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05 2007

Durch Wände gehen

Eyal Weizman

Übersetzt von Jens Kastner

Das von Einheiten der israelischen Armee während des Angriffs auf die Stadt Nablus im April 2002 durchgeführte Manöver wurde von seinem Befehlshaber, Brigadegeneral Aviv Kochavi, als „inversive Geometrie“ beschrieben. Er erklärte diese zur „Re-Organisation“ der urbanen Syntax mit den Mitteln einer Serie von mikrotaktischen Aktionen. Während des Angriffes bewegten sich die Soldaten innerhalb der Stadt wie durch hundertmeterlange „oberirdische Tunnel“, die durch eine dichte und zusammenhängende städtische Textur geschlagen wurden. Sie waren dermaßen in diese Textur verwoben, dass die meisten von ihnen zu keinem Zeitpunkt von oben aus zu sehen waren, obwohl sich zeitgleich mehrere Tausend Soldaten und Hunderte von palästinensischen Guerilla-KämpferInnen durch die Stadt bewegten. Darüber hinaus benutzten die Soldaten selten die Straßen, Wege, Durchgänge oder Innenhöfe, die die Syntax der Stadt ausmachen, und ebenso selten die Eingangstüren, Innentreppen und Fenster, aus denen sich die Ordnung der Gebäude zusammensetzt, sondern bewegten sich eher horizontal durch Wohnungstrennwände und vertikal durch Löcher, die in Decken und Böden gesprengt worden waren. Diese Form der Bewegung ist Teil einer Taktik, mit der das Militär sich auf Metaphern aus dem Tierreich wie „Ausschwärmen“ oder „Befallen“ bezieht. Indem sie sich durch häusliche Interieurs bewegen, machen diese Manöver das Außen zum Inneren und den privaten Bereich zu Durchfahrstraßen. Die Kämpfe fanden in halb zerstörten Wohnzimmern, Schlafzimmern und Fluren von schlecht gebauten Flüchlingshäusern statt, in denen vielleicht der Fernseher noch lief und der Topf noch auf dem Herd stand. Anstatt sich der Autorität der konventionellen räumlichen Grenzen zu fügen, wurde Bewegung hier konstitutiv für den Raum und der Raum wurde als Ereignis konstituiert. Es war nicht die Ordnung des Raumes, die die Modelle der Bewegung bestimmte, sondern die Bewegung, die den Raum um sich herum produzierte und praktizierte. Die dreidimensionale Bewegung kreuz und quer durch Wände, Decken und Böden der Großstadt hindurch schloss die architektonische und die städtische Syntax kurz, reinterpretierte sie und setzte sie neu zusammen. Die Taktik des „Durch-Wände-Gehens“ beinhaltet ein Konzept der Stadt, das diese nicht einfach als Ort, sondern als das Medium der Kriegsführung selbst betrachtet – als flexible, beinahe flüssige Angelegenheit, die immer kontingent und im Fluss ist.

***

Laut dem Geographen Stephen Graham hat sich seit Ende des Kalten Krieges ein enormes internationales „intellektuelles Feld“ herausgebildet, das er „Schattenwelt der militärischen Stadtforschungsinstitute und Trainingzentren“ nennt. Aufgabe dieser „Schattenwelt“ ist es, militärische Operationen im Stadtgebiet neu zu durchdenken.[1] Dies ist als Antwort auf die Urbanisierung der Aufstände zu verstehen. Die expandierenden Netzwerke dieser „Schattenwelten“ umfassen nicht nur Schulen, Stadtforschungsinstitute und Trainingszentren, sondern auch Mechanismen des Wissensaustausches zwischen verschiedenen Militärs. Dazu zählen Konferenzen, Workshops und gemeinsame Einsatzübungen. In ihrem Bestreben, das urbane Leben zu verstehen, nehmen die Soldaten – die urbanen Fachleute von heute – Crash-Kurse in Hauptthemengebieten wie städtische Infrastruktur, Analyse komplexer Systeme, strukturelle Stabilität und Gebäudetechnik, und sie beziehen sich ebenso auf eine Vielzahl von Theorien und Methodologien, die innerhalb der gegenwärtigen zivilen Akademie entwickelt worden sind. Auf diese Weise entsteht eine neue Beziehung zwischen drei miteinander in Wechselverhältnissen stehenden Komponenten: bewaffneten Konflikten, der gebauten Umwelt und jener theoretischen Sprache, die dazu entwickelt wurde, sie zu konzeptualisieren.

Dem globalen Trend des letzten Jahrzehnts folgend, etablierten die Israelischen Verteidigungskräfte (Israel Defense Forces, IDF) eine ganze Reihe von Instituten und Think Tanks auf verschiedenen ihrer Kommandoebenen. Diese wurden mit der Aufgabe betraut, strategische, taktische und organisatorische Antworten auf die brutalen Polizeieinsätze zu finden, die als „schmutziger Krieg“ oder „Krieg niederer Intensität“ bekannt geworden waren. Zu den beachtenswerten darunter gehören das 1996 gegründete Operational Theory Research Institute (OTRI) und das „Alternative Team“, 2003 gegründet.[2] Diese Institute setzten sich nicht nur aus Offizieren, sondern auch aus zivilen HochschullehrerInnen und TechnikexpertInnen zusammen. Zwei der diesen Instituten angehörigen Hauptfiguren, Shimon Naveh, ein pensionierter Birgadegeneral und Direktor des OTRI, und Aviv Kochavi, ein aktiver Offizier, werden im Folgenden ausführlich zitiert.

 
Inverse urbane Geographie

Die Taktiken des „Durch-Wände-Gehens“, die die Militärs bei ihren urbanen Attacken auf Flüchtlingslager anwandten, waren kein Ergebnis der theoretischen Einflüsse, sondern sie waren eine Möglichkeit, in die vorher „undurchdringlichen“ Flüchtlingscamps einzudringen. Aviv Kochavi, damals Kommandeur der Fallschirmjäger-Brigade, legte die Prinzipien dar, auf denen die Angriffe auf die Flüchtlingslager von Batala und die benachbarte Altstadt von Nablus (Kasbah) basierten:

 „Dieser Raum, den Sie hier sehen, ist nichts weiter als Ihre Interpretation davon. Nun können Sie die Grenzen ihrer Interpretation ausdehnen, aber nicht unbegrenzt, letztlich muss sie an die Physik gebunden bleiben, so wie sie Gebäude und Wege beinhaltet. Die Frage lautet: Wie interpretieren Sie einen Weg? Interpretieren Sie den Weg, wie alle Architekten und alle Stadtplaner es tun, als einen Ort, den man durchquert, oder interpretieren Sie den Weg als einen Ort, den man nicht durchqueren darf. Das hängt einzig und allein von Ihrer Interpretation ab. Wir interpretierten den Weg als einen Ort, den wir nicht durchqueren dürfen, und die Tür als einen Ort, durch den wir nicht hindurch gehen dürfen, und das Fenster als etwas, durch das wir nicht hindurch gucken dürfen, denn in der Straße erwartet uns eine Waffe und eine Sprengfalle erwartet uns hinter der Tür. Das liegt daran, dass der Feind den Raum in traditioneller, klassischer Weise interpretiert, und ich möchte dieser Interpretation nicht folgen, um dann in seine Falle zu tappen. Ich möchte nicht nur nicht in seine Fallen tappen, sondern ich möchte ihn überraschen! Dies ist das Wesen des Krieges. Ich muss gewinnen. Ich muss von einem unerwarteten Ort aus auftauchen. Und das haben wir versucht.

Aus diesem Grund haben wir uns für die Option Durch-Wände-Gehen entschieden. […] Wie ein Wurm, der sich seinen Weg vorwärts freifrisst, an einem Punkt auftaucht und dann wieder verschwindet. So konnten wir uns vom Inneren der Wohnungen auf überraschende Art und Weise zum Äußeren und an Orten bewegen, an denen wir nicht erwartet wurden. Wir kamen von hinten und schlugen den Feind, der hinter einer Ecke auf uns gewartet hatte. […] Weil es das erste Mal war, dass diese Methode [in dieser Größenordnung] erprobt wurde, haben wir während des Einsatzes gelernt, uns an den relevanten städtischen Raum anzupassen und in ähnlicher Art und Weise den relevanten städtischen Raum unseren Bedürfnissen anzupassen. […] Wir nahmen diese mikrotaktische Praxis [des Durch-Wände-Gehens] und verwandelten sie in eine Methode. Dank dieser Methode waren wir dann dazu in der Lage, den gesamten Raum anders zu interpretieren! […] Ich sagte zu meinen Truppen: ‚Freunde! Ihr habt keine Wahl! Es gibt keine andere Möglichkeit, sich zu bewegen! Wenn ihr bislang daran gewöhnt wart, euch entlang von Straßen und Bürgersteigen zu bewegen, vergesst es! Von nun an gehen wir durch Wände!‘“[3]

Wenn die Militärs es als „humane“ Antwort auf die mutwillige Zerstörung der traditionellen urbanen Kriegsführung herausstellen, durch Wände zu gehen, und dies als eine „elegante“ Alternative zur Jenin-mäßigen städtischen Zerstörung darstellen können, dann nur deshalb, weil der Schaden, den es anrichtet, oft im Inneren der Wohnungseinrichtungen verborgen bleibt. Das unerwartete Eindringen des Krieges in die private Domäne der Wohnung wurde, wie auch im Irak, von PalästinenserInnen als die gründlichste Form des Traumas und der Demütigung erfahren. Seitdem palästinensische Guerilla-KämpferInnen sich selbst durch Wände und vorweg geplante Öffnungen bewegen, finden die meisten Kämpfe innerhalb von Wohnungen statt. Manche Gebäude werden dabei zu einer Art Schichtkuchen, mit israelischen Soldaten oben und unten und mit einer Lage in der Falle sitzender PalästinenserInnen dazwischen.

Städtische Kriegsführung hängt in wachsendem Maße von Technologien ab, die zu dem Zweck entwickelt wurden, die Wände zu ent-wänden [„un-walling of the wall“], um einen Begriff von Gordon Matta-Clark zu benutzen. In Ergänzung zu militärischen Taktiken, die die physikalische Durchbrechung von und das Gehen durch Wände beinhalten, sind zugleich neue Methoden entwickelt worden, die es Soldaten erlauben, nicht nur durch feste Wände hindurch zu sehen, sondern auch durch sie hindurch zu schießen und zu töten. Die israelische Firma Camero hat einen tragbaren Sichtungsapparat entwickelt, der wärmetechnische Abbildungen mit Ultra-Breitband-Radar kombiniert, das es ähnlich wie gegenwärtige Schwangerschafts-Ultraschallgeräte ermöglicht, dreidimensionale Wiedergaben von hinter Mauern verstecktem, biologischem Leben zu erzeugen.[4]

Die dem NATO-Standard entsprechenden Waffen mit 5,56-mm-Geschossen wurden ergänzt durch 7,62-mm-Geschosse, mit denen man durch Stein, Holz und Lehmziegel schießen kann, ohne dass die Kugel groß umgelenkt wird. Geräte von „buchstäblicher Transparenz“ sind die Hauptkomponenten bei den Versuchen, eine geisterhafte (oder computerspielmäßige) militärische Phantasiewelt ungebundener Fluidität zu errichten, in der der Raum der Stadt so durchschifft werden kann wie ein Ozean. In ihrem Bemühen, auf das blicken zu können, was hinter Mauern und Wänden versteckt ist, sich durch sie hindurch zu bewegen und Munition durch sie hindurch zu jagen, scheint es, als habe das Militär – indem es sich durch mehr oder weniger zeitgenössische Theorie legitimierte – die zeitgenössischen Technologien auf die Ebene der Metaphysik gehoben: danach trachtend, sich über das Hier und Jetzt der physischen Realität hinaus zu bewegen und Zeit und Raum zusammenbrechen zu lassen.

 
Akademie des Straßenkampfs

Shimon Naveh, eine pensionierter Brigadegeneral, war bis Mai 2006 Co-Direktor des Operational Theory Research Institute. In einem Interview, das ich mit ihm führte, erklärte Naveh die Ziele des Instituts: „[Der Einsatz in] Jenin war ein kompletter Misserfolg für die IDF, der Schaden, den diese Zerstörung den IDF zugefügt hat, ist größer als der, den wir den Palästinensern [sic] beigebracht haben. Der Einsatz wurde von extrem unerfahrenen Offizieren geleitet, die einfach in Panik gerieten und zu denken aufhörten.“ Er schlug vor, dass die IDF den Ansatz weiter verfolgen sollten, den sie in Nablus und Balata angewandt hatten. Er sah seine Arbeit darin, die „Aktionen der IDF effizienter, gewiefter […] und auf diese Weise humaner zu machen“. Er fasste die Mission des Instituts folgendermaßen zusammen: „Wir sind wie der Jesuitenorden. Wir versuchen, das Denken der Soldaten zu unterrichten und auszubilden.“ Hinsichtlich der Theorien, die das Institut anwendet, sagte er: „Wir lesen Christopher Alexander […], können Sie sich das vorstellen? Wir lesen John Forester […]. Wir lesen Gregory Bateson, wir lesen Cliffort Geertz. Nicht nur ich, sondern unsere Soldaten und unsere Generäle reflektieren solche Art von Material. Wir haben eine Schule eingerichtet und einen Lehrplan entwickelt, die ‚Einsatzarchitekten‘ [operational architects] ausbilden.“

In einer Vorlesung, der ich beiwohnte, präsentiert Naveh ein Diagramm, das einem „Quadrat von Gegensätzen“ ähnelte und eine Reihe von logischen Verbindungen zwischen bestimmten, auf Militär- und Guerillaeinsätze bezogenen Behauptungen verzeichnete. Bezeichnungen wie Differenz und Wiederholung – Die Dialektik von Strukturierung und Struktur; „formlose“ rivalisierende Entitäten; fraktales Manöver; schlagartige Überfälle; Geschwindigkeit vs. Rhythmus; Wahhabi-Kriegsmaschine; postmoderne AnarchistInnen; nomadische TerroristInnen usw. wandten die Sprache der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari an.

In dem Interview fragte ich Naveh: „Warum Deleuze und Guattari?“ Und er antwortete:

 „Viele der Konzepte in Tausend Plateaus wurden hilfreich für uns […], sie erlaubten es uns, gegenwärtige Situationen in einer Art und Weise zu erklären, die uns ansonsten unerklärlich geblieben wären. Es problematisierte unsere eigenen Paradigmen […]. Am wichtigsten für uns war die Unterscheidung, die sie zwischen ‚glattem‘ und ‚gekerbtem‘ Raum getroffen haben [und die sich wiederum] in den organisatorischen Konzepten der ‚Kriegsmaschine‘ und des ‚Staatsapparates‘ [spiegeln] […]. In den IDF benutzen wir nun häufig den Begriff ‚den Raum glätten‘ [to smooth out space], wenn wir uns auf einen Einsatz im Raum beziehen, als hätte er keine Grenzen. Wir versuchen den Einsatzort auf eine Art und Weise zu produzieren, dass Grenzen uns nicht beeinflussen. Palästinensische Gebiete könnten sicherlich insofern als ‚gekerbt‘ gedacht werden, als sie von Zäunen, Mauern, Gräben, Straßensperren etc. umgeben sind […]. Wir wollen dem ‚gekerbten‘ Raum der traditionellen, altmodischen militärischen Praxis [mit der die meisten Militäreinheiten heute operieren] mit einer Glätte begegnen, die uns die Bewegung durch den Raum ermöglicht und alle Grenzen und Barrieren überwindet. Anstatt unsere Streitkräften gemäß existierender Grenzen zu kontrollieren und zu organisieren, geht es uns darum, diese Grenzen zu durchqueren.“

Naveh hat gerade die Übersetzung einiger Kapitel aus Bernard Tschumis „Architecture and Disjunction“ ins Hebräische abgeschlossen. Zusätzlich zu diesen theoretischen Positionen sind solche kanonischen Elemente urbanistischer Theorie wie die Situationistischen Praktiken des dérive und détournement seine Bezugspunkte. Diese Ideen waren im Kontext allgemeiner Ansätze konzipiert worden, die darauf ausgerichtet waren, die gebaute Hierarchie der kapitalistischen Stadt in Frage zu stellen. Sie hatten es darauf abgesehen, die Unterscheidungen zwischen privat und öffentlich, innen und außen, Nutzen und Funktion einzureißen und den privaten Raum durch eine „grenzenlose“ öffentliche Oberfläche zu ersetzen. Naveh bezog sich ebenfalls auf Georges Bataille, der auch von dem Wunsch gesprochen hatte, die Architektur anzugreifen: Sein Ruf zur Waffe zielte darauf ab, den rigiden Rationalismus der Nachkriegsordnung zu diskreditieren, der „architektonischen Zwangsjacke“ zu entfliehen und die unterdrückten menschlichen Wünsche zu befreien. Obwohl sie ein Spektrum sehr verschiedener Positionen und Epochen repräsentieren, ging es sowohl Bataille, als auch den SituationistInnen und Tschumi darum, die repressive Macht der bürgerlichen Stadt mit neuen Strategien der Durchquerung und Durchkreuzung zu untergraben.

Diese Ideen und Taktiken spiegelten ein allgemeines Vertrauensdefizit gegenüber den staatlichen Strukturen in Bezug auf ihre Kapazitäten, die Demokratie zu schützen oder zu befördern. Die nicht-staatlichen Mikropolitiken dieser Zeit repräsentierten auf vielfältige Arten und Weisen die Bemühungen, eine mentale und affektive Guerilla auf den intimen Ebenen des Körpers, der Sexualität und der Intersubjektivität zu konstituieren, ein Individuum, in dem das Persönliche subversiv politisch wurde. So boten diese theoretischen Positionen eine Strategie des Rückzugs vom formalen Staatsapparat in den privaten Bereich. Während diese Taktiken als Übertretung der etablierten „bürgerlichen Ordnung“ der Stadt verstanden wurden, wobei das architektonische Element der Wand – häuslich, städtisch oder geopolitisch – als Verkörperung sozialer und politischer Repression gesehen wurde, werden die durch jene Denker inspirierten Taktiken in den Händen israelischer Militärs zur Grundlage für Angriffe auf die „feindliche“ Stadt. Eine geisteswissenschaftliche Bildung – oft für eine der mächtigsten Waffen gegen den Imperialismus gehalten – wurde hier als ein machtvolles Werkzeug für koloniale Machtausübung angeeignet.

All dies wurde hier nicht skizziert, um diese Theorie, ihre Erfinder oder die Reinheit ihrer Absichten zu beschuldigen oder einen anti-theoretischen Ansatz anzupreisen, sondern in dem Bemühen, unsere Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit zu richten, dass, wie Herbert Marcuse behauptet hat, mit der wachsenden Integration der vielen verschiedenen Aspekte der Gesellschaft „Widerspruch und Kritik“ gleichermaßen subsumiert und durch die hegemoniale Macht als instrumentelles Werkzeug operativ gemacht werden können – in diesem Fall poststrukturalistische und sogar postkolonialistische Theorie durch den kolonialen Staat.[5]

 
Ausschwärmen

Laut Naveh ist eine zentrale Kategorie in den Konzeptionen der IDF zu den neuen urbanen Einsätzen das „Ausschwärmen“. Es bezieht sich auf eine koordinierte gemeinsame Aktion, die von einer netzwerkartigen Organisationsform unternommen wird, deren einzelne Einheiten alle halb-autonom, aber in allgemeiner Synergie mit allen anderen operieren. Die Theoretiker des Unternehmens RAND, denen die Popularisierung der militärischen Implikationen des Begriffes zugeschrieben wird, David Ronfeldt und John Arquilla, stellen heraus, dass das Ausschwärmen historisch in der Kriegsführung nomadischer Stämme angewandt wurde und gegenwärtig bei verschiedenen Organisationen quer durch das Spektrum sozialer und politischer Konflikte zur Anwendung gelangt, so beispielsweise bei TerroristInnen und Guerilla-Organisationen und bei kriminellen Mafiosi ebenso wie bei gewaltfreien sozialen AktivistInnen.[6]

In unserem Interview erklärte Kochavi, wie die IDF das Konzept verstehen und anwenden: „Eine staatliche Armee, deren Feind wie ein Netzwerk lose organisierter Gangs zerstreut ist, […] muss sich selbst vom alten Konzept der geraden Linien, Einheiten in linearer Formation, Regimenter und Bataillonen befreien […] und muss selbst viel diffuser und zerstreuter werden, flexibel und schwarmartig. […] Tatsächlich muss es sich selbst der verstohlenen Fähigkeit des Feindes anpassen […]. Ausschwärmen ist in meinem Verständnis die gleichzeitige Ankunft am Ziel einer großen Anzahl von Knotenpunkten – wenn möglich von 360 Grad aus, […] die sich dann voneinander trennen und wieder zerstreuen.“ Laut Gal Hirsh erzeugt das Ausschwärmen ein „lautes Brummen“, das es für den Feind sehr schwer macht, zu wissen, wo das Militär sich befindet und in welche Richtung seine Bewegung verläuft.[7]

Die Grundannahme des Konfliktes niederer Intensität ist es, wie Arquilla und Ronfeldt formuliert haben, dass „es eines Netzwerks bedarf, um ein Netzwerk zu bekämpfen“[8]. So verstanden ist ein urbanes Gefecht nicht die Aktion einer lebendigen Streitkraft gegen eine leblose Masse, sondern der Zusammenprall zweier Netzwerke.[9] Indem sie sich aneinander anpassen, sich imitieren und voneinander lernen, treten die Guerilla und die Militärs in einen Kreislauf der „Ko-Evolution“ ein. Die militärischen Fähigkeiten entstehen aus der Beziehung zum Widerstand, der sich wiederum in Relation zur Transformation der militärischen Praktiken entwickelt. Allerdings sind die Behauptungen eines totalen Zusammenbruchs vertikaler Hierarchien in zeitgenössischen Armeen weit übertrieben. Hinter der Rhetorik der „Selbstorganisation“ und der „abflachenden Hierarchien“ sind militärische Netzwerke immer noch weitgehend innerhalb traditioneller institutioneller Hierarchien verankert. Das nicht-lineare Ausschwärmen wird am äußersten taktischen Ende eines inhärent hierarchischen Systems praktiziert.[10] Räumliche Nicht-Linearität ist deshalb gewährleistet, weil Israel immer noch alle linearen Versorgungslinien kontrolliert – die Straßen innerhalb der Westbank und die, die sie mit den großen Stützpunkten in Israel selbst verbinden, ebenso wie die Vielzahl an linearen Sperren, die entlang der Straßen errichtet worden sind. Darüber hinaus sind das „Ausschwärmen“ und das „Durch-Wände-Gehen“ vor allem dann erfolgreich, wenn der Feind relativ schwach, desorganisiert und kaum in der Lage ist, den Widerstand zu koordinieren, und insbesondere wenn die Überlegenheit in Technologie, Ausbildung und Schlagkraft klar auf der Seite des Militärs liegt. Während der Jahre der Intifada stellten sich die Besatzungstruppen ihre Angriffe auf schlecht bewaffnete Guerillas als „Schlachten“ vor und bliesen ihre Erfolge zu beachtlichen militärischen Leistungen auf.

Die Jahre, die sie damit verbrachten, erfolgreich die schwachen palästinensischen Organisationen anzugreifen, waren ohne Zweifel einer der Gründe für die Inkompetenz, die die gleichen israelischen Soldaten an den Tag legten, als sie 2006 den stärkeren, besser bewaffneten und gut ausgebildeten Hisbollah-Kämpfern im Libanon gegenüberstanden. Und tatsächlich waren die beiden am meisten in die Ereignisse des Sommers 2006 in Gaza und im Libanon involvierten Offiziere keine anderen als die zwei israelischen Militär-Absolventen des OTRI, die Veteranen der Angriffe auf Balata und Nablus 2002, Aviv Kochavi (Befehlshabender der Gaza-Division) und Gal Hirsh (Befehlshabender der Nord-Galiläa-Division 91). Kochavi, der den Angriff auf Gaza im Sommer 2006 befehligte, klebte an seiner verschleiernden Sprache: „Wir versuchten, auf der palästinensischen Seite ein Chaos zu erzeugen, um von einem Ort zum anderen springen zu können, das Gebiet zu verlassen und dann wieder aufzutauchen. […] Wir werden eher die Vorteile eines ‚Überfalls‘ ausnutzen als die der ‚Besatzung‘.“[11] Auch Hirsh forderte im Libanon „Überfälle statt Besatzung“ und befahl den erst neuerdings unter seinem Kommando stehenden Batallionen, die die von ihm benutzte Sprache des OTRI nicht gewohnt waren, „auszuschwärmen“ und das Gebiet „zu befallen“. Allerdings schienen seine untergebenen Offiziere nicht zu verstehen, was damit hätte gemeint sein können. Später wurde Hirsh für seine Arroganz, seinen Intellektualismus und seine Abgehobenheit kritisiert. Naveh selbst musste, über das Ergebnis sinnierend, im öffentlichen Fernsehen eingestehen: „Der Krieg im Libanon war ein Fehler und ich habe großen Anteil daran. Das, wozu ich die IDF veranlasst habe, war falsch.“

Das Chaos hingegen war auf der israelischen Seite. Ständiger Beschuss durch die immer frustriertere IDF verwandelten allmählich Dörfer und Gemeinden in schneidende Topographien aus aufgesprengtem Beton und zerborstenem Glas, übersät mit verbogenen Metallplatten. In dieser mondähnlichen Landschaft waren die Geröllhügel überzogen mit Höhlen aus begrabenen Räumen, die den Guerillas paradoxerweise mehr Verstecke boten. Die Hisbollah-Kämpfer schwärmten ihrerseits sehr gekonnt durch dieses Geröll und die Kriegstrümmer, benutzten zum Teil versteckte Tunnelsysteme, studierten die Manöver der israelischen Soldaten und griffen sie mit Anti-Panzer-Waffen genau dann an, wenn sie in libanesische Häuser eindrangen, sich ihnen organisierten und bewegten, wie sie dies aus den Städten und Flüchtlingslagern in der Westbank gewohnt waren.

 
Tödliche Theorie

Die Terminologie der Nicht-Linearität und der Netzwerke hat ihren Ursprung im militärischen Diskurs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie wurde in der US-Militärdoktrin Luft-Land-Schlacht von 1982 eingesetzt, die die Zusammenarbeit der verschiedenen (Land-, Luft- und See-)Streitkräfte hervorhob und die Strategie verfolgte, den Feind an systematischen Schwachstellen zu treffen – Brücken, Hauptquartiere und Versorgungslinien –, um ihn aus dem Gleichgewicht zu werfen. Sie wurde entwickelt, um einen Einmarsch der Sowjets in Mitteleuropa zu stoppen und wurde erstmals im Golfkrieg von 1991 angewendet. Die Durchsetzung dieses Strangs führte zur Netzwerkzentrierten Doktrin im Kontext der Revolution Militärischer Angelegenheiten (Revolution in Military Affairs, RMA) nach dem Ende des Kalten Krieges. Die Netzwerkzentrierte Kriegsführung konzeptualisierte das Feld militärischer Einsätze als dezentrale Netzwerksysteme, die durch Informationstechnologie über die gesamte operationale Bandbreite miteinander verwoben sind. Diesen Transformationen, von Neokonservativen wie Donald Rumsfeld betrieben, stand eine starke Opposition innerhalb der US-Streitkräfte entgegen. Diese Opposition erfuhr zuletzt im Zusammenhang mit den militärischen Fehlschlägen der US-Armee im Irak eine Beschleunigung. Die IDF durchleben seit Beginn der 1990er Jahre auf sehr ähnliche Weise institutionelle Konflikte im Zusammenhang mit diesen Transformationen. Innerhalb dieser internen Konflikte wurde eine spezielle, auf poststrukturalistischer Theorie basierende Sprache benutzt, um die Kritik am existierenden System zu artikulieren und für Umgestaltungen und weitere Reorganisierungen zu plädieren: Wie Naveh erklärte: Wir verwenden kritische Theorien in erster Linie, um die militärische Institution selbst zu kritisieren – ihre feststehenden und schwerfälligen konzeptuellen Grundlagen [].“

Einer der internen, sowohl die konzeptuelle als auch die hierarchische Ebene betreffenden Konflikte innerhalb der IDF, spielte sich im Kontext der Debatte ab, die der Schließung des OTRI im Frühjahr 2006 und der umstrittenen Entlassung von Naveh und seinem Ko-Direktor Dov Tamari folgte. Diese wiederum fand im Zusammenhang mit dem Austausch des Mitarbeiterstabes statt, die im Anschluss an die Auswechselung von Moshe Ya´alom als Stabschef durch seinen Rivalen Dan Halutz vollzogen wurde.[12] Nachdem er das OTRI aufgelöst hatte, gründete Halutz ein alternatives Institut für „operationales Denken“, das auf dem Modell einer ähnlichen Abteilung basiert, die Halutz zuvor bei der Luftwaffe ins Leben gerufen hatte. Naveh verstand seine Entlassung als „Coup gegen das OTRI und gegen die Theorie“.

Die militärische Debatte reflektiert politische Fragestellungen. Naveh unterstützte gemeinsam mit den meisten seiner KollegInnen den israelischen Rückzug aus dem Gaza-Streifen ebenso wie den israelischen Rückzug aus dem Süd-Libanon, bevor dieser im Jahr 2000 tatsächlich vollzogen wurde. Ähnlich unterstützt er den Rückzug aus der Westbank. Tatsächlich kann seine politische Position dem zugerechnet werden, was in Israel die „Zionistische Linke“ genannt wird. Seine Stimmenabgabe wechselte zwischen der Arbeiterpartei und Meretz. Ebenso übernahm Kochavi enthusiastisch das Kommando für den Militäreinsatz bei der Evakuierung und der Auflösung der Siedlungen im Gazastreifen. Auch er gilt, ungeachtet der Gräueltaten, für die er in Gaza verantwortlich gemacht wird, als „linker“ Offizier. Laut Naveh, sollte das Einsatzparadigma versuchen, die Präsenz in den besetzten Gebieten durch die Fähigkeit zu ersetzen, sich durch sie hindurch zu bewegen und das zu produzieren, was er „Effekte“ nennt. Das sind „militärische Einsätze wie beispielsweise Luftangriffe oder Kommandoüberfälle […], die den Feind psychologisch und organisatorisch treffen“. Die neuen Taktiken sind dazu da, die Herrschaft über die Sicherheitslage in den evakuierten palästinensischen Gebieten zu behalten, und ihre Entwicklung wurde als Vorbedingung für den Rückzug betrachtet. Der Rückzug wird innerhalb der IDF als abhängig von Israels Fähigkeit betrachtet, ihn in Notsituationen, die sie selbst definieren, sofort abzubrechen. Dies macht unzweifelhaft einiges von der angenommenen Symmetrie der Grenzen zunichte, die die Ikonographie der Westbank-Mauer verkörpert, ebenso wie es all die diplomatische Rhetorik zunichte macht, die auf der anderen Seite der Mauer – was auch immer vom Gemeinwesen noch übrig ist, so fragmentiert und perforiert es auch sein mag – einen palästinensischen Staat erkennen will. Dieser Logik folgend, behauptet Naveh, „auf welche Linie auch immer sie [die PolitikerInnen] sich einigen, dort sollten sie den Zaun [die Mauer] errichten. Für mich geht das in Ordnung […] allerdings nur so lange, wie ich diesen Zaun überqueren kann. Was für uns notwendig ist, ist nicht dort zu sein, sondern […] dort zu agieren […]. Der Rückzug ist nicht das Ende der Geschichte.“ In dieser Hinsicht ist die große „Staatsmauer“ genauso konzipiert wie eine Hauswand – als ein transparentes und durchlässiges Medium, das es dem israelischen Militär erlaubt, sich „sanft“ hindurch und darüber hinweg zu bewegen.

Ein Vergleich der Angriffe von Jenin mit jenen von Nablus führt das Paradox vor Augen, dass die linken Offiziere im Endeffekt um einiges zerstörerischer wirkten. Ein Loch in der Wand ist vielleicht nicht so verheerend wie die Zerstörung des gesamten Hauses, aber die ganze Angelegenheit muss auch im Hinblick auf die lokale und internationale Gegnerschaft gegen die Angriffe betrachtet werden: Da die Besatzungsmächte bislang nicht in der Lage waren, in ein Flüchtlingslager einzudringen, ohne es zu zerstören, wie sie es in Jenin getan haben, haben sie in den meisten Fällen die Flüchtlingslager vermutlich gar nicht erst angegriffen, mit Sicherheit jedenfalls nicht so häufig wie sie es jetzt tun, wo sie das entsprechende Werkzeug dafür gefunden haben. Anstatt einen politischen Verhandlungsprozess mit der Hamas zu beginnen, unterstützt das Vertrauen ins Militär die Regierung dabei, Politik zu umgehen.

 
Mauern/Gesetze

In Belagerungskriegen kam das Durchbrechen der äußeren Mauer der Zerstörung der Souveränität des Stadtstaates gleich. Deshalb widmete sich auch die historische „Kunst“ des Belagerungskrieges der Geometrie von Stadtmauern und ähnlichen komplexen Technologien, die darauf abzielten, sich der Mauer zu nähern und sie schließlich einzureißen. Im Gegensatz dazu ist die urbane Kriegsführung der Gegenwart mehr und mehr mit Methoden beschäftigt, die dazu dienen, durch Hauswände verkörperte Begrenzungen zu überwinden. Insofern erscheint es sinnvoll, die (privaten) Hauswände als (öffentliche) Stadtmauern zu denken – als wirkmächtige Eckpfeiler des Gesetzes und der Bedingungen für demokratisches, städtisches Leben.

Laut Hannah Arendt wurde der politische Bereich der griechischen Stadt durch zwei Arten von Mauern (oder mauerartigen Gesetzen) garantiert: Die Mauer, die die Stadt umgab und die die Zone des Politischen definierte; und die Mauern oder Wände, die den privaten Raum vom öffentlichen Bereich abgrenzten und die Autonomie des häuslichen Bereichs gewährleisteten. „Ohne die Mauer des Gesetzes konnte ein öffentlicher Raum so wenig existieren wie ein Stück Grundeigentum ohne den es einhegenden Zaun; jene umhegte und beherbergte das politische Leben der Stadt, wie dieser das ‚private‘ Leben ihrer Bewohner schirmte und schützte.“[13] Die gesamte Ordnung der Stadt beruhte demnach auf der Fantasie von der Mauer als stabil, solide und feststehend. Und auf der anderen Seite tendiert der architektonische Diskurs dazu, die Mauern oder Wände als irreduzible Gegebenheiten der Architektur zu betrachten. Die militärische Praxis des „Durch-Wände-Gehens“ – auf der Ebene des Hauses, der Stadt oder des „Staates“ – verbindet die physikalischen Beschaffenheiten des Bauens mit der Syntax architektonischer, sozialer und politischer Ordnungen. Neue Technologien erlauben es den Soldaten, lebendige Organismen durch Mauern hindurch zu sehen und erleichtern es ihnen, durch sie hindurch zu gehen und Waffen abzufeuern. Das berührt nicht nur die Materialität der Mauer oder Wand, sondern ihr gesamtes Konzept. Mit der Mauer, die physikalisch und konzeptuell nicht länger stabil oder rechtlich undurchdringbar ist, stürzt die funktionale räumliche Syntax, die sie geschaffen hat – die Trennung von innen und außen, privat und öffentlich – in sich zusammen. Ohne diese Mauer, führt Arendt weiter aus, „konnte es zwar eine Stadt im Sinne einer Ansammlung von Häusern für das Zusammenleben von Menschen geben (asty), aber keine polis, keinen Stadtstaat als eine politische Gemeinschaft.“[14] Die Unterscheidung zwischen einer Stadt [city] als einem politischen Bereich und einer Ortschaft [town] (als die Gegenthese zur Stadt ist hier das Flüchtlingslager zu verstehen) basiert auf der konzeptuellen Stabilität der Elemente, die sowohl die Existenz des öffentlichen als auch des privaten Bereichs sicherstellen. Giorgio Agambens bekannte Beobachtungen folgen der Spur, die Arendt gelegt hat: „[I]m Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden.“[15] Das Durchbrechen der physischen, visuellen und konzeptuellen Grenze/Mauer/Wand eröffnet neue Bereiche der politischen Macht und bietet auf diese Weise ein physisches Diagramm vom Konzept des „Ausnahmezustands“.

Wenn Kochavi behauptet, Raum sei „bloß eine Interpretation“ und seine Bewegung durch und die gebaute Textur der Stadt reinterpretiere die architektonischen Elemente (Wände, Fenster und Türen), und wenn Naveh erklärt, er würde jede Grenze akzeptieren, solange er sie überqueren könne, dann benutzen sie einen transgressiven theoretischen Ansatz, um nahe zu legen, dass es beim Krieg und bei Angriffen nicht länger um die Zerstörung von Raum, sondern um dessen „Reorganisation“ geht. Wenn eine Mauer oder Wand nur noch ein Zeichen für „Mauer“ oder „Wand“ ist, das Skalen politischer Ordnungen markiert, dann wird das Ent-mauern/Ent-wänden auch nur zu einer Form des durch die Theorie angeheizten Neuschreibens – und beschreibt einen konstanten Prozess der Zerstörung. Wenn das „Durch-Wände-Gehen“ zu einer Methode der „Reinterpretation des Raumes“ wird und wenn die Beschaffenheit des Raumes nur „in Beziehung“ zu dieser Form der Interpretation besteht, kann diese „Reinterpretation“ dann töten? Wenn die Antwort „Ja“ lautet, dann wird die „inverse Geometrie“, die die Stadt „von innen nach außen“ kehrt, indem sie ihre privaten und öffentlichen Räume vermischt, und die die Idee eines „palästinensischen Staates“ von außen nach innen kehrt, Konsequenzen für militärische Einsätze bewirken, die über physische und soziale Zerstörung hinausgehen. Und sie zwingt uns, die „konzeptuelle Zerstörung“ politischer Kategorien zu reflektieren, die diese Einsätze implizieren.



[1] Zu einer solchen militärischen Konferenz, 2002 von der Geographie-Fakultät an der Universität Haifa organisiert, vgl. Stephen Graham, „Remember Falluja: Demonizing Place, Constructing Atrocity“, Society and Space, 2005, Vol. 23. S. 1–10; sowie Stephen Graham, „Cities and the ‚War on Terror‘“, International Journal of Urban and Regional Research, Vol. 30.2 June 2006, S. 255–276.

[2] Yedidia Ya’ari und Haim Assa, Diffused Warfare, War in the 21st Century, Tel Aviv 2005 (Miskal – Yediot Aharonot Books and Chemed Books), [Hebräisch] S. 9–13, 146.

[3] Eyal Weizman und Nadav Harel, Interview mit Aviv Kochavi, 24. September 2004, in einer israelischen Militärbasis nahe Tel Aviv, auf Video dokumentiert von Nadav Harel und Zohar Kaniel.

[4] Zuri Dar und Oded Hermoni, „Israeli Start-Up Develops Technology to See Through Walls“, Ha’aretz, 1. Juli 2004; Amir Golan, „The Components of the Ability to Fight in Urban Areas“, Ma’arachot 384 (Juli 2002): 97; vgl. auch Ross Stapleton-Gray, „Mobile mapping: Looking through Walls for On-site Reconnaissance“, Journal for Net Centric Warfare C4ISR, 11. September 2006.

[5] „Gegenüber dem totalen Charakter der Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaft gebricht es der kritischen Theorie an einer rationalen Grundlage zum Transzendieren dieser Gesellschaft. Dieses Vakuum entleert die theoretische Struktur selbst, weil die Kategorien einer kritischen Theorie der Gesellschaft während einer Periode entwickelt wurden, in der sich das Bedürfnis nach Weigerung und Subversion im Handeln wirksamer sozialer Kräfte verkörperte.“ Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1970 (Luchterhand Verlag), S. 16.

[6] David Ronfeldt, John Arquilla, Graham Fuller und Melissa Fuller, The Zapatista „Social Netwar“ in Mexico, Santa Monica, Ca. 1998 (RAND).

[7] Gal Hirsch, On Dinosaurs and Hornets, „A Critical View on Operational Moulds in Asymmetric Conflicts“, RUSI Journal (August 2003), S. 63

[8] Arquilla und Ronfeldt, Networks and Netwars, S. 15

[9] „Nun ist der Krieg nicht das Wirken einer lebendigen Kraft auf eine tote Masse, sondern, weil ein absolutes Leiden kein Kriegführen sein würde, so ist er immer der Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander“, Carl von Clausewitz, Vom Kriege [Berlin 1832], hier zit. n. http://www.clausewitz.com/CWZHOME/VomKriege/Book1Ch01VK.htm (11.04.2007).

[10] Vgl. hierzu Ryan Bishop, „‚The Vertical Order Has Come to an End‘: The Insignia of the Military C3I and Urbanism in Global Networks“, in: Ryan Bishop, John Phillips und Wei-Wei Yeo (Hg.), Beyond Description: Space Historicity Singapore, Architext Series, London & New York 2004 (Routledge).

[11] Hannan Greenberg, „The Commander of the Gaza Division: The Palestinians are in Shock“, Ynet 7 July 2006 www.ynet.co.il [Hebräisch].

[12] Halutz griff die vom OTRI entwickelten theoretischen Konzepte nicht direkt an. Das allgemeine Einsatzkonzept (General Staff´s Operational Concept) der IDF basiert nach wie vor auf der theoretischen Doktrin der systematischen Einsatzgestaltung, die das OTRI vorgelegt hat, vgl. : Caroline Glick, „Halutz’s Stalinist moment: Why were Dovik Tamari and Shimon Naveh Fired?“, Jerusalem Post, 17. Juni 2006, und Rapaport, „Dan Halutz is a Bluff“. Gegenwärtig ist Naveh beim Entwicklungskommando des US Marine Corps als Seniorberater für deren Einsatzexperiment „Entdeckungskrieger“ (Expeditionary Warrior) angestellt.

[13] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2007 (Piper Verlag), 5. Aufl., S. 78.

[14] Hannah Arendt, ebd.

[15] Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 197.