecher.
Deshalb ist der bewusste, aggressive und willensstarke Mensch nicht mehr Akteur der Evolution – sondern vielmehr sind es molekulare Materie, Mikroströme unkontrollierbarer Viecher, die in den Raum der Produktion und des Diskurses eindringen und die History durch Her-Story ersetzen, die Zeit, in der die teleologische Vernunft durch Sensibilität und sinnliches, chaotisches Werden ersetzt wird.
Der Humanismus basierte auf der ontologischen Freiheit, die die italienischen Philosophen der Frührenaissance mit dem Fehlen von theologischem Determinismus identifizierten. Der theologische Determinismus ist vorbei, und das Virus hat den Platz eines teleologischen Gottes eingenommen.
Das Ende der Subjektivität als Motor des historischen Prozesses impliziert das Ende dessen, was wir Geschichte genannt haben, und den Beginn eines Prozesses, in dem die Bewusstsein und Teleologie durch vielfältige Strategien der Proliferation ersetzt wird. Proliferation, die Ausbreitung molekularer Prozesse, ersetzt die Geschichte als Makroprojekt. Denken, Kunst und Politik sind nicht mehr als Projekte der Totalisierung (im Hegelschen Sinne) zu sehen, sondern als Prozesse der Proliferation ohne Totalität.
2. Nützlichkeit
Nach vierzig Jahren neoliberaler Beschleunigung ist das Rennen des Finanzkapitalismus plötzlich zum Stillstand gekommen. Ein, zwei, drei Monate globaler Lockdown, eine lange Unterbrechung des Produktionsprozesses und der globalen Zirkulation von Menschen und Gütern, eine lange Zeit der Abgeschiedenheit, die Tragödie der Pandemie ... all das wird die kapitalistische Dynamik auf eine Art und Weise brechen, die vielleicht nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Mächte, die das globale Kapital auf politischer und finanzieller Ebene verwalten, versuchen verzweifelt, die Wirtschaft zu retten, indem sie ihr enorme Geldmengen injizieren. Milliarden, Milliarden von Milliarden ... Zahlen, Zahlen, die jetzt eher zero bedeuten.
Plötzlich bedeutet Geld nichts oder nur noch sehr wenig.
Warum geben Sie einem toten Körper Geld? Kann man den Körper der Weltwirtschaft wiederbeleben, indem man ihm Geld injiziert? Nein, das kann man nicht. Der Punkt ist, dass sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite immun gegen Geldstimulierung sind, denn der Einbruch geschieht nicht aus finanziellen Gründen (wie 2008), sondern wegen des Zusammenbruchs von Körpern, und Körper haben nichts mit finanziellen Stimuli zu tun.
Wir überschreiten die Schwelle, die über den Kreislauf von Arbeit-Geld-Konsum hinausführt.
Wenn der Körper eines Tages aus der Quarantäne entlassen wird, wird das Problem nicht darin bestehen, das Verhältnis zwischen Zeit, Arbeit und Geld wieder ins Gleichgewicht zu bringen, Schulden und Rückzahlung zu auszugleichen. Die Europäische Union ist durch ihre Besessenheit von Schulden und Ausgleich fragmentiert und geschwächt worden, aber Menschen sterben, den Krankenhäusern gehen die Beatmungsgeräte aus, und die Ärzt_innen werden von Müdigkeit, Angst und Furcht vor Infektionen überwältigt. Im Moment kann dies nicht durch Geld geändert werden, denn Geld ist nicht das Problem. Das Problem ist: Was sind unsere konkreten Bedürfnisse? Was ist nützlich für das menschliche Leben, für die Kollektivität, für die Therapie?
Der Gebrauchswert, lange Zeit aus dem Bereich der Wirtschaft verstoßen, ist zurück, und das Nützliche ist jetzt König.
Geld kann man nicht den Impfstoff kaufen, den wir nicht haben, kann nicht die Schutzmasken kaufen, die nicht hergestellt wurden; kann nicht die Intensivstationen kaufen, die durch die neoliberale Reform des europäischen Gesundheitssystems zerstört wurden. Nein, Geld kann nicht kaufen, was nicht existiert. Nur Wissen, nur intelligente Arbeit kann kaufen, was nicht existiert.
Also ist Geld jetzt impotent. Nur soziale Solidarität und wissenschaftliche Intelligenz sind lebendig, und sie können politisch mächtig werden. Deshalb denke ich, dass wir nach dem Ende der globalen Quarantäne nicht wieder zur Normalität zurückkehren werden. Die Normalität wird nie wiederkehren. Was in der Zeit danach geschehen wird, steht noch nicht fest und ist nicht vorhersehbar.
Wir stehen vor zwei politischen Alternativen: entweder ein techno-totalitäres System, das die kapitalistische Wirtschaft mit Gewalt wieder in Gang bringt, oder die Befreiung der menschlichen Tätigkeit von der kapitalistischen Abstraktion und die Schaffung einer molekularen Gesellschaft, die auf dem Nützlichen basiert.
Die chinesische Regierung experimentiert bereits massiv mit einem techno-totalitären Kapitalismus. Diese techno-totalitäre Lösung, die durch die vorläufige Abschaffung der individuellen Freiheit vorweggenommen wird, könnte das vorherrschende System der Zukunft werden, wie Agamben in seinen jüngsten umstrittenen Texten (https://write.as/rc8dpjv5902g3vvb) zu Recht betont hat.
Aber was Agamben sagt, ist nur eine offensichtliche Beschreibung der gegenwärtigen Notlage und der wahrscheinlichen Zukunft. Ich möchte über das Wahrscheinliche hinausgehen, denn das Mögliche ist für mich interessanter. Und das Mögliche ist im Zusammenbruch der Abstraktion enthalten, und in der dramatischen Rückkehr des konkreten Körpers als Träger konkreter Bedürfnisse.
Das Nützliche ist zurück im sozialen Feld. Das Nützliche, lange vergessen und vom kapitalistischen Prozess der abstrakten Inwertsetzung verleugnet, ist jetzt auf der Bühne König.
Der Himmel ist klar in diesen Tagen der Quarantäne, die Atmosphäre ist frei von umweltschädlichen Partikeln, da die Fabriken geschlossen sind und die Autos nicht zirkulieren können. Werden wir zur umweltverschmutzenden Rohstoffwirtschaft zurückkehren? Werden wir zum normalen Rausch der Zerstörung für die Akkumulation und der nutzlosen Beschleunigung um des Tauschwerts willen zurückkehren? Nein, wir müssen vorwärts gehen, hin zur Erschaffung einer Gesellschaft, die auf der Produktion des Nützlichen beruht.
Was brauchen wir jetzt? Jetzt, im unmittelbaren Jetzt, brauchen wir einen Impfstoff gegen die Krankheit, wir brauchen Schutzmasken, und wir brauchen Intensivpflegegeräte. Und langfristig brauchen wir Nahrung, wir brauchen Zuneigung und Freude. Und eine neue Kultur der Zärtlichkeit, Solidarität und Genügsamkeit.
Die Überbleibsel der kapitalistischen Macht werden versuchen, der Gesellschaft ein techno-totalitäres Kontrollsystem aufzuzwingen – das ist offensichtlich. Aber die Alternative ist jetzt da: eine Gesellschaft, die frei ist von den Zwängen der Akkumulation und des Wirtschaftswachstums.
3. Freude
Der dritte Punkt, über den ich nachdenken möchte, ist die Rückkehr der Sterblichkeit als bestimmendes Merkmal des menschlichen Lebens. Der Kapitalismus war ein fantastischer Versuch, den Tod zu überwinden. Die Akkumulation ist der Ersatz*, der den Tod durch die Abstraktion des Wertes, die künstliche Kontinuität des Lebens auf dem Marktplatz ersetzt.
Die Verlagerung von der industriellen Produktion zur Informationsarbeit, die Verlagerung von der Konjunktion zur Konnektion in der Sphäre der Kommunikation ist der Endpunkt des Wettlaufs zur Abstraktion, der den roten Faden der kapitalistischen Evolution darstellt.
In einer Pandemie ist die Konjunktion verboten – bleiben Sie zu Hause, besuchen Sie keine Freund_innen, halten Sie Abstand, berühren Sie niemanden. Eine enorme Ausdehnung der online verbrachten Zeit ist unvermeidlich im Gange, und alle sozialen Beziehungen – Arbeit, Produktion, Bildung – werden in diese Sphäre verlagert, die die Konjunktion verbietet. Sozialer offline-Austausch ist nicht mehr möglich. Was wird nach Wochen und Monaten dieser Entwicklung geschehen?
Vielleicht werden wir, wie Agamben voraussagt, in die totalitäre Hölle eines omni-konnektiven, allverbundenen Lebensstils eintreten. Aber ein anderes Szenario ist möglich.
Was ist, wenn die Überlastung der Konnektion den Bann bricht? Wenn sich die Pandemie schließlich auflöst (vorausgesetzt, dass sie sich auflöst), ist es möglich, dass sich eine neue psychologische Identifikation durchgesetzt hat: Online ist gleich Krankheit. Wir müssen uns auch eine Bewegung der Zärtlichkeit vorstellen und erschaffen, die junge Menschen dazu zwingt, ihre konnektiven Bildschirme als Erinnerung an eine einsame und ängstliche Zeit auszuschalten. Das bedeutet nicht, dass wir zu der körperlichen Erschöpfung des industriellen Kapitalismus zurückkehren sollten; es bedeutet vielmehr, dass wir den Zeitreichtum nutzen sollten, den die Automatisierung von der körperlichen Arbeit emanzipiert, und unsere Zeit der körperlichen und geistigen Freude widmen sollten.
Die massive Ausbreitung des Todes, deren Zeuge wir in dieser Pandemie werden, könnte unser Zeitgefühl als Genuss statt in der Aufschiebung des Glücks reaktivieren.
Am Ende der Pandemie, am Ende der langen Zeit der Isolation, könnten die Menschen einfach in das ewige Nichts der virtuellen Konnektion, der Distanzierung und der techno-totalitären Integration versinken. Dies ist möglich, ja sogar wahrscheinlich. Aber wir sollten uns nicht durch das Wahrscheinliche einschränken lassen. Wir sollten das in der Gegenwart verborgene Mögliche entdecken.
Es kann sein, dass nach Monaten ständiger Online-Konnektivität die Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen kommen und nach einer Konjunktion suchen. Es könnte eine Bewegung der Solidarität und Zärtlichkeit entstehen, die die Menschen zu einer Emanzipation von der Diktatur der Konnektion führt.
Der Tod steht wieder im Zentrum der Landschaft: die lange verleugnete Sterblichkeit, die den Menschen lebendig macht.