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03 2022

Gegen den Krieg. Für eine europäische Versammlung

Collettivo Euronomade

Übersetzt von Gerald Raunig

1. Und schließlich der Krieg. Wir hatten gedacht, die Pandemie sei ein Punkt ohne Wiederkehr, Beschleunigung einer Reihe von Prozessen, die schon seit einiger Zeit stattfanden – die immer engere Verbindung zwischen der Digitalisierung und der Finanzialisierung der Wirtschaft, um nur ein Beispiel zu nennen –, hin zu einer abrupten Neuausrichtung und gewaltsamen Synchronisierung der Ausbeutungs- und Herrschaftsformen, die den globalen Kapitalismus ausmachen. Doch noch bevor die Pandemie vorbei war, hat sich der Krieg zu ihr gesellt. Ein Krieg, der in Europa geführt wird, dessen Einsatz aber weit über die Grenzen dessen hinausgeht, was wir immer noch den "alten Kontinent" nennen. Die tektonischen Verschiebungen in der Weltordnung, die sich ebenfalls seit einiger Zeit vollziehen, treffen vor allem Mittel- und Osteuropa, den Schauplatz einiger der schrecklichsten Tragödien des Zweiten Weltkriegs, mit voller Wucht.

2. Der aktuelle Krieg ist ein Angriffskrieg. Die Bombardierung ukrainischer Städte, die Massenflucht der Zivilbevölkerung, die Angst und der Schrecken derer, die in Kellern und Untergeschossen Zuflucht suchen, können uns nicht gleichgültig sein. Wir sind gegen Putins neoimperiale Pläne, an der Seite der Menschen, die ihn jeden Tag auf den Straßen der russischen Städte herausfordern, der Feminist_innen und LGBTQI-Aktivist_innen, der Arbeiter_innen, die sich gegen das Elend der kapitalistischen Wirtschaft auflehnen, die auf der Rendite und Förderung engstirniger Oligarchien beruht. Wir lehnen die Mystifizierung einer russischen "Zivilisation" ab, die von Natur aus patriarchalisch und feindselig gegenüber Freiheit und Gleichheit wäre, zementiert durch die bunten Amulette der orthodoxen Kirche und eine starre kriegerische Ethik. Gehen wir noch weiter: Von "Zivilisation" und "Werten" als Grundlage von Politik und Zugehörigkeit wollen wir überhaupt nichts hören, ob diese Attribute nun auf große imperiale Räume oder auf die Ebene der Nation projiziert werden. Wir sind gegen jeden Nationalismus, weil wir die Blutspur kennen, die er in der Geschichte hinterlassen hat, und weil wir wissen, dass der Nationalismus per Definition nicht nur eine sehr enge Verbindung mit den rassistischen Hierarchien und der patriarchalischen Ordnung hat, sondern auch dazu neigt, Räume für den Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu schließen.

3. Wir wissen aber auch, dass die Zeit des Kriegs die Zeit des Nationalismus ist. In einer nun vollständig multipolaren Welt kann sich der Nationalismus weit über die Bruchlinie hinaus ausbreiten, um die der Kampf in der Ukraine geführt wird, sowohl nach Westen als auch nach Osten. Die Dynamik eines Bürgerkriegs nach syrischem Vorbild kann zum Beispiel auf den Balkan, den Kaukasus und Zentralasien ausstrahlen. Was heute wirklich zählt, sind die großen kontinentalen Räume wie die USA und China, in denen, wenn auch in unterschiedlicher Form, der Kampf um eine reifere und egalitärere Form der Kooperation nie aufgehört hat. Der Krieg kann diesen Kampf in nationalistischer Rhetorik komprimieren, während das Risiko von Spannungen und militärischen Zusammenstößen zwischen Polen, die weit davon entfernt sind, so etwas wie eine "Weltordnung" zu bilden, eindeutig sehr hoch ist. Aus diesem Grund ist der Kampf für den Frieden heute eine Priorität für all jene, die in irgendeinem Teil der Welt für Gleichheit und Freiheit kämpfen. Und dieser globale Horizont, der die spezifische Intensität von Konflikten relativiert und keineswegs ausschließt, muss das politische Handeln auf allen Ebenen – auch auf der lokalen – prägen. Drücken wir es so aus: Im Krieg in der Ukraine geht es heute um die Form, die die Architektur der Weltmächte in den kommenden Jahrzehnten annehmen wird. Und je mehr wir in der Lage sind, aus dem Krieg zu desertieren, desto mehr wird diese Architektur entschärft – das heißt, sie wird offen für die Bewegungen und Kämpfe, die Wünsche und Forderungen der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Die Zeit, um dieses Terrain zu kämpfen, ist gekommen.

4. Wenn die Zeit also jetzt ist, kann der Raum für uns, die wir in diesem Teil der Welt leben, nur Europa sein. Spätestens seit Anfang der 1990er Jahre haben große soziale Bewegungen den europäischen Raum wesentlich geprägt – Bewegungen für Freizügigkeit und Kommunikationsfreiheit, für ausreichendes Einkommen und für Frieden. Natürlich haben diese Bewegungen die europäische Politik radikal in Frage gestellt: Sie haben gegen die Haltung Europas zu den verheerenden Jugoslawienkriegen gekämpft, gegen die ungeheure Gewalt des Kontrollregimes an den "Außengrenzen", gegen die Sparpolitik etc. Was uns betrifft, so haben wir immer jegliche Nostalgie für den Nationalstaat abgelehnt und betont, dass der europäische Staat als ein zentraler Raum des Kampfes erprobt werden muss. Wir können dies heute, in Zeiten eines Kriegs, der auch ein europäischer Krieg ist, nur wiederholen. Und dennoch: Es ist nicht zu übersehen, wie sich der Krieg als konstituierendes Prinzip im Inneren der Europäischen Union selbst durchsetzt. Die Aufrüstung, die sich als globaler Trend abzeichnet, wird zum Kriterium, nach dem die nationalen und EU-Haushalte umgestaltet werden. Die "Eventualitäten", die der Plan der Next Generation EU (in Richtung eines möglichen Umbaus der Sozialsysteme) in gewisser Weise enthielt, weichen dem klassischen "Kriegskeynesianismus ". Der "Green New Deal", der auf der Agenda des europäischen Kapitals selbst zu stehen schien, scheint angesichts des Imperativs einer auf fossilen und nuklearen Quellen basierenden Energiesouveränität schon wieder vergessen. Und schließlich: Nach dem Krieg gewinnt das gemeinsame europäische Verteidigungsprojekt an Dynamik, mit der Aussicht auf eine operative und politische Unterordnung unter die NATO. Unter diesem Gesichtspunkt findet die Ende der 1990er Jahre begonnene Osterweiterung ihre Krönung darin, dass die Konflikte, die sich um die Frage der Rechtsstaatlichkeit mit den Visegrád-Ländern und insbesondere mit Polen aufgetan hatten, im Stillschweigen untergehen. Und leider haben wir eine Gewissheit: Die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge wird, zumindest in den Plänen der herrschenden Klassen, nichts ändern am Rahmen der kriminellen europäischen Politik gegenüber denjenigen, die vor anderen Kriegen über das Mittelmeer oder die "Balkanroute" fliehen.

5. Wenn die Zeit reif und der Raum europäisch ist, wird eine Form der auch nur vorläufigen Analyse der europäischen Gesellschaften notwendig. Der Krieg hat Gesellschaften getroffen, für die es nach zwei Jahren Pandemie nicht ausreicht, sie als erschöpft und zerrüttet zu bezeichnen. Es ist sicherlich nicht möglich, Entwicklungen und Trends, die sich auf sehr heterogene Gesellschaften ausgewirkt haben, in wenigen Zeilen zusammenzufassen. Man kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass Europa verarmt und in den grundlegenden Strukturen des "sozialen Zusammenhalts" auf die Probe gestellt aus der Pandemiekrise hervorgegangen ist. Der Prozess der Aushöhlung sozialer Garantien und Schutzmaßnahmen hat sich weiter beschleunigt, ebenso die Prekarisierung der Arbeit. Diese Prozesse haben nicht nur einzelne Arbeitsplätze betroffen, sondern die abhängige und ausgebeutete Arbeit insgesamt, einschließlich eines großen Teils der Fabrikarbeit. In Sektoren, die von der Pandemie besonders betroffen sind – z. B. in der Logistik und in der Landwirtschaft – gibt es besonders ausgeprägte Formen der Selbstorganisation und des Kampfes für die nahe Zukunft. Sicher ist auf jeden Fall, dass es ohne einen allgemeinen Aufstand der Arbeiter_innenschaft in Europa nicht möglich sein wird, den Krieg wirksam zu bekämpfen und ein politisches Projekt zur Veränderung der bestehenden Situation aufzunehmen. In den letzten Jahren haben drei große Bewegungen den europäischen Raum durchzogen, die in einem viel größeren Maßstab agieren: die Bewegung der Migrant_innen, die feministische Bewegung und die Bewegung gegen den Klimawandel. Diese Bewegungen stellen auf unterschiedliche Weise das Terrain der Arbeit in Frage und gehen darüber hinaus – sie ermöglichen es uns, ihre tiefgreifendsten und innovativsten Transformationen zu erfassen und neue Kampffelder abzustecken. Für uns sind sie die Grundvoraussetzung, um hier und jetzt über eine europäische Politik der Freiheit und Gleichheit nachzudenken.

6. Was also tun? Wir wiederholen diese Frage in einer dunklen Zeit, in der die unerträglichen Bilder des Kriegs über uns hängen. Eines Kriegs, der alles verändert. Es ist nicht mehr möglich, die Worte der letzten Jahre zu wiederholen, nicht einmal die, die wir wiederholt haben. Der Kampf gegen den Krieg, dessen Logik auf der materiellen Ebene und auf der Ebene der "Bilder" wir deaktivieren müssen, zwingt uns, uns in einer Welt – und, was uns betrifft, in einem europäischen Raum – zu positionieren, die sich radikal verändert hat. Bewegungen und Parteien, künstlerische Praxen und Medienplattformen, Gewerkschaften und Verbände: Wir müssen uns zunächst einmal treffen. Und dann müssen wir alle zusammen eine große Kampagne starten, um Europa zu einem Raum des Kriegsverbots zu machen, einem Raum, in dem die Mechanik der sozialen Kräfte, die Kämpfe und Bewegungen, die seine Verfassung bestimmen, gegen die Möglichkeit des Krieges selbst agieren, indem sie vor allem die Aufrüstung ablehnen und als eine Kraft für den Frieden auf globaler Ebene handeln. Wir wissen sehr wohl, dass dies nicht der aktuelle Trend ist. Dies ist ein Grund mehr, mit der Organisation zu beginnen. Wir wiederholen: Die Zeit ist jetzt, der Raum ist Europa. Lasst uns gemeinsam in einer unmittelbar transnationalen Dimension das Komitee zur Initiierung einer großen europäischen Versammlung aufbauen. Ein neuer gemeinsamer Raum ist notwendig und möglich.