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09 2021

Logistifizierungen

Pandemie und Unplanbarkeit

Isabell Lorey

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Nichts längerfristig planen zu können, ist für viele keine neue Erfahrung. Nicht erst die Corona-Pandemie macht den Alltag unkalkulierbar. Für viele sind Prekarität und Prekarisierung längst normal geworden – nicht nur als Unsicherheit von Arbeitsverhältnissen, sondern als Verunsicherung des ganzen Lebens. In der Pandemie verschärft sich die entsicherte Normalität, andere erleben sie zum ersten Mal: der Job ist verloren, das Einkommen nicht sicher, körperliche und psychische Verunsicherung hören nicht auf.

Seit den 1990er Jahren werden Finanz- und Arbeitsmärkte auch in Europa dereguliert: Arbeitsschutz und sichere Arbeitsplätze werden zugunsten befristeter Verträge und Projektarbeiten abgebaut; die europäischen Sozialstaaten wurden umgebaut, die Gesundheitssysteme nach Profit umorganisiert – im Zuge der Pandemie hat sich das alles bitter gerächt.

In der Prekarisierung verläuft die Zeit nicht linear. Die Zukunft ist nicht berechenbar, Prävention kaum möglich. Prekarisierung bedeutet improvisieren, gezwungen zu sein, das Unvorhersehbare zu ertragen; ein Leben nicht im Moment, sondern im ausgedehnten Jetzt.[1]

In der Prekarisierung ist die alte bürgerlich-kapitalistische Linearität, die Fantasie der Kontinuität von immer weiterem Wachstum und Fortschritt, aufgebrochen. Viele wissen längst auch in Europa, dass es nicht immer so weiter geht, dass die Zeit keine gerade Linie ist, dass das Diktum von Wachstum und Fortschritt gestoppt werden muss, dass radikal andere ökonomische und ökologische Lebens- und Produktionsweisen dominant werden müssen und damit auch andere nicht-lineare Verständnisse von Zeit. Und dennoch hält sich vor allem in der Mittelschicht das Begehren nach Prävention, Vorhersage und Vorsorge für eine bessere Zukunft. Aber gerade die zunehmende Prekarisierung auch von bürgerlichen Schichten macht deutlich, dass es keine Garantien, keine endgültigen Sicherheiten, keine Reinheiten und keine Zeitgeraden gibt, nur ein anhaltendes uneindeutiges Werden in der Gegenwart, nur ein Miteinander mit und in Umwelten. Isolation, Rückzug und Kontaktvermeidung sind letztlich nicht möglich: Leben bedeutet Austausch jenseits von Reinheit und Trennung. Überleben hängt von Sozialitäten, Institutionen und Umwelten ab.


Prävention

Was bedeutet aber dieses permanente Zuvor-Kommen, das mehr als nur Prognose ist, dieses Agieren zur Abschwächung oder Verhinderung eines unerwünschten, bedrohlichen Ereignisses? Staatliche Behörden praktizieren ein solches Vorgehen, wenn es um Umweltkatastrophen, Terroranschläge, Kriminalität oder auch Pandemien geht. Präventives Handeln basiert auf Berechnungen einer möglichen Zukunft, mit denen die Gegenwart unter Kontrolle gehalten werden kann und durch die Sicherheitstechnologien legitimiert werden können.

Prävention beeinflusst aber auch das alltägliche Verhalten und ist dermaßen Teil neoliberaler Subjektivierung geworden, dass manche von einem „präventiven Selbst“[2] sprechen. Sport und gesunde Ernährung gehören ebenso zu präventivem Verhalten wie regelmäßige medizinische Vorsorgeuntersuchungen, aber auch das Nichtbenutzen bestimmter Orte oder Dinge. Prävention braucht die Einzelnen, ihre Selbstdisziplin und Eigenverantwortung sowie ihr vorsorgendes Verhalten und ihre Ängste. Prävention stützt sich auf Befürchtungen, ein negatives Ereignis könnte eintreten oder eine Krankheit ausbrechen. Prävention hat die Risikominimierung zum Ziel. Damit eine derartige Selbstregierung für viele zur Normalität werden kann, müssen sich die Menschen als immer gefährdeter wahrnehmen und immer besorgter werden. Präventionsverhalten prägt Subjektivierungsweisen im Alltag dermaßen, dass es zum normalisierten Verständnis von Zeit gehört, die Zukunft potenziell antizipieren und in der Gegenwart durch adäquates Verhalten beeinflussen zu können. Das alltägliche präventive Verhalten muss dann ständig wiederholt werden und dauerhaft sein, damit sich die erhoffte Risikominimierung in der Linearität der Zeit als nachhaltig erweisen kann. Angetrieben durch Befürchtungen und Ängste werden so kontrollierende und disziplinierende Eingriffe in der Gegenwart legitimiert. Und doch gibt es, trotz aller Anstrengung der Risikominimierung, keine Sicherheit, dass Dinge nicht passieren. Prävention bringt keine Sicherheit.

Jede Risikoermittlung basiert auf Zahlen, auf Statistiken und Berechnungen und damit auf einer Wissensproduktion von Wahrscheinlichkeiten und Prognosen.[3] Modelle, die Risiken konstruieren und bearbeiten, greifen massiv in Alltag und Selbstverhältnisse ein.

In der Epidemiologie operiert die Präventionsforschung vor allem zweigleisig: mit Statistik und Individualdiagnostik. Zahlen zur Häufigkeit einer Infektion in der Bevölkerung korrespondieren mit Verhaltensregeln, Infektionstests und, wenn möglich, Impfungen der Einzelnen. In dieser Zweigleisigkeit ist Prävention im Gesundheitsbereich einerseits nicht am konkreten einzelnen Subjekt interessiert, wenn es um die anonymen Infektionszahlen auf einem Territorium und die Ermittlung wahrscheinlicher Risiken geht. Andererseits heftet sich die epidemiologische Prävention hinsichtlich Strategien der Vorbeugung doch an jede*n Einzelne*n und ihr konkretes Verhalten.

Bereits in den 1990er Jahren wurde bei der Gesundheitspolitik im Rahmen der AIDS-Krise deutlich, dass Maßnahmen im Dienste der öffentlichen Gesundheit vor allem auf die individualisierte Kompetenz und Verantwortung abzielten, die Risiken der Ansteckung zu verringern. In dieser Zeit fand ein biopolitischer Wandel in der Logik von Gefahrenabwehr statt: Eine Gefahr, die von außen kommt und der*die Einzelne ausgesetzt ist, wird zu einem Risiko, das sie selbst durch ihr Verhalten zu verantworten hat, wenn sie den behördlichen Maßnahmen und medizinischen Empfehlungen nicht folgt. Die neoliberale Kehrtwende zum individuellen eigenverantwortlichen Risikoverhalten ist eng verwoben mit der Zuschreibung von individueller Schuld, wenn die Risikominimierung nicht gelingt. Öffentlichkeit beginnt an den „Öffnungen des Körpers“[4], die zur Vermeidung der Ansteckung geschlossen werden müssen – mit Kondomen oder mit Masken. Im Neoliberalismus ist das Denken in Risiken untrennbar mit staatlicher Anrufung zur Selbstverantwortung verbunden.

Risikofaktoren wurden in den 1950er Jahren in den USA im Rahmen einer neu entstehenden Forschungsrichtung in der Medizin erfunden: der Epidemiologie chronischer Krankheiten.[5] Eigentlich ist die Epidemiologie die Lehre vom Verlauf ansteckender Krankheiten, doch nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die medizinische Forschung verstärkt auf die zunehmenden chronischen Herzkreislauferkrankungen. Im Kontext dieser Forschungen entstand das Denken mit Risikofaktoren, das sich auf Krankheiten bezieht, die sich oft über viele Jahre entwickeln und keine kurzen Inkubationszeiten aufweisen wie jene, auf die die klassische Epidemiologie fokussiert.[6] Die Perspektive auf Risikofaktoren ist medizinpolitisch konservativ, weil in die Faktoren keine Ungleichheitsverhältnisse wie Wohnsituation oder Armut einbezogen werden, sondern nur das Verhalten der Einzelnen. Die Zuschreibung individueller Verantwortung lässt sich schlicht einfacher mit medizinischen Behandlungen und Präventionsanforderungen verbinden. Soziale, ökonomische und ökologische Zusammenhänge galten als zu komplex für einheitliche gesundheitspolitische Maßnahmen. Der individualisierende kontextlose Ansatz setzte sich gesundheitspolitisch durch, obwohl er seit den 1970er Jahren im Rahmen einer linken Sozialmedizin viel Kritik erfahren hat.[7]

In der auf selbstverantwortlicher Vorsorge basierenden neoliberalen Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte gelangte die Logik von Prävention und Risiko schließlich zur Blüte: Der verknappte und profitorientierte Sozialstaat verfolgt die individualisierende Strategie von „Fördern und Fordern “, von Belohnen und Strafen und richtet sich direkt an das selbstverantwortliche Verhalten der Individuen.[8] Das Paradigma der Prävention ist in Europa, vor allem auch aus Kostengründen, tief in den neoliberalen Um- und Abbau der Sozialstaaten eingeschrieben und längst zu einer normalisierten Selbstdisziplinierung und Selbstkontrolle geworden: zum normalisierten Teil von gouvernementaler Subjektivierung.[9] Wer sich nicht ausreichend um sich selbst sorgt und vorsorgt, ist selbst schuld. Das schlechte Gewissen und die Unzufriedenheit über die ungenügende Selbstregulierung hören nicht auf.[10]

Gouvernementale Gesundheitspolitik, die dermaßen am autonomen, für sich selbst verantwortlichen Individuum ausgerichtet ist, verhindert solidarisches Verhalten. Zugleich geht es dieser Gesundheitspolitik aber auch nicht darum, dass sich alle schützen und geschützt werden, sondern darum, mittels Statistiken und Wahrscheinlichkeiten die Kosten für die Sozialkassen und Verwaltungen so zu berechnen, dass die Ausgaben profitabel bleiben. Solche ökonomisierten Gesundheitspolitiken produzieren bereits allein durch den Risikodiskurs der angstgetriebenen Prävention Verunsicherungen und Prekarisierungen. Es sind die seit Jahrzehnten solchermaßen disziplinierten und sich selbst regierenden Einzelnen, die in Europa nun mit der Covid-19-Pandemie konfrontiert sind.


Austausch und Luft

Anhand der gouvernementalen Selbstverantwortlichkeit zeigt sich inmitten der mutierenden Seuche die Unmöglichkeit von Autonomie und Abgrenzung. Wenn an den Öffnungen des Körpers die Öffentlichkeit beginnt, dann sind Körper gerade nicht als isolierte, abgeschlossene Individuen zu verstehen. Körper sind ohne den Kontakt und den Austausch mit anderen und Umwelten, ohne Sozialitäten nicht überlebensfähig. Niemand existiert völlig autonom, der (Selbst-)Schutz vor Krankheiten ist mit Sicherheit so wenig möglich wie der Schutz vor Unfällen. Körper entstehen überhaupt erst in der Affizierung mit sozialen und ökologischen Umwelten.

Vor diesem Hintergrund der unvermeidbaren Verletzbarkeit und des Prekärseins sind die genealogischen Linien bemerkenswert, die sich zu den im Zuge der Pandemie durchgesetzten Strategien des social distancing, der Kontaktvermeidung und des Aufrufs zur Selbstvereinzelung ziehen lassen. Seit Jahrhunderten träumen die Herrschenden von der Separierung der Einzelnen und der Aufteilung des Raums, um den Austausch und das Zusammenrotten der Vielen nicht einfach nur zur Bekämpfung einer Seuche zu kontrollieren, sondern um Unruhen und Proteste zu verhindern.[11] Seuchen- und Aufstandsbekämpfung sind alte „zivilisatorische“ Verbündete.

Aus diesen Allianzen scheinen auch genealogische Fäden zum strengen Gebot des Lüftens im Corona-Winter 2020/21 zu erwachsen. Die Aufforderung, regelmäßig zu lüften, wenn sich mehrere Personen in einem geschlossenen Raum aufhalten, erinnert an den bis ins späte 19. Jahrhundert populäre Glauben, die Luft sei mit infizierender Materie, mit sogenannten Miasmen verseucht, dürfe deshalb nicht „stehen“, sondern müsse andauernd zirkulieren.[12] Der „Pesthauch“ der Miasmen hat ganz besonders die Hygieniker des 19. Jahrhunderts zu vielen Verhaltensregeln und Raumgestaltungen beflügelt: von der Segregation zwischen Klassen und vermeintlichen „Rassen“ bis zur Aufteilung des privaten Hauses: die Separierung der Einzelnen in je eigenen Betten und Zimmern, die Installation von Toiletten in jedem Haus und für jede Wohnung. In viele Städte wurden zudem große Schneisen geschlagen, damit mithilfe breiter Boulevards die Luft gut zirkulieren konnte. Diese Zirkulationsschneisen – dafür steht die Stadtplanung von Georges-Eugène Haussmann in Paris – sollten zugleich das Risiko eines Aufstandes minimieren und Proteste kontrollierbarer machen, als es im Gewimmel der alten verwinkelten Gässchen der Arbeiter*innenviertel und den unkontrollierbaren Kontakten möglich war.[13]

Die Bekämpfung von Verseuchungen ordnet den Raum neu, um Distanz durchzusetzen. Sie verändert das Verhalten und lässt neue Körper entstehen, die auf verschiedene Weisen empfindsamer werden – sei es hinsichtlich der Wahrnehmung von übelriechenden Düften wie im 19. Jahrhundert oder des aktuell zunehmenden unangenehmen Gefühls bei ungenügendem Abstand zu anderen Menschen. Seuchenbekämpfung produziert aufgrund von Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit enorme Sensibilität und hohen Stress. Wie die Miasmen können in der Covid-19-Pandemie infektiöse Aerosole in jedem Raum, in jedem Bereich der Gesellschaft, an jedem Ort in der Luft „schweben“, und jede*r kann das Virus bereits in sich tragen und ausatmen, aussprechen, aushusten, ausniesen.[14] Trotz Impfung bleibt ein Risiko der Ansteckung. Es gibt keine absoluten Sicherheiten. Grenzziehungen zwischen innen und außen, zwischen mobilen, feiernden potenziellen Virenträger*innen und tendenziell virenfreien immobilen Geschützten sind Illusion. Sie führen zu Einsamkeit, geschlossenen Gemeinschaftsbildungen und machen Autoritarismus zunehmend akzeptabel. Inmitten der Pandemie braucht es sowohl die Sorge um sich und die anderen, die besonders gefährdet sind, als auch die Aufmerksamkeit dafür, in welcher Weise distanzierende Selbstregierung Kontaktphobien schürt. Denn langfristig bleibt nur ein Leben mit den Möglichkeiten permanenter Ansteckung, mit Kontakten, Verunreinigungen und Kontaminierungen.[15]


Experimentelles Regieren

Kein Staat und keine Wirtschaft waren im März 2020 vorbereitet – nicht mit Intensivbetten, nicht mit Masken und Desinfektionsmitteln, nicht mit Wissen, wie mit einem solchen Ausbruch umzugehen ist.[16] Die schnelle weltweite Ansteckungswelle nicht vorhergesehen zu haben, bedeutet die Konfrontation mit einer Gegenwart, in der unentwegt von Neuem Risiken ausbalanciert werden. Das Regierungshandeln im Hier und Jetzt einer so entstehenden Pandemie wird notwendig experimentell. Wissenschaftler*innen und Regierende müssen immer wieder Entscheidungen auf der Grundlage nicht eindeutiger Fakten treffen. Andauernd neue epidemiologische Erkenntnisse erfordern ein permanentes Nachjustieren.

Das experimentelle Regieren verweist aber noch auf mehr: Es verschränkt sich in der Pandemie mit ökonomischen Dynamiken und psycho-sozialen Zeiterfahrungen der Intensivierung des Jetzt. Es ist ein schnelles und wendiges Regieren, das vornehmlich über die Exekutive funktioniert und genau mit dieser Wendigkeit – schnell auf neue Ereignisse wie neue Mutationen oder Risikogebiete reagieren zu müssen – die parlamentarische Legislative tendenziell marginalisiert.[17] Ad-hoc Entscheidungen gelten im experimentellen Regieren als alternativlose kurzzeitige Prävention, bis neue Strategien ausprobiert werden.

Auch wenn das experimentelle Regieren wie Staatshandeln erscheint, das Maßnahmen nicht immer und zwangsläufig im Namen der Wirtschaft durchsetzt, ist es doch mit einer sich transformierenden und dominant werdenden ökonomischen Wachstumsdynamik absolut kompatibel. Denn Wachstum löst sich gerade von Zukunft und Prävention – und damit vom Fortschrittsversprechen liberal-demokratischer Nachkriegsordnungen, das die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts im Sinne einer kapitalistischen Ökonomie prägte. Inmitten der pandemischen Phase wird offensichtlich, dass Unplanbarkeit für manche Wirtschaftsbereiche keineswegs ein Hemmnis darstellt. Im Gegenteil werden Unvorhersehbarkeit und Kontingenz gerade für eine mit und nach der Krise erstarkende kapitalistische Wirtschaft maßgebend. Die zunehmende Kalkulation mit Unsicherheit zeichnet sich bereits deutlich in einer Verschärfung von prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen ab. In einer extremen Verdichtung und Beschleunigung erfahren wir mit der Corona-Pandemie, was „normal“ wird. Nicht vorbereitet zu sein, ist seit Jahrzehnten Teil neoliberaler Ökonomie und Politik, in der die Versorgung des öffentlichen Gesundheitswesens abgebaut, im Sinne privatwirtschaftlicher Profitlogiken umgebaut und die Vorsorge in der Verantwortung der Einzelnen gelegt wurde. Es war weder von staatlicher noch von ökonomischer Seite von Interesse, vorbereitet (gewesen) zu sein: zu viele Kosten, zu viel Stillstand der Zirkulation, zu viel Lagerung. Das Risiko einer Just-in-time-Bekämpfung der Epidemie wurde und wird in Kauf genommen. Das ist einer der zentralen Gründe, weshalb wir es im Umgang mit Covid-19 mit einer „individualisierten just-in-time-Epidemiologie“[18] und Politik zu tun haben, die in experimentierender Weise „auf Sicht“ fährt.


Versorgungsströme just-in-time

Das Virus ist Teil globaler Versorgungsströme, von Lieferketten und Logistik, die Waren immer weniger lagern, sondern auf Nachfrage produzieren, transportieren und distribuieren. An die Stelle des Lagers ist die ständige Bewegung und Verzahnung von Lieferketten getreten, damit Produktion und Verteilung zeitlich immer näher an die Wünsche der Konsumierenden rücken. Bestellt und schnellst möglich geliefert: just-in-time. Das Bedürfnis, der Wunsch soll sofort befriedigt werden, der Mangel sofort gestillt. Lieferung nicht in der Zukunft, Dienstleistung im Jetzt. Der Bedarf ist schwer kalkulierbar, deshalb steigen die Jobs auf Abruf.

Entgegen fordistischer Massenproduktion, die mit massenhafter Fertigung und Lagerung operierte und mit entsprechender Nachfrage rechnen konnte, dreht sich in der logistischen Ökonomie das Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion um. Die Nachfrage bestimmt die Produktion, Fabriken kommen ohne langfristige Lagerungen aus. Waren werden nicht an einem Ort hergestellt, sondern an verschiedenen Orten durch logistische Räume hinweg. Transport, Infrastruktur und Kommunikation als Datenübermittlung werden Teil der Produktion. Die Zeit zwischen Produktion und Konsum schrumpft; Waren werden zunehmend just in time hergestellt. Infolge dieser Just-in-time-Produktion haben sich die globalen Bewegungen der Lieferketten enorm ausgeweitet. Was in den 1980er Jahren als „toyotistisches Modell“[19] in den Fabriken in Erscheinung trat, prägt mittlerweile Lebensweisen und hat sich mitsamt neuer Ungleichheitsverhältnisse in die Gesellschaft hinein ausgedehnt.

Der extreme Zuwachs von Online-Bestellungen seit Ausbruch der Pandemie ist nur ein weiterer Boom dieser seit längerem hegemonial werdenden logistischen Ökonomie.[20] Die Ströme, die unter anderem die Lebensmittelversorgung sicherstellen, sollen nicht unterbrochen werden. Auch wenn die Grenzen in der Pandemie in einem alten nationalistischen Reflex zunächst dichtgemacht wurden, sind die transnationalen logistischen Bewegungen „systemrelevant“. Mehr noch: Die Entgrenzung logistischer Räume ist fundamental für die Dynamik dieser globalen Ökonomie und muss nicht zuletzt von nationalen Regierungen sichergestellt werden – das wurde spätestens bei der zweiten Runde von Lockdowns im Herbst 2020 verstanden. Die Ländergrenzen blieben offen.

Bedrohungen der Zirkulation durch Blockaden oder Arbeitsstreiks werden wiederholt als kriminelle Akte behandelt.[21] Immer wieder werden entlang von Logistikketten Arbeits- und Lebensrechte massiv verletzt und extreme Ausbeutung praktiziert. Flexibel regulierte temporäre Jobs sind nicht selten mit einer entsprechend temporären Arbeitsmigration verbunden und inhärenter Bestandteil der Just-in-time-Produktion von Waren wie auch von Pflege- und Reinigungsdienstleistungen.[22] Logistik ist keine straff organisierte Produktionsmaschinerie, sondern ein Management von „Kontingenz, Experimenten, Verhandlung und instabilen Verpflichtungen“[23]. Logistik ist das Management des Unvorhersehbaren mit den entsprechenden unkalkulierbaren prekären Jobs.

Das Covid-19-Virus ist Teil dieser weltweiten Logistik. Es „tauchte am Endpunkt einer regionalen Versorgungskette für exotische Lebensmittel auf, und trat am anderen Ende, in Wuhan, China, erfolgreich eine Mensch-zu-Mensch-Kette von Infektionen los.“[24] Das Virus ist eingeschrieben in den Handel mit Wildfleisch, keineswegs ein informeller Sektor, sondern weltweit zunehmend formalisiert und kapitalisiert.

„Da die industrielle Produktion bereits in die letzten Reste des Waldes eingegriffen hat, müssen Wildtierunternehmen noch tiefer vordringen, um ihre Delikatessen auszuheben oder die letzten Bestände zu plündern. Im Ergebnis findet der exotischste aller Krankheitserreger, in diesem Fall SARS-2 [Covid-19], seinen Weg auf einen Lastwagen, entweder in Lebensmitteltieren oder in der Arbeit, die sie versorgt oder mit der Schrotflinte erledigt, als Beifahrer eines sich ausweitenden periurbanen Kreislaufs, bevor er die Weltbühne betritt.“[25]

Kapitalgesteuerte Abholzung von Tropenwäldern greifen inzwischen derart in Ökosysteme ein, dass „wilde“ Viren nicht mehr durch ökologische Komplexitäten reguliert werden und wieder verschwinden, sondern sich auf menschliche Populationen ausweiten. Zoonotische Krankheitserreger gelangen in die Nahrungskette und verbreiten sich durch Lieferketten. Ehemals bloß endemische Ausbrüche werden durch Mobilität und Logistik zunehmend zu Epidemien und Pandemien. Die gesamte Produktionskette integriert Praktiken, die die Entwicklung und Übertragung von Erregern begünstigen und beschleunigen.[26] Dazu gehört die Agrar- und Billigfleischindustrie mit ihren ausbeuterischen Werkverträgen für Schlachthofmitarbeiter*innen, die in Deutschland vornehmlich temporär aus Osteuropa migrieren. Auch die Billigfleischproduktion galt als „systemrelevant“ und lief im Lockdown weiter. Die medizinische Versorgung der Arbeitenden war in den ersten Monaten der Pandemie allerdings kaum vorhanden; das Virus konnte sich vor allem in den menschenunwürdigen Unterkünften schnell verbreiten. Die Produktion ging weiter, der Konsum von Billigfleisch, Kostendumping inklusive, ist ungebrochen. Die Gewinne machen die Fleischindustrie, der Handel und die Tierfutter herstellenden Agrarkonzerne. Vor allem der Anbau von billigen Sojabohnen zerstört wiederum nicht nur den Regenwald im Amazonas und erhöht das Risiko, dass zoonotische Krankheitserreger in die Nahrungsmittelkette gelangen. Fleisch ist zur Ramschware im Überfluss geworden; es regelmäßig zu essen, gehört zu einem noch immer dominanten Lebensstil, zu einem Verständnis von Freiheit und Wohlstand, das sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Industriestaaten als Versorgungsregime etablierte.

Doch es ist nicht nur die Fleischindustrie, in der für den billigen Konsum menschenverachtende Verhältnisse vor allem auch bei der Unterbringung der Arbeitenden vorherrschen. In den riesigen Obst- und Gemüseplantagen in Spanien, die dafür sorgen, dass im Norden auch im Winter Erdbeeren konsumiert werden können, leben die meist illegalisierten (nord-)afrikanischen Erntehelfer*innen in der Regel ohne Strom und fließendes Wasser, ohne Toiletten in improvisierten Zeltstädten. Arbeit und Migration sind on demand, Leben und Wohnen bleiben improvisiert. Es herrschen entmenschlichende Verhältnisse in den Erntelagern der EU. Die Zustände sind seit langem bekannt. Aber erst als es in der Enge der Unterkünfte und in der Hitze der Gewächshäuser, in der nicht immer eine Maske getragen werden kann, vermehrt zu Ansteckungen mit dem Coronavirus kam, wurde wieder einmal öffentlich darüber diskutiert.[27] 

Billige Lebensmittel – seien es Fleisch, Obst oder Gemüse – und die Lieferung von Waren in die Privathaushalte – seien es Essen, Kleidung oder Bücher – basieren auf schlechten und extrem ausbeuterischen Arbeitsbedingungen jenseits eines Mindestlohns und jenseits einer Norm von „freier“ Lohnarbeit. Menschen und Waren unterliegen zunehmend einer „Logistifizierung“[28]. Nicht nur der Handel mit teurem Wildfleisch oder billigem Schweinefleisch, auch innereuropäische Migration und jene aus dem Nahen und Mittleren Osten sind nicht mehr zu trennen von Logistik – als Management und als weltumspannende Mobilität von Menschen, Dingen, Kapital und Daten.[29]


Wachstum an den Finanzmärkten, Pleiten in der Gastronomie

Die sonst so hochsensibel emotionalisierten Aktienmärkte sind interessanterweise weitgehend immun gegen negative Nachrichten im Kontext der Corona-Pandemie. Nach einem blitzschnellen Börsencrash im März 2020 erholten sich die Märkte schnell wieder. Es handelte sich nicht um einen länger andauernden Prozess wie beim Platzen der Internetblase 2000-2003 oder beim Immobiliencrash von 2006-2008, der zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise führte. Der abrupte erste weltweite Lockdown aufgrund der pandemischen Ausbreitung des Corona-Virus dauerte viele Wochen und hat die „Realwirtschaft“ massiv und nachhaltig einbrechen lassen. An den Finanzmärkten löste er allerdings nur einen punktuellen, momenthaften Absturz aus. Die veränderten Bedürfnisse und Verhaltensweisen im Lockdown und die Techniken zur Verhinderung von Ansteckung schlugen sich sofort am Finanzmarkt nieder. Auch die Pandemie bietet Raum für Wachstum: für Pharmaunternehmen, vor allem wenn sie in die Entwicklung des Impfstoffs involviert sind; für Unternehmen, die im großen Ausmaß Schutzkleidung herstellen wie Masken, Einmalhandschuhe und Schutzkittel; für Automobilhersteller, denn der Verkauf von Autos steigt wieder in Zeiten privatisierter und individualisierter Mobilität; für Onlinehändler und Paket- und Lieferdienste, denn der Einkauf besteht zunehmend aus Online- und Telefonbestellungen; sowie für Wohnmobilhersteller, Möbel- und Energieunternehmen, allen voran natürlich für die Technologiebranche. Im Frühherbst 2020 wurden so viele Börsengänge verzeichnet „wie seit 20 Jahren nicht“.[30] Und es zeichnet sich bereits ab, dass China mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Rezession erfahren wird. Bereits im Herbst 2020 wächst die chinesische Wirtschaft wieder. Die Bekämpfung des Virus mit rigiden Maßnahmen wie dem Abriegeln ganzer Städte, die rigorose Überwachung der Quarantäne und massive technologische Kontrolle haben sich schnell positiv auf das Wirtschaftswachstum ausgewirkt. Autoritär-populistische Positionen in Europa schielen neidisch nach China, wo sich Überwachung und Einschränkungen in einem Ausmaß etabliert haben, das so vielerorts in Europa (noch) nicht möglich ist.

In den Dienstleistungsbereichen, die von körperlicher Präsenz und Kontakt leben – wie in der Gastronomie, im Tourismus- oder im Veranstaltungssektor – besteht die Gefahr von endgültigen Schließungen und Pleiten, was sich nicht nur als Jobverlust vor allem auf Frauen sowie prekär und geringfügig Beschäftigte auswirkt. Auch im Dienstleistungsbereich nehmen Just-in-time-Jobs zu: Jobs on demand, je nach Bedarf, je nach Anzahl der Bestellungen. Auch hier arbeiten schon jetzt viele Migrant*innen.

Die Politik schaut nicht selten bei den Arbeitsbedingungen in der Fleisch- und Lebensmittelindustrie weg, unter anderem weil sonst die Preise steigen würden. Deshalb ist anzunehmen, dass die durch Just-in-time-Jobs extrem Prekarisierten weiterhin tage-, wochen- oder monatsweise angeheuert werden. Kurz gebraucht und billig losgeworden, zunehmend ohne auch nur einen befristeten Vertrag in der Tasche zu haben oder sogar ohne dass Löhne ausbezahlt werden. Überall nimmt die Armut zu, weil es keine gesetzlichen Beschränkungen dieser Gebrauchspraxen von Arbeitskräften gibt. Das Wirtschaftswachstum und das Überleben von Betrieben hat Priorität. Noch immer ist zur Kompensation der extremen Prekarisierung kein vertretbares Grundeinkommen eingeführt. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes erfährt durch die Pandemie einen massiven Schub, prekäre Jobs, auch für diejenigen mit höheren Bildungsgraden, gehören schon jetzt zur Normalität.[31]


Corona-Warn-Apps

Um weitere Lockdowns zu verhindern, die nicht nur die Wirtschaft stark belasten, sondern auch persönliche Freiheiten massiv einschränken, haben weltweit viele Regierungen, Verwaltungen und Epidemiolog*innen große Hoffnungen in automatisierte Entscheidungsfindungssysteme gesetzt, um die Ausbreitung der Krankheit zu überwachen. Corona-Warn-Apps, QR-Codes, Thermoscanner, teilweise ausgestattet mit Gesichtserkennungstechnologie, wurden schnell angewandt, um Quarantäneverordnungen umzusetzen oder den Zugang zu verschiedenen Orten wie Restaurants, Supermärkten, Stadien und Museen zu kontrollieren, ebenso die Ankunft an Flughäfen und Bahnhöfen. Seit dem Ausbruch von Covid-19 wurde „Künstliche Intelligenz“ in großem Ausmaß zur Verarbeitung von anonymisierten Bevölkerungsdaten eingesetzt, um in Echtzeit das Verhalten und den Gesundheitszustand von vielen Einzelnen im Blick zu haben, Risikoorte und -gebiete zu markieren und schnelle gesundheitspolitische Interventionen zu ermöglichen – teilweise mit erheblichen Folgen für Grundrechte, Gesundheitspolitik und Demokratie.[32]

Es geht um die Nachverfolgung von Kontakten mit Virusträger*innen, um Übertragungswege in den vergangenen 14 Tagen zurückverfolgen zu können. Mit Hilfe einer Corona-Warn-App – so die Idee – wird jede Person, die dem Risiko einer Ansteckung ausgesetzt war, sofort benachrichtigt, um dann einen Test zu machen oder sich in Quarantäne zu begeben.

In Europa werden vornehmlich zwei verschiedene Technologien benutzt – eine, die über GPS Bewegungs- und Standortdaten zusammenstellt und eine andere, die mittels Bluetooth Daten über die Nähe zu anderen Smartphones sammelt. Beide haben sehr unterschiedliche Folgen hinsichtlich Überwachung, Kontrolle und Wirksamkeit. Autoritär populistische Regierungen nutzen eher die Technologien zur Standortermittlung, liberale Regierungen bisher eher Daten, die über Nähe entstehen. Generell kann natürlich die gleiche Technologie für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden, je nachdem, welche Interessen verfolgt werden.

Daten aus Bluetooth-Apps können freiwillig und anonym (soweit Datensicherheit überhaupt je als gegeben betrachtet werden kann) mit einem zentralen Server oder dezentral mit den Smartphones anderer User*innen geteilt werden, die auch die App heruntergeladen haben. Die „Risikobegegnung“ bleibt anonym gegenüber den Behörden und der benachrichtigten App-User*in, nur das Datum der Begegnung wird mitgeteilt. Zugleich hat es noch keine sanktionierenden Konsequenzen, die App nicht zu installieren. Technologien, die den Kontakt mit infizierten Personen über Datenmessung durch Nähe feststellen sollen, können allenfalls zur Unterstützung von Gesundheitsämtern dienen, diese aber nicht ersetzen. Solche Kontaktverfolgungs-Apps sind, gerade weil sie dezentral organisiert und auf die freiwillige Weitermeldung der Einzelnen angewiesen sind, aus Datenschutzgründen bewusst kein alleiniges Mittel zur Ermittlung eines Infektionsrisikos.

Basiert die digitale Kontaktverfolgung allerdings nicht nur auf dem Austausch mit anderen Smartphones, also nicht nur auf Nähe, sondern zudem in Verbindung mit GPS, um Behörden permanent den Aufenthaltsort einer Person mitzuteilen, was wiederum nicht selten mit Sanktionen bei regelwidrigem Verhalten verbunden ist, greift eine solche Überwachungstechnologie massiv in die Rechte der einzelnen ein.[33] In Polen und Ungarn beispielsweise werden GPS-basierte Apps mit Gesichtserkennungstechnologie gekoppelt, um sicher zu stellen, dass (potenziell) infizierte Personen unter Quarantäne gestellt werden.[34] Das Herunterladen der App ist obligatorisch. Die digitale Massenüberwachung wird im Rahmen von Pandemie-bekämpfenden Gesundheitspolitiken zur „neuen Normalität“. Es handelt sich um eine restriktive und ausgesprochen fehleranfällige Strategie, da viele Technologien nicht nur falsche Entscheidungen über den Gesundheitszustand einzelner liefern, sondern auch eine Infizierung mit dem Zwang zur Quarantäne melden können, obwohl keine Ansteckung vorliegt.[35] Durch Sicherheitsmängel entstehen zudem massive Datenschutzprobleme. Liechtenstein zum Beispiel startete eine Pilotstudie zur Früherkennung von Covid-19-Erkrankungen auch ohne typische Symptome mithilfe biomedizinischer Armbänder, die Hauttemperatur, Atem- und Herzfrequenz erfassen. Ziel ist es, die Daten aller Bürger*innen von Lichtenstein zu sammeln, um die Infizierung mit dem Virus noch vor der Entwicklung von Symptomen oder bei einer symptomfreien Erkrankung erkennen zu können.[36] Das Risiko wird hier nicht mehr nur durch Zahlen ermittelt, die, wenn sie eine bestimmte Grenze überschreiten, wie die Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen, zur Deklarierung von Risikogebieten dienen. Die in Liechtenstein angestrebte Risikoprognose setzt einen Schritt davor an und will die Ansteckung vor der Symptombildung feststellen. Jede*r kann das Virus bereits in sich tragen und eine potenzielle Gefahr darstellen. Es ist die technische Erfassung des permanenten Verdachts, nicht der manuell nachgewiesenen Infektionen durch Tests.

Von Datenschutzaktivist*innen wird hingegen massiv bezweifelt, dass sowohl die Armbänder als auch die GPS-Apps viel zur Eindämmung des Virus beitragen können. Wichtig sind vielmehr weit verbreitete Tests, manuelle Kontaktverfolgungen und zudem das Recht, eine solche Technologie nicht zu benutzen. Krankheitsüberwachung kann schnell zur generellen Bevölkerungsüberwachung führen und auf diese Weise „neue Normalitäten“ schaffen. Deshalb braucht die staatliche Datennutzung für diese Art der Risikoprognose strenge rechtliche Begrenzungen, damit in bisher nicht gekannten Extremsituationen wie beim ersten weltweiten Lockdown im März 2020 nicht mit Dringlichkeitsargumenten umfassende Überwachungsmöglichkeiten für Regierungen geschaffen werden.[37]

Den Austausch und den Kontakt mit anderen digital zu verfolgen, bleibt nicht bei der Ermittlung von möglichen Erkrankungen. Seuchen- und Aufstandsbekämpfung können sich auch heute verschränken. Wenn viele zusammenkommen und Kontakt im öffentlichen oder im privaten Raum haben, wird das in der Risikoermittlung von Ansteckungen als Clusterermittlung verstanden. Es kann sich aber auch um Zusammenkünfte des Protests handeln, um Demonstrationen. In Minnesota wurde die Technologie zur Kontaktverfolgung bereits eingesetzt, um sich ein Bild von der Zusammensetzung der Protestierenden zu machen und die Ansteckung des Widerstands zu überwachen.[38]

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die verschiedenen nationalen Apps der EU-Länder miteinander verbinden lassen. Was, wenn sie sich bei Grenzübertritt automatisch verlinken, so dass eine Reisende ungefragt in die offizielle Corona-App des jeweiligen Landes gelotst wird? Was, wenn es sich um Länder handelt, die GPS-basiert die Kontaktdaten ermitteln und neben Thermoscannern auch Gesichtserkennungssoftware benutzen? Oder wenn die Gesichtserkennungssoftware in den Kameras im öffentlichen Raum sich mit den Daten zur Kontakterkennung hinsichtlich einer potenziellen Ansteckung mit Covid-19 austauschen?[39] Dann überlappt sich die Erkennung eines „Hotspots“ oder eines regionalen Risikogebiets vielleicht mit einem als aufständisch markierten „Risiko“-Gebiet. Die angeordnete Vermummung mit Masken, wenn das Risiko der Nähe und des Austauschs besteht, ist kein Schutz vor Gesichtserkennungskameras. Die Algorithmen waren im Jahr 2020 zwar aufgrund der Masken für kurze Zeit irritiert und haben keine „Gesichter“ erkannt, weil sie nicht mit Gesichtern gefüttert worden waren, die Masken tragen. Das wurde aber bald behoben. Mittlerweile boomt der globale Markt für Wärmebild- und Gesichtserkennungstechnologie. Die Geräte werden aggressiv als Werkzeuge zur Bekämpfung von Covid-19 beworben, die in Supermärkten, Kinos, Theatern, Krankenhäusern und öffentlichen Orten mit vielen Menschen eingesetzt werden sollten.[40]

Die auf „Künstlicher Intelligenz“ basierende Massenüberwachung geschieht nicht zu besonderen Anlässen, sondern ununterbrochen. Wie in der epidemiologischen Präventionsforschung geht es dabei nicht um die konkrete Person, sondern zunächst um ihre (vermeintliche) Zugehörigkeit zu einer Gruppe, aufgrund von Alter, Geschlecht, Physiognomie, Hautfarbe, das heißt um die automatisierte Identifizierung, Zuordnung und Kontextualisierung durch sogenannte Mustererkennung. Die Gerasterten haben keine Kontrolle über die Klassifizierungen, vor allem dann nicht, wenn sie mit Datenströmen aus verschiedenen Quellen kombiniert und abgeglichen werden. Es ist die „Künstliche Intelligenz“, die entsprechend den Datensätzen, mit denen der jeweilige Algorithmus gefüttert wurde, automatisiert entscheidet. Vermeintliche Evidenzen von Verhalten und Lebensweisen werden je nach vorhandenem Datensatz technologisch konstruiert. Rassistische Kategorisierungen durch Algorithmen nehmen zu, sogar das Absprechen eines menschlichen Gesichts, da nicht-weiße Gesichter von den Scannern im „globalen Norden“ oft nicht erkannt werden. Viele der neuen Trainingsbilder für pandemietaugliche Algorithmen kommen unter anderem von frei zugänglichen Social Media-Plattformen wie Instagram. Masken-Selfies sind der letzte Schrei bei Leuten, die die Algorithmen füttern.[41] Schon allein wegen dieser unendlichen freiwilligen Bilderzulieferung von denen, die dann damit überwacht werden, werden Gesichtserkennungstechnologien und ihre Überwachsanwendungen nicht wieder verschwinden.[42]

China ist unumstritten Vorreiterland hinsichtlich Gesichtserkennungstechnologie, die nicht nur Bestandteil der aktuellen Pandemiebekämpfung, sondern seit längerem ebenso grundlegend für Smart-City-Konzepte ist, wie für gigantische Handels- und Infrastrukturprojekte, etwa die „neue Seidenstraße“, die nach und nach auch in Europa ausgebaut wird. Solche globalen Logistikprojekte mitsamt den vielen europäischen Partnern sind maßgeblich daran mitbeteiligt, dass die logistische Ökonomie hegemonial wird und prekäre Just-in-time-Jobs zunehmen.[43]


Neues Biedermeier im Home-Office

Die Corona-Pandemie hat rasant verändert, wie wir arbeiten, wohnen, einkaufen und uns fortbewegen. Nicht nur mit der Corona-Warn-App und Gesichtserkennungskameras bestimmt Digitalisierung immer deutlicher den Alltag. Dieses zuhause Arbeiten war auf einmal schnell möglich und von vielen gewollt: ein globales Digitalisierungs-Experiment. Nine-to-five hat endgültig als Norm von Arbeitszeit ausgedient. Eine weitere Zuspitzung neoliberalen Arbeitens findet statt. Nun wird die gesamte Person mitsamt ihrem sozialen Umfeld im eigenen Zuhause kapitalisiert. Klare Grenzen zwischen Arbeit und Reproduktion sind nicht mehr zu ziehen. Prekarisierung nimmt weiter zu.[44] Freizeit wird zu einem Relikt aus fordistischen Zeiten, was in der Normalisierung des Home-Office (erneut) offensichtlich wird. Dennoch können sich immer mehr Leute vorstellen, längerfristig von zuhause aus zu arbeiten, obwohl in den eigenen vier Wänden kein Rückzug mehr in das von der Arbeit getrennte Private stattfindet. Auf einmal werden durch Telekommunikation Einblicke in Intimsphären möglich, die nie gestaltet waren, um von Arbeitskolleg*innen gesehen zu werden. Wer hat schon einen eigenen Tisch zum Arbeiten zuhause, der nicht zugleich Esstisch oder Spieltisch ist? Wer hat die Ruhe, die für konzentriertes Arbeiten nötig ist?

Viele sagen jetzt, die Präsenzpflicht im Büro sei überholt, Produktivität fände auch zuhause statt. Schließlich arbeiten viele Menschen dort mehr und länger und manche sogar stressfreier. Der mangelnde Stress gilt allerdings weniger für Frauen, die, vor allem wenn Kinder im Haushalt leben, weiterhin hauptsächlich die Sorge- und Reproduktionsarbeit leisten.[45] Es ist abzusehen, dass durch das zunehmende Arbeiten im Home-Office die Sorgearbeit nicht gerechter verteilt werden wird. Gegen das Arbeiten im Zuhause sagen andere, nur durch den Austausch mit Kolleg*innen entstehe Kreativität. Beiden Argumenten geht es um ökonomische Produktivität und Wachstum. Home-Office spart Unternehmen und Institutionen viel Geld: Büroräume können reduziert und Arbeitsplätze flexibilisiert nutzbar gemacht werden; „eigene“ Schreibtische oder Büros werden bald nur noch Luxus und Belohnung sein; Co-Working-Spaces (im Sinne von hintereinander von verschiedenen Einzelnen benutzte Arbeitsräume) nehmen weiter zu, Pendelverkehr und Dienstreisen nehmen ab. Büros werden tendenziell eher Kontaktstätten mit Kolleg*innen als Arbeitsorte. Die digitale Infrastruktur wird immer robuster und flächendeckender ausgebaut. Von diesem digitalen Schub im Zuhause haben Technologiekonzerne wie Microsoft und Unternehmen wie Zoom bereits extrem profitiert; Netflix und Disney ersetzen das Kino. Amazon hat bereits im 3. Quartal 2020 seinen Umsatz im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht.

Zugleich fangen viele an, zuhause zu gärtnern, und sei es auf dem Balkon. In Berlin hat mit Corona der Run auf die Schrebergärten dermaßen zugenommen, dass es zu Wartezeiten bis zu zwölf Jahren kommt.[46] Bücher zur Selbstversorgung und Gartenratgeber verkaufen sich um vieles besser als in den vergangenen Jahren.

Nicht im Büro zu arbeiten, birgt allerdings einige Risiken: Ist man auf dem Bett, Balkon oder gar am Strand arbeitend versichert? Wer zahlt die Ausstattung für das Irgendwo-Office? Und wer entscheidet, an welchen Orten außerhalb des Büros tatsächlich gearbeitet werden darf?

Der Unterschied zwischen denen, die mobil bleiben (müssen) und nicht selten die Mobilität gewährleisten, und jenen, die die Mobilität weitgehend einstellen, verstärkt sich. Immobil werden nicht nur Angestellte, Beamte und Projektarbeitende mit akademischen Abschlüssen. Auch in Fabrik und Handwerk werden vermehrt nach Möglichkeiten von Heimarbeit gesucht: Kamerabildüberwachung von Produktionen oder Produktionen aus dem 3-Drucker können auch zuhause ausgeführt werden. Wenn Produktionsketten zurück nach Europa geholt werden, weil Lieferketten und Just-in-Time-Produktionen wie bei Schutzmasken in der Not Versorgungsengpässe produzieren und zu abhängig von Ländern außerhalb Europas machen, kann die alte, vor allem von Frauen getätigte prekäre Heimarbeit wieder verstärkt reaktiviert werden. Von diesem Home-Office-Trend sind diejenigen, die in Bereichen von Infrastruktur, Logistik und Verkehr oder in Sorge- und Pflegeberufen arbeiten, allerdings nicht sonderlich betroffen; sie verdienen auch in der Regel weiterhin weniger als diejenigen im Irgendwo-Office. Vielen aus der Mittelschicht reicht schon jetzt der Balkon nicht mehr aus, und sie ziehen aus den Städten aufs Land, „ins Grüne“, ins Häuschen, wo mehr Platz ist, um alles und alle in Zeiten steigender Heimarbeit unter einen Hut und ein Dach zu kriegen. Wer sich das leisten kann, findet die vielen Leute in den Städten immer unerträglicher: Viel zu gefährlich, überall gibt es Möglichkeiten von Kontakt.

Die Kontaktphobien wuchern. Das bargeldlose, kontaktlose digitale Bezahlen wird 2020 immer beliebter, auch das Bezahlen mittels Smartphone oder Smartwatch, deren Dienste von Apple Pay oder Google Pay angeboten werden. Digitalisierung unterstützt in vielen Momenten des Alltags die Vermeidung von Kontakten. Ein weiterer digitaler Trend im kontaktlosen Leben ist der weltweit steigende Absatz von KI-Sexrobotern und entsprechende Bordelle.[47]

Das neue Arbeits-Zuhause versorgt sich durch Lieferdienste, um den Ansteckungen in Geschäften und der Öffentlichkeit zu entgehen. Die öffentliche Infrastruktur wirkt bedrohlich, Begegnungen mit Anderen, die nicht zum ausgesuchten Nahbereich gehören, werden weitestgehend vermieden. Die Just-in-time-Lieferungen ins Arbeits-Zuhause der Besserverdienenden lässt die prekären Just-in-time-Jobs in der auf Mobilität basierenden Logistik-Branche massiv anwachsen. Die Immobilität im Zuhause ist nicht möglich ohne die Mobilität der zuliefernden Logistik. Die Zeiterfahrung, im Jetzt gefangen zu sein, wird durch Echtzeit-Lieferung kompensiert – alles just-in-time. So wird das Jetzt zum kapitalistischen Renner.

Wie werden die Innenstädte in zehn Jahren aussehen? Werden vermehrt „pandemieresiliente“ Architekturen gebaut, die hauptsächlich über Kontaktvermeidung funktionieren?[48] Wer wird sich das leisten können? Wie wird sich jenseits der Online-Bestellungen das Einkaufen verändern? Wird sich der (inhabergeführte) Einzelhandel in den Quartieren bündeln, wo die Wege kurz sind und man die Ladenbesitzer*innen kennt? Werden die Stadtviertel zu Dörfern der Gemütlichkeit, in der jede*r Fremde erkannt wird?

Der neue Rückzug ins Arbeits-Private, zu dem nur noch Familie und ausgesuchte Freund*innen Zugang haben, ist prädestiniert dafür, alte Geschlechtermodelle ebenso zu verfestigen wie traditionelle Ideen von Familie, Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Die anderen sind in erster Linie eine mögliche Bedrohung, und wenn sie feiern und ausgelassene Kontakte haben, gibt es wieder und wieder Beschwerden darüber, dass sie sich nicht um das Wohl der immer kleiner und immer geschlossener werdenden Gemeinschaft(en) kümmern. Sie werden als Ausbrecher*innen und Gefährder*innen behandelt, und es wird gefragt – so wie es die sozialdemokratische rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer Mitte Oktober 2020 bereits formuliert hat[49] –, wie man sie zurück in die Gemeinschaft holt – und die Antwort lautet schnell: mit Disziplin, Strafe und Autorität. Bei anhaltendem Kontrollverlust verändern sich angesichts ständig steigender Infektionszahlen Sprache und Denken. Problematischerweise entsprechen die Gemeinschaften des Heims, der Familie, der engen Freund*innen der Renationalisierung in Europa – aus dem Nichts sind die nationalen Grenzen wieder da, und die Reisefreiheit, die der Schengen-Raum garantiert hat, wird außer Kraft gesetzt. Die Konzentration auf das Zuhause und die Nation spielt dem erstarkenden autoritären Populismus und seinen Allianzen massiv in die Hände.[50] Autoritäres Regieren auf staatlicher wie institutioneller Ebene ist vor allem der Versuch, in unkontrollierbaren, unplanbaren, radikal kontingenten Zeiten wieder Kontrolle zu gewinnen. Zur Disziplinierung der Bevölkerung werden Ängste geschürt, die Kontakte und Mobilität einschränken und die Selbstbeschränkung auf das Zuhause fördern sollen.

Im digitalisierten privaten Bereich haben wir es gerade mit der Wiederkehr einer Art Biedermeier zu tun, die – gepaart mit zunehmendem Autoritarismus und sich ausweitender Phobien vor Kontakten mit denen, die man nicht kennt, und seien es die Nachbarn eine Straße weiter – ein bedenkliches Gemisch entstehen lässt. Für alles, was sich außerhalb der eigenen Blase bewegt, schwindet das Verständnis. Diese biedermeierne Sehnsucht, die Welt und das Andere auszusperren, grassiert in allen gesellschaftlichen Schichten und allen politischen Lagern. Es ist eine Sehnsucht, die von Krise zu Krise stärker zu werden scheint. In Krisensituationen werden (Ein-)Schließungen und Autoritarismus zu legitimen Kommunikationsweisen. Wann aber wird keine Krise mehr sein? Wie schnell wird „nach“ Corona eine neue Seuche die nationale Gemeinschaft bedrohen?

In der Covid-19-Pandemie werden gerade in einer enormen Verdichtung und Geschwindigkeit Verhalten und Sehnsüchte für eine neue kapitalistische Phase eingeübt, die wesentlich davon abhängt, dass jede*r Einzelne lernt, mit extremer Unplanbarkeit und steigender Unsicherheit umzugehen. Wachstumsprognosen haben am ehesten noch die Unternehmen, die vom aktuellen nachhaltigen Wandel profitieren. Gerade diese Logistik- und Technologieunternehmen treiben die Normalisierung von extrem prekären Just-in-time-Jobs weiter voran.

Anstatt die unmögliche Kontrolle und Sicherheit in der Einschließung und der Immobilität zu suchen, sollte die neue Zeiterfahrung des Jetzt dazu dienen, die Verhältnisse grundlegend zu verändern. Nicht, um eine Katastrophe in der Zukunft präventiv zu verhindern, sondern weil es in der Gegenwart nicht mehr so weiter gehen kann. Die Pandemie ist keine Zeit der Ausnahme, durch die alle irgendwie durch müssen. Sie entspricht weniger eine exzeptionellen Phase als einer Beschleunigung und Verstärkung bestehender kapitalistischer, ökologischer und gesellschaftlicher Verhältnisse: Die Bekämpfung von Covid-19 führt das gouvernementale Regieren über Angst weiter, sie re-aktiviert misogyne, rassistische, homo- und transphobe Herrschaftsverhältnisse, sie erweitert Prekarisierung und Armut und macht ausbeuterische und zerstörende Ökonomien und Naturverhältnisse noch deutlicher sichtbar als zuvor. Die Covid-19-Pandemie ist nicht einfach verursacht durch ein sehr ansteckendes neues Virus, sondern zutiefst verstrickt mit alten und neuen Lebens- und Arbeitsweisen. Die Ausbreitung des Virus ist zutiefst verwoben mit dem Klimawandel und nicht zu verstehen ohne ökologische und ökonomische Verwüstungen.

Auch wenn es in der Hochzeit der Pandemie immer wieder gute Gründe für Isolierung und Kontaktvermeidung gibt, darf gerade diese Praxis langfristig nicht lebensbestimmend werden. Es braucht noch viel mehr Verstehen über globale Zusammenhänge und Verflechtungen, um radikal andere Lebens- und Arbeitsweisen dominant werden zu lassen, in denen die (über)lebenswichtigen Abhängigkeiten von Nähe, Austausch und Ökologien im Zentrum stehen.

Längst ist klar, dass das Virus nicht von außen kommt, nicht externalisiert werden kann, sondern sich mit Sozialitäten verbreitet und uns auf das Jetzt fokussieren lässt. Das ist eine gute Nachricht, denn nur die Zeit des Jetzt können wir gestalten. Nicht die Zukunft. Sie ist nur eine fantasierte Krücke, um die Unberechenbarkeit des Lebens in eine fortschreitende Linie zu biegen und vermeintlich kontrollierbar zu machen. Die alte Orientierung zu verlieren ist notwendig, um diese Zeit des Fortschritts und des Wachstums radikal zu beenden. Zu lernen, mit Unplanbarkeit und Prekarisierung umzugehen, sollten wir nutzen, um „vor die Welle“ kapitalistischer Transformation zu gelangen und ohne präventives Denken, Überwachung und Kontrolle Ökologie, Gesundheit und Sorge endlich zusammenzudenken.

 

Zur weitgehend übereinstimmenden englischen Fassung siehe:

Isabell Lorey: “Corona Effects: After Prevention, Just In Time: Digitalization and Contact Phobias”, in: Isabella Kohlhuber, Oliver Leistert (Eds.), Hamburg Maschine revisited: Artistic and Critical Investigations into Our Digital Condition, Hamburg: Adocs 2021.

 

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[1] Zum Verständnis einer ausgedehnten Gegenwart siehe Isabell Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin 2020; sowie Isabell Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012.

[2] Martin Lengwiler und Jeanette Madarász (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010.

[3] Vgl. Reinhart Koselleck, „Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose“, in: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, S. 203-221.

[4] Brigitte Weingart, Ansteckende Wörter. Repräsentationen von AIDS, Frankfurt am Main 2002, S. 119.

[5] Vgl. Carsten Timmermann, „Risikofaktoren: Der scheinbar unaufhaltsame Erfolg eines Ansatzes aus der amerikanischen Epidemiologie in der deutschen Nachkriegsmedizin“, in: Lengwiler und Madarász, Das präventive Selbst (wie Anm. 2), S. 251-278, hier S. 252.

[6] Vgl. ebd., S. 253.

[7] Vgl. ebd., S. 257 und S. 268-272.

[8] Vgl. Robert Castel, „Von der Gefährlichkeit zum Risiko“, in: Manfred Max Wambach (Hg.), Der Mensch als Risiko. Zur Logik von Prävention und Früherkennung, Frankfurt am Main 1983, S. 51-74; sowie Ulrich Bröckling, „Prävention“, in: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, S. 210-214, hier S. 213 f.

[9] Das Konzept der Gouvernementalität, die die Verschränkung von staatlicher Lenkung und Selbstregierung beschreibt, wurde von Michel Foucault entwickelt. Siehe dazu beispielsweise seine Vorlesungen Michel Foucault, Geschichte zur Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt am Main 2004; sowie Michel Foucault, Geschichte zur Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt am Main 2004.

[10] Prävention scheitert unentwegt an ihrem unstillbaren Verlangen nach Eindeutigkeit, Sicherheit und Beständigkeit, denn es bleiben immer Restrisiken, und neue Risiken können entstehen. Zugleich ist Prävention im Gesundheitsbereich auch dadurch geschwächt, dass viele ein präventiv-gesundheitspolitisches Körperverhältnis, wie gesunde Ernährung, Sport, Verzicht auf Rauchen und Alkohol, nicht entwickeln (wollen). Vgl. auch Bröckling, „Prävention“, S. 214 f. (wie Anm. 8).

[11] Vgl. Isabell Lorey, „Der Traum von der regierbaren Stadt. Zu Pest, Policey und Staatsraison“, in: transversal. Multilinguales Webjournal, Juli 2007, online unter: https://transversal.at/transversal/1007/lorey/de (zuletzt aufgerufen am 7.11.2020).

[12] Die Miasmenlehre geht auf Hippokrates von Kos aus dem 4. Jahrhundert vor christlicher Zeitrechnung zurück und besagt die Ausdünstung giftiger Stoffe aus dem Boden, die von der Luft verteilt werden. Die Angst vor Miasmen führte im Mittelalter zu Quarantänemaßnahmen gegen die Pest. Die schnabelähnlichen Masken der Pestärzte sollten mithilfe von Kräutern und Essig von den giftigen miasmischen Ausdünstungen der Kranken schützen. Aufgrund mangelnden Wissens über Bakterien und Viren ist die Lehre von Miasmen bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht zu trennen von Erklärungsversuchen zur Entstehung diverser Seuchen.

[13] Vgl. Alain Corbin, Pesthauch und Blütendurft. Eine Geschichte des Geruchs [1982], Frankfurt am Main 1988.

[14] Zu den spezifisch deutschen Praxen von „Stosslüften“ und „Querlüften“ nicht nur in Corona-Zeiten siehe The Guardian, 30.9.2020.

[15] Das ist weder ein Plädoyer für eine „Herdenimmunität“ durch Ansteckung ohne Schutzmaßnahmen, mit der der Tod vieler einfach in Kauf genommen wird; noch soll hier in irgendeiner Weise Verschwörungstheoretiker*innen und Corona-Leugner*innen das Wort geredet werden.

[16] „Kein Gesundheitssystem war vorbereitet. Es muss künftig einen Krisenmechanismus geben, in dem man sofort umschalten kann“, so der WHO-Europa-Direktor Hans Kluge im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, 20.7.2020.

[17] Zur rechtlichen Korrektur der schnellen Verordnungen ist allein die Judikative zuständig: Ein riskantes Manöver für die liberale Demokratie.

[18] Rob Wallace, Alex Liebman, Luis Fernando Chaves, Rodrick Wallace, „Covid-19 und die Kreisläufe des Kapitals“, übers. Christoph Brunner und Brigitta Kuster, in: transversal. Multilinguales Webjournal, April 2020, online unter: https://transversal.at/transversal/0420/wallace-etal/de (zuletzt aufgerufen am 7.11.2020).

[19] Michael Hardt und Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main 2002, S. 301.

[20] Seit den 1960er Jahren weitet sich das, was als Logistik bezeichnet wird, immer weiter aus. Ihre Bedeutung „umfasst inzwischen die Organisation der kompletten Lieferkette (supply chain), einschließlich Design und Bestellung, Produktion, Transport und Lagerung, Verkauf, Überarbeitung und Neubestellung. […] Es ist dieser Perspektivwechsel, den wir als Logistikrevolution bezeichnen.“ (Edna Bonacich, Jake B. Wilson, Gettings the Goods. Ports, Labour, and the Logistics Revolution, Ithaca, NY 2008, S. 3, zit. nach der Übersetzung von Moritz Altenried, Manuela Bojadžijev, Leif Höfler, Sandro Mezzadra und Mira Wills, „Migration, Arbeit, Logistik. Theoretische und historische Perspektiven“, in: Moritz Altenried u.a., Logistische Grenzlandschaften. Das Regime mobiler Arbeit nach dem Sommer der Migration, Münster 2017, S. 15-41, hier S. 21.)

[21] Vgl. Deborah Cowen, The Deadly Life of Logistics. Mapping Violence in Global Trade, Minneapolis, London 2014, S. 2 f.

[22] Vgl. Altenried u.a., „Migration, Arbeit, Logistik“, S. 33 f. (wie Anm. 20). Dennoch hat die Corona-Pandemie die weltweite Containerschifffahrt und damit Lieferketten beeinträchtigt. Bis Spätherbst 2020 waren aufgrund von Quarantänemaßnahmen, Grenzschließungen und Einschränkungen des Luftverkehrs weltweit ca. 400.000 Seeleute vor allem aus den Philippinen, Indien und Indonesien auf Containerschiffen „gestrandet“, ohne an Land zu dürfen, unter anderem weil es an medizinischer Versorgung fehlte, Visa ausgelaufen und in manchen Ländern diplomatische Vertretungen geschlossen waren. Es braucht lange internationale Verhandlungen, um Besatzungswechsel in der Pandemie zu erleichtern (vgl. Anna Reuss, „Matrosen auf viel zu langer Fahrt”, in: Süddeutsche Zeitung, 20.10.20).

[23] Anna Tsing, „Supply Chains and the Human Condition“, in: Rethinking Marxism 21 (2009), 2, S. 148-176, hier S. 150; siehe auch Sandro Mezzadra und Brett Neilson, Border as Method, or, the Multiplication of Labor, Durham und London 2013, S. 118-122.

[24] Wallace u.a, „Covid-19 und die Kreisläufe des Kapitals“ (wie Anm. 18).

[25] Wallace u.a, „Covid-19 und die Kreisläufe des Kapitals“ (wie Anm. 18); siehe auch Alessandro Broglia und Christian Kapel, “Changing Dietary Habits in a Changing World: Emerging Drivers for the Transmission of Foodborne Parasitic Zoonoses,” in: Veterinary Parasitology 182 (2011), 1, S: 2–13.

[26] Wallace u.a, „Covid-19 und die Kreisläufe des Kapitals“ (wie Anm. 18).

[27] Wochen vor den Bränden im Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos Anfang September 2020 brachen in Andalusien, im Lager Lepe bei Huelva, mehrmals hintereinander Feuer aus. Die Bewohner*innen zogen auf den zentralen Platz im Ortskern und campierten dort. Erst dann lies die spanische Regierung ein neues Lager bauen, das Hygieneanforderungen entsprechen sollte (vgl. Sebastian Schoepp, „Seuchenherd Obstplantage“, in: Süddeutsche Zeitung, 1./2.8.2020).

[28] Altenried u.a., „Migration, Arbeit, Logistik“, S. 17 (wie Anm. 20).

[29] Vgl. ebd.

[30] Siehe die Reuters-Meldung in Süddeutsche Zeitung, 8.10.2020: „So viel Börsengänge wie seit 20 Jahren nicht“.

[31] Vgl. als Hintergrund den Konjunkturbericht des IWF vom Oktober 2020, online unter: https://www.imf.org/en/Publications/WEO/weo-database/2020/October (zuletzt aufgerufen am 7.11.2020).

[32] Vgl. den Bericht der Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit Algorithm Watch: Fabio Chiusi: „Introduction“, in: Automated Decision-Making Systems in the COVID-19 Pandemic: A European Perspective, 1 September, 2020, online unter: https://algorithmwatch.org/en/project/automating-society-2020-covid19/ (abgerufen am 17.08.2021).

[33] Vgl. ebd., S. 4 f. Apple und Google haben ihre Betriebssysteme dahingehend erweitert, dass die Anzeige einer „Risikobegegnung“ auch ohne die Installation einer Corona-Warn-App funktioniert. Beide Softwareunternehmen beteuern, dass keine Standortdaten gesammelt werden, baten aber im Juli 2020 die Nutzer*innen noch immer darum, GPS einzuschalten (vgl. ebd. S. 10).

[34] Die US-amerikanische NGO, Freedom House, hat festgestellt, dass im Zuge der Pandemie in vielen Ländern Gesetze zur Eindämmung von vermeintlich falschen Nachrichten sehr repressiv angewandt wurden. In mindestens 13 Ländern sei das Internet zumindest zeitweise abgeschaltet worden. In mindestens 30 Ländern finden Überwachsungsmaßnahmen in direkter Partnerschaft mit Telekommunikationsunternehmen statt. In Ungarn beispielsweise wurde ein Mann wegen „Panikmache“ inhaftiert, der Viktor Orbán auf Facebook wegen dessen Corona-Politik einen „grausamen Tyrannen“ nannte (vgl. Freedom House, Democracy under Lockdown. The Impact of COVID-19 on the Global Struggle for Freedom, online unter: https://freedomhouse.org/sites/default/files/2020-10/COVID-19_Special_Report_Final_.pdf (zuletzt abgerufen am 17.08.2021). Zum Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie im Zuge der Covid-19 Pandemie in China, Russland, Indien oder Südkorea, siehe Chiusi, „Introduction“, S. 5 f. (wie Anm. 32).

[35] Die GPS-Technologie ist keineswegs sicher und zuverlässig. Sie funktioniert nur in Außenräumen, der exakte Standort schwankt zwischen fünf und zwanzig Metern; zudem werden die GPS-Funksignale in der Nähe von großen Gebäuden, in größeren Städten und bei schlechtem Wetter wie Gewitter und Schneestürmen irritiert. Vgl. ebd., S. 12; siehe auch die Literaturauswertung von Isobel Braithwaite, Thomas Callender, Miriam Bullock und Robert W. Aldridge, “Automated and partly automated contact tracing: a systematic review to inform the control of COVID-19”, The Lancet (2020), online unter: https://www.thelancet.com/journals/landig/article/PIIS2589-7500(20)30184-9/fulltext (zuletzt abgerufen am 17.08.2021).

[36] Vgl. Chiusi, „Introduction“, S. 6 (wie Anm. 32). Anti-Corona-Armbänder werden vor allem außerhalb Europas zur Durchsetzung von Quarantäneanordnungen und anderen Einschränkungen eingesetzt, wie in Singapur, Hongkong, Saudi-Arabien, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (vgl. ebd.).

[37] Zu den aktuellen EU-Empfehlungen zu Tracking-Apps und Datenschutz siehe https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/coronavirus-response/digital-solutions_de (zuletzt abgerufen am 17.08.2021).

[38] Vgl. Chiusi, „Introduction, S. 8 (wie Anm. 32).

[39] In den Reklame-Screens am Piccadilly Circus in London wurden ebenso Gesichtserkennungskameras gesichtet wie in Manchester, Nottingham und Birmingham. Sie wurden dazu genutzt, Anzeigen „passend zum Alter, Geschlecht, aber auch zur Stimmung auf den Gesichtern der Menschen zu schalten“ (Bernd Graf, „Die Anonymität der Zebrafinken“, in: Süddeutsche Zeitung, 10.8.2020, S. 9). Für das Betreiben solcher Kameras in Shopping Malls, Museen oder Stadien werden zumeist Sicherheitsgründe angegeben. Flughäfen sind schon länger Hotspots für solche Geräte.

[40] Vgl. Chiusi, „Introduction, S. 13-15 (wie Anm. 32).

[41] Vgl. Graf, „Die Anonymität der Zebrafinken“ (wie Anm. 39).

[42] In China sind laut einem Bericht von Freedom House Menschen zur Überwachung der Quarantäne sogar aufgefordert werden, in ihren Wohnungen oder vor ihren Häusern intelligente Gesichtserkennungskameras zu installieren. Auch die russische App, die Daten mit Behörden teilt, verlangt in unregelmäßigen Abständen Selfies der Nutzer*innen, zum Beweis der Einhaltung der Quarantäne. Hier handelt es sich keineswegs nur um Technologie- und Überwachsungsentwicklungen in autoritären Staaten (vgl. Freedom House, Democracy under Lockdown. The Impact of COVID-19 on the Global Struggle for Freedom (2020), online unter: https://freedomhouse.org/sites/default/files/2020-10/COVID-19_Special_Report_Final_.pdf (zuletzt abgerufen am 17.08.2021).

[43] Siehe hier auch die Dokumentation des Projekts Logistical Worlds. Infrastructure, Software, Labour, online unter: https://logisticalworlds.org/ (zuletzt abgerufen am 17.08.2021); sowie Brett Neilson, Ned Rossiter und Ranabir Samaddar (Hg.), Logistical Asia. The Labour of Making a World Region, London 2018.

[44] Siehe zu diesem Wandel von Arbeit im Neoliberalismus unter anderem Paolo Virno, Grammatik der Multitude, Wien 2005; Isabell Lorey, „Gefangen im Jetzt. Prekäres in der politischen Gegenwart“, in: Agora 42. Das philosophische Wirtschaftsmagazin (2020), 4, S. 13-16.

[45] „Kinderbetreuung in Corona-Zeiten: Auch bei gleicher beruflicher Belastung betreuen Mütter häufiger allein als Väter“ stellt das Nationale Bildungspanel NEPS des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe in Bamberg in seiner Studie vom 13.10.2020 fest (online unter: https://www.neps-data.de/Neuigkeiten/Archiv/udt_1582_param_detail/20458 (zuletzt abgerufen am 17.08.2021)

[46] rbb24, „Der große Run auf das kleine Grün,“ (2020), online unter: https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2020/09/kleingaerten-in-berlin-brandenburg.html (zuletzt abgerufen am 17.08.2021).

[47] Vgl. zu humanoiden Robotern in der Sextechnologie und den damit einhergehenden Praxen von misogyner Gewalt bis zu Kinderpornographie Boris Hänssler, „Karriere der Sexroboter“, in: Süddeutsche Zeitung, 9.7.2020.

[48] Der moderne Städtebau ist – wie der Umbau von London nach der Pest und dem verheerenden Brand von 1666 sowie der Umbau von Paris und anderen Städten nach den Cholera-Ausbrüchen der 1830er Jahren zeigen – ein Effekt von Hygienemaßnahmen.

[49] Malu Dreyer, „Das ist kein Kuddelmuddel“, Interview mit der Süddeutschen Zeitung, 17./18.10.2020.

[50] Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer, Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II, Berlin 2020.