06 2001
Von Proletkult zu Kunstkult oder Was Sie schon immer über kulturelle Hegemonie wissen wollten, aber in Texte zur Kunst nicht finden konnten
Vortrag am Symposion "Kunsteingriffe", 01/1998 Wien, vgl. Gerald Raunig (Hg.), Kunsteingriffe. Möglichkeiten politischer Kulturarbeit, IG Kultur Österreich: Wien 1998, S.120-127
In einem Gespräch zur "Organisation von Oppositionalität",
abgedruckt in Marius Babias' Reader "Im Zentrum der Peripherie",
fragt Joshua Decter: "Ist 'kultureller Widerstand' gleichbedeutend
mit Modellen von Oppositionalität? (...) Drücken
solche Begriffe [wie Widerstand oder Opposition], vielleicht
unterhalb der Oberfläche, den Wunsch nach sozio-politischen
Veränderungen auf dem Weg über den relativ isolierten
Bereich der 'Hochkultur' aus?". Und in einem Redebeitrag,
den Isabelle Graw durch mehrere Zitate in den Theorierahmen
der poststrukturalistischen Hegemonietheorie Ernesto Laclaus
stellt, fragt sie: "Meint kultureller Widerstand Widerstand
gegen die Kultur mit kulturellen Mitteln? Oder meint es politischen
Widerstand im allgemeinen mit kulturellen Mitteln?"
Ähnliche Fragen bewegten nicht nur Pop-Kunst-Politik-Crossoverprojekte wie die - inzwischen historischen - Wohlfahrtsausschüsse, sie bewegen nach wie vor jenen sich selbst "avanciert" nennenden Sektor des Kunstfelds, für den politische Theorie, etwa als Cultural Studies, und politische Praxis in der einen oder anderen Weise zu seinem Selbstverständnis beitragen. Die Motivation, mit der man bestimmte Projekte im Kunstfeld verfolgt, definiert sich selbst als politische Motivation. Dasselbe gilt für viele Kulturinitiativen (und darin trifft sich Hochkultur mit Breitenkultur manchmal).
Der Gedanke dahinter lautet also: Wir machen Kunst oder Kultur, nicht weil wir Kunst oder Kultur machen wollen, sondern weil wir politische oder soziale Anliegen vertreten, und das quasi zufällig im Kunstsystem oder im Bereich der Kultur - weil wir halt Kunst- oder KulturarbeiterInnen sind. Das Feld der Kultur/Kunst wird weiters als geeigneter Transmissionsriemen für politische Forderungen verstanden, weil man diesem Feld - und das wohl zurecht - eine symbolische Überdeterminiertheit zuschreibt, d.h., weil man es als privilegiertes Kampffeld für Symbol-, Repräsentations- und somit Identitätsfragen erkennt.
Das Problem, das Graws Frage zugrundeliegt, ist dabei eigentlich sehr simpel: Läßt sich politischer Widerstand mit kulturellen Mitteln leisten? Oder umgekehrt: Ist kultureller Widerstand eine Art politischer Widerstand in disguise? Oder allgemeiner: Ist die Politisierung der Kultur eine notwendige Voraussetzung der "Politisierung der Politik", also für eine Politik, die sich nicht auf reine Verwaltungstechnik und Sozialmanagement reduziert (d.h. nicht Politik als Verwaltung, sondern als Feld von Antagonismen), etc.
Spätestens über die Rezeption von anglo-amerikanischem Feminismus und Cultural Studies, die sich ihrerseits auf Antonio Gramscis Konzept der "Kulturellen Hegemonie" berufen hatten, dämmerte es, daß der Bereich der Kultur immer schon einer der Austragungsorte für politische Kämpfe im weiteren Sinn (also "ideologische" Kämpfe), d.h. für das Erringen ideologischer Vorherrschaft nicht so sehr über das Mittel des Zwangs als über das des Konsenses ist. (Konsens bedeutet, daß Leute nicht dazu gezwungen werden zu glauben, z.B. daß der Kapitalismus die beste aller möglichen gesellschaftlichen Organisationsformen ist, sondern daß ein Konsens darüber besteht). Diese Erkenntnis der wichtigen Rolle, die Kultur im Aufbau einer "organischen Ideologie" spielt, wurde aber oft zur Legitimation von "Kulturarbeit" als quasi-immer-eh-schon-politischer Arbeit herangezogen, selten zur Analyse des tatsächlich herrschenden "historischen Blocks", wie das bei Gramsci heißt, d.h. der tatsächlich herrschenden hegemonialen Formation, und praktisch nie zum Aufbau einer gegenhegemonialen Bewegung, für die sich ja gerade auch keine Partei (kein "moderner Prinz", Gramsci) und keine fortschrittliche Klasse anbot, also keine historischen Subjekte - und zwar: politischen Subjekte -, in denen sich, obwohl gerade vom Faschismus besiegt, für den historischen Gramsci kulturelle Anstrengungen immer noch kristallisieren konnten. Diese politische Selbstlegitimation im kulturellen Feld kann sich in verschiedenen Euphemismen ausdrücken: Lebensstilentscheidungen werden plötzlich zu politischen Messages, Parties im Kunstkontext werden zu Formen "sozialer Interaktion", etc.
Hinter der Unsicherheit bezüglich des politischen Werts von Kultur steht ein konzeptuelles Problem: Hegemonie erfüllt gewissermaßen eine Scharnierfunktion zwischen den beiden Feldern, sie wird aus dem Hut gezaubert, um Kultur politisch aufzuwerten. Und dennoch bleibt der eigentliche Status dieses vielbesungenen Konzepts wiederum unklar: Ist "kulturelle Hegemonie" selbst nun ein Begriff der Politik oder einer der Kultur? Was hat Vorrang? Geht es um kulturelle Hegemonie oder um politische Hegemonie? Führt kulturelle Hegemonie automatisch zu politischer Hegemonie, etc.? Läßt sich politische Hegemonie nutzen, um kulturelle Hegemonie durchzusetzen?
Ich möchte im folgenden die Veranstaltung etwas unterlaufen, indem ich dieses Problem in Formulierungen angehe, die unaktueller nicht sein könnten. Da ich hier nicht als Kulturmanager oder Berater von Kulturmanagern spreche, und auch nicht vorhabe, irgend jemand gute Ratschläge zu geben, werde ich also nicht über das Verhältnis von Kultur und Politik heute, sondern über deren Verhältnis, wie es in den frühen 20er Jahre formuliert wurde, sprechen. Es handelt sich dabei um ein heute völlig disqualifiziertes und entwertetes Wissen, das aber immerhin den Vorteil hat, einer Situation zu entstammen, in der es noch mit Praxis, d.h. mit tatsächlicher teilweiser Umsetzbarkeit unter den Bedingungen der Jahre nach der Oktoberrevolution verknüpft war.
Ich möchte das Problem Kultur und Politik als schematisiert an den zwei Eigennamen Lenin und Bogdanow festmachen. Ziel ist nicht, eine historisch akkurate Darstellung zu liefern, sondern mit diesen Eigennamen bestimmte logische Positionen zu markieren: Ein ganz schematisches Abscannen von Relationsmöglichkeiten zwischen Kultur und Politik, Relationsmöglichkeiten, die in der heutigen Diskussion - wie vermittelt auch immer - noch nachhallen.
Bogdanow war Wissenschafter, Autor von Science Fiction Romanen (u.a. Der Rote Planet), links-bolschewistischer intellektueller Rivale Lenins und der Gründer von Proletkult. Lenin braucht man nicht vorstellen. Nach der Oktoberrevolution stellte sich, wie man leicht einsehen kann, die Frage, wie denn der Weg zum Sozialismus aussehen solle, in einem Land, in dem die vorherrschende Kultur bürgerlich war. Zwar war Kultur eine Angelegenheit des Überbaus, der laut Lenin eigentlich nur eine Widerspiegelung der ökonomischen Basis sein durfte, aber sowohl für Bogdanow wie auch für Lenin war klar, daß mit der Sozialisierung der Produktionsmittel allein das Problem Kultur noch lange nicht gelöst war. Schematisch gesprochen vertraten Lenin und Bogdanow zwei einander gegenüberliegende Positionen: Lenin war der Theoretiker der Politischen Hegemonie. Hegemonie bedeutete Übernahme der Staatsmacht und Sicherung und Institutionalisierung der Partei. Dort wo Hegemonie ein politisches Verhältnis beschreiben sollte, war sie gleichbedeutend mit Bündnispolitik: Bündnisse mit anderen Klassen sind möglich, aber nur unter der historischen Führung des Proletariats in Form der Partei.
Entsprechend sahen Lenins Vorstellungen von Kultur aus. Die
kulturelle Revolution war gedacht, die politische abzustützen,
nachdem die Macht einmal errungen war. Das zentrale Mittel
dafür - und somit die zentrale Aufgabe der Kultur - war
(Um-)Erziehung (im Geiste der Partei). Ziel der Erziehung
wiederum war es, den Geist des Klassenkampfes in die Kultur
zu tragen, um den ideologischen Widerstand zu brechen. Dabei
verhielt man sich instrumentell zu den früheren Erzeugnissen
der bürgerlichen Kultur: Es ging Lenin (dem Liebhaber
Puschkins) nicht um deren Beseitigung (genausowenig wie es
Lenin nicht um die Beseitung bürgerlicher Experten und
Technokraten ging, für die es im Aufbau der Sowjetunion
nach wie vor genug Bedarf gab), sondern um ihre Assimilierung,
Umfunktionierung und Transformation; es ging darum, sie von
Waffen des Kapitalismus in Waffen des Sozialismus umzuschmieden.
Lenin suchte in der neu zu errichtenden politischen
proletarischen Kultur vor allem die Abstützung der Führungsrolle
der Partei durch Erziehung, Stärkung des Klassenkampfbewußtseins
und der Marxistischen Ideologie und Umformung der bürgerlichen
Kultur. Kurz: Die Errichtung einer "kulturellen Hegemonie"
war ausschließlich interessant in Hinsicht auf politische
Machtkonsolidierung.
Bogdanow, der russische Gramsci, schlug den umgekehrten Weg
vor: Er war der Anwalt der Kulturellen Hegemonie. In
der Terminologie Gramscis könnte man die beiden Positionen
auch folgendermaßen beschreiben: Lenin war der Theoretiker
(und Praktiker) des "Bewegungskrieges", d.h. des
frontalen Angriffs auf den Staat und der Eroberung seiner
Institutionen und Apparate. Bogdanow war der Theoretiker (und
mit seinem Proletkult zeitweise auch Praktiker) des "Stellungskrieges",
d.h. einer unklaren hegemonialen Situation, von unklaren Frontlinien
mit ständigen Überläufen in beide Richtungen,
in der erst eine organische Ideologie und Kultur langsam entwickelt
wird, bevor die politische Macht erobert werden kann. Bogdanow
war also bereit, sich auf die Mühen der kulturellen Ebene
einzulassen. Der bürgerliche Überbau durfte dazu
nicht einfach assimiliert werden (obwohl Bogdanow traditioneller
Kultur nicht ausschließlich feindlich gegenüberstand,
wie erwähnt werden sollte), er mußte mit einer
eigenen - gewissermaßen sogar neu zu erfindenden - proletarischen
Kultur herausgefordert werden.
Die proletarische Kultur, die Bogdanow mit seinem Proletkult-Apparat schaffen wollte, war nach gänzlich anderen Prinzipien geordnet als jene, die Lenin vorschwebte. Nicht die Partei war die Instanz, der alles unterzuordnen war, sondern der Leninschen Mythologisierung der Partei wurde die Glorifizierung des Arbeiters entgegengesetzt. (Proletkult selbst wurde u.a. von Lenin so stark angegriffen, weil dieser keine organisatorische Konkurrenz zur Partei dulden wollte.) Die zentrale Kategorie der Bewegung war daher auch nicht Klassenkampf, sondern "Arbeit" in einem durchaus kreativen Sinn. Bogdanows Konzept setzte also nicht auf Avantgarde, sondern auf Kollektivismus, und es setzte nicht auf Erziehung zu bestimmten ewigen Wahrheiten des Marxismus, eine Einstellung, die Bogdanow für Fetischismus hielt, sondern auf die Erzeugung alternativer eigener "proletarischer" Werte und Wahrheiten. Auch darin kommt er Gramsci nahe, der bekanntlich ebenfalls der Ansicht war, daß politische Führung Hand in Hand mit "moralischer und intellektueller" Führung gehen muß.[1]
Kurz: Für Bogdanow hieß es nicht: Zuerst übernehmen wird die Macht, und dann sehen wir schon, was wir mit der Kultur machen werden, sondern die kulturelle Hegemonie mußte vor der politischen errungen werden als deren notwendige Voraussetzung.
Machen wir den Sprung zurück in die Zukunft, d.h. zur
heutigen Situation: Daß Kultur ein wichtiges Terrain
für politische Identitätsbildung, d.h. Teil eines
historischen Blocks, ist, das wird von VertreterInnen der
Kunst=Politik-Fraktion leicht zum Verständnis überdreht,
daß man in der Kunst allein Politik machen könne.
Bei Diedrich Diederichsen heißt das: "Es lohnt
sich schon allein deswegen, den Kunstbegriff zu besetzen,
weil ihn die andere Seite so stark macht." Das mag zutreffen,
das Problem ist nur
1) daß erstmal überhaupt noch nicht klar ist, wo
"die eigene" Seite ist, d.h. wo sich ein gegen-hegemoniales
Projekt gegen die "andere Seite" ergibt, das nicht
schon beim Kunstbegriff aufhört.
2) daß das Kunstsystem vollkommen externalistisch betrachtet
wird, als in einem Kampf mit einer anderen Seite stehend.
Die Eigengravitation des Kunst-Kulturfelds wird bewußt
heruntergespielt. Eigengravitation heißt: Politik in
der Kultur ist in erster Linie Kultur, d.h. sie erfüllt
eine spezifische Distinktionsfunktion im Kunstfeld, und erst
in zweiter Linie Politik, d.h. sie ist möglicherweise
Teil einer (gegen-)hegemonialen Artikulation zwischen verschiedenen
Feldern und Signifikationssystemen wie Kultur, Kunst, Politik,
Staat, Ökonomie, etc.
Hegemonie heißt aber äquivalentielle Verknüpfung von Forderungen, Gruppen, Identitäten, die nicht eh schon immer derselben Szene angehörten. Eine Äquivalenzkette zwischen mir und ein paar Freunden aus Kunst, Pop und Medien ist keine hegemoniale Artikulation, sondern die Karikatur darauf. Erst wenn sich Forderungen treffen, die einen bestimmten Szenezusammenhang transzendieren, kann von einer hegemonialen Artikulation gesprochen werden. Tatsächlich kann die dämlichste Lichterkette (in der sich, einer österreichischen Zeitung zufolge, Punks mit der katholischen Jungschar getroffen hätten, um gegen Haider zu demonstrieren) eine hegemoniale Anstregung genannt werden, da sie eine Äquivalenzkette zwischen differentiellen Elementen, deren einzige Äquivalenz im gemeinsamen Feind besteht, bildet, während bei rein szeneimmanenten Projekten strenggenommen keine differentiellen Elemente miteinander artikuliert werden, sondern identische (eine angebliche Artikulation von Politik, Pop und Kunst etwa in Form von Beute, Spex und Texte zur Kunst ist daher keine Artikulation zwischen verschiedenen Feldern (Politik, Pop und Kunst), sondern eine innerhalb derselben Szene). Die Tatsache, daß insbesondere im deutschen Sprachraum kein politisches Projekt zuhanden ist, darf nicht allein Grund zur Flucht in die Kunst sein, im Sinne von: Wenn wir schon keine Börsen besetzen (wie unlängst die Arbeitslosen in Frankreich), besetzen wir wenigstens den Kunstbegriff.
Das Problem liegt also weniger darin, daß der latente Gramscianismus falsch wäre, und politische Hegemonie nicht immer auch in der Kultur miterrungen werden muß (das ist das letzte, was ich bestreiten würde), sondern das Problem liegt in der Umwendung des Politikbegriffs zu selbstlegitimatorischen Zwecken innerhalb einer bestimmten Fraktion der Hochkultur. Damit ist nicht gesagt, daß nicht auch an dieser Stelle politische Repräsentationsarbeit in einer bestimmten Konjunktur wichtig sein kann, sondern nur, daß sie in nichts weiter als in einen studentisch-kulturarbeiterischen entweder Liberalismus oder Pseudoradikalismus mündet, wenn die makropolitische Koppelung an andere politische Projekte (die nicht wieder nur sich politisch gebende Projekte im Kunstfeld sein dürfen) fehlt. Wenn diese Koppelung fehlt, entsteht die Gefahr - und das ist (völlig jenseits von irgendwelchen Karrierevorwürfen) mein eigentliches Problem damit -, daß die ersehnte Politisierung der Kultur in eine Kulturalisierung der Politik umschlägt. Alle, die sich manifest oder latent auf gramscianische oder post-gramscianische Konzepte wie "kulturelle Hegemonie" oder Cultural Studies- oder Identitätspolitik-Derivate dieses Konzepts berufen, sollten daher eines nie vergessen: Gramsci war kein Galerist oder Kulturproduzent. Der Erfinder des Konzepts der Kulturellen Hegemonie war kein "Kulturproduzent", sondern er war Parteigründer.[2]
Anmerkungen
[1] Aufgrund seiner, Bogdanows, wissenschaftlichen
Weltanschauung und seines Rationalismus (von Lenin auch als
empiriokritizistisch angeklagt und verdammt) vertrat er einen
spezifischen Antiautoritarismus, der eher der Herausbildung
eines eigenen kritischen selbständigen Geistes als der
reinen Indoktrination verpflichtet war.
[2] Nämlich der Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens. Heute muß die makropolitische Organisationsform keineswegs eine Partei sein, das heißt aber nicht, daß Mikropolitik ohne irgendeine makropolitische Organisationsform auskommt.