02 2002
Kunst & Ekel: Form als Antiform, Kunst als Antikunst, Markt als Antimarkt.
Die Kunst ist eine elitäre Sache. Es braucht viel an Bildung, um die Codes dechiffrieren und die kunstimmanenten Übereinkünfte verstehen zu können. Wer damit nicht früh genug anfängt, bleibt sein Leben lang der Blöde in der Konfrontation damit. Sehr viel braucht es auch, um sich Kunstwerke kaufen zu können. Das viele Geld dafür geben in der Regel jene Leute aus, die durch den Kauf von Kunstwerken ihren eigenen Status gegenüber weniger privilegierten Klassen der Gesellschaft hervorheben wollen. Das nennt man Distinktionsgewinn. Die Megaversion davon ist, wenn etwa ein Versicherungskonzern eine Kunst-Foundation betreibt, um damit via Corporate Design das eigene eher profane Betätigungsfeld zu kaschieren. Für den Mehrwert von symbolischem Kapital wird damit die Kulturalisierung des eigenen Handlungsfeldes betrieben, das dem herkömmlichen Verständnis von kultureller Tätigkeit eher nicht zuzurechnen ist. Eine handfeste Verarschung ist bei all dem das Gerede von der Freiheit der Kunst, und zwar für Kunstschaffende und Publikum gleichermaßen, zumal sich die Kunst vorrangig durch die Ausbildung prosperierender Märkte ihrer gesellschaftlichen Legitimation verdankt und die Freiheit des Individuums in der Rolle des Künstlergenies nur das ideologische Verpackungsmaterial für die Ware Kunst abgibt.
Vorwiegend den Vertreter/innen einer ´Kunst ohne Werk`ist das schmerzlich bewusst. Und sie leiden darunter seit vielen Generationen. Sie teilen das Wissen über die Crux mit der Kunst in der Fraktion der kritischen Künstlerschaft, die - so der Kanon - unbeugsam gegenüber der Gesellschaft und der Institution Kunst ist. Die Dropoutrate ist zwar sehr hoch, nur wenige kommen zu Ansehen und noch weniger zu Geld, wer aber lange genug durchhält, kann noch zu Lebzeiten über seine kleine Fangemeinde hinaus Berühmtheit erlangen. Bei entsprechend zeitgerechter Historisierung, ist eine Wiederentdeckung, Neueinschätzung usw. auch noch viele Jahre nach dem Ableben möglich.
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Widersprüche sind kein Privileg der Kunst. Und wenn die
verschiedenen Handlungsträger in der Produktion, der
Vermittlung und Vermarktung erst einmal verstanden haben,
dass gerade die Widersprüche zwischen Autonomie (Selbstbestimmung)
und Heteronomie (Fremdbestimmung) die moderne Kunst so erfolgreich
gemacht haben, dann lässt sich mit gutem Gewissen damit
leben. Denn längst ist evident, dass nicht Konsens, sondern
das Unruheprinzip aus Redundanz und Differenz die Kommunikationsprozesse
antreibt. Die Vertreter/innen einer ´Kunst ohne Werk´
stehen mit ihrer Haltung in einer langen Tradition, die nach
dem zweiten Weltkrieg - im Zuge diverser Ausdifferenzierungsprozesse
von Konzepten und Semantiken der klassischen Avantgarde -
etwa durch die Fluxusbewegung, die Aktions- und Materialkunst,
die Konzeptart oder Formen der Institutionskritik fortgeführt
wurde. Mehrere Generationen von Künstler haben ihren
fallweise Ekel oder ihr schlechtes Gewissen mit dem Wissen
über die gesellschaftlichen Bedingungen der Kunst dahingehend
produktiv gemacht, indem sie mit den Logiken und Verfahrensweisen
der Kunst genau diese Sachverhalte reflektiert und artikuliert
haben.
Marcel Duchamp gehört quasi zum Einmaleins dieser Kunstpraxis. Duchamp hat mit dem ´absoluten Ding´, dem Flaschentrockner von 1914, die Dekonstruktion des Kunstobjekts via ´historischer Überschreitung´ in den Kunstdiskurs eingeleitet. Das Ding mit dem Titel Flaschentrockner ist tatsächlich ein Flaschentrockner, der lediglich aus seinem angestammten Umraum in den Kunstkontext überführt wurde. Dieses Ding fällt total aus dem historischen Kunstzusammenhang heraus, bzw. aus der Vorstellung davon - deshalb ist es der Kategorie ´historische Überschreitung´ zuzurechnen. Der Schock in der Rezeption, d.h. zugleich Differenzerfahrung, soll dabei im Idealfall Reflexions- und Lernprozesse auslösen, etwa um darüber nachzudenken, was ein Ding zu Kunst macht. Die Arbeit mit Ready-mades, wie Duchamp solche Kunstobjekte bezeichnete, verkamen spätestens Ende der 70er-Jahre zu einer Avantgardefloskel.
Duchamps Einfluss auf Künstlergenerationen nach 1945 ist schlichtweg enorm. Die Abrissbilder, in der Regel entwendete Papierschichten von Plakatwänden, der sogenannten Décollagisten wie Raymond Hains oder Mimmo Rotella sind Realitätsfragmente im Sinne der Duchampschen Ready-mades. Sein Zugriff auf das Triviale der Alltagsrealität setzte sich in den Manifestationen der Popart, etwa bei Andy Warhol, Claes Oldenburg und Richard Hamilton weiter fort. In seinen wahrnehmungsphänomenologischen Experimenten, wie in den rotierenden Glasscheiben von 1920/25 und den Rotoreliefs von 1935, hat er zur Entwicklung der kinetischen Kunst beigetragen und der späteren Opart den Weg bereitet. Seit 1945 hatte er Duplikate seiner Werke anfertigen lassen, sodass es 1967 bereits mehr Reproduktionen als noch existierende Originale gab. Im Zusammenhang der Ideenevolution der Kunst, stellt letzteres einen Anschlag auf den Fetisch Original dar. Mit dieser Strategie der Entauratisierung des Kunstobjekts ist Duchamp aber zugleich auch ein Wegbereiter des in den 60er-Jahren aufkommenden Multiple- und Siebdruckhypes. Das ist übrigens nur ein Beispiel dafür, dass sich die Ansprüche und Forderungen der Avantgarden in der modernen Kunst im Laufe des 20. Jahrhunderts vollends eingelöst haben. Allerdings in Formen, die mit dem Kapitalismus kompatibel sind.
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Marcel Duchamp, der 1913 die Malerei in Frage stellte, war
lange Zeit ein Vergessener. Mit seinem 40. Lebensjahr, also
1927 stellte er seine künstlerische Arbeit für etwa
20 Jahre vollständig ein. So zumindest lautet der mythische
Befund. Erst 1959 erschien eine erste große Monographie
über den bereits 72-jährigen Künstler. 1966
fand in der Tate Gallery eine Retrospektive statt, womit eine
umfassende Rezeption einsetzte. Mit der institutionellen Legitimation
seiner Arbeit wurde Duchamp zugleich zum produktiven Streitfall
für eine junge Künstlergeneration.
In den 60er-Jahren verhielten sich Duchamps Nachfahren ganz in der Art von Pubertierenden. Einerseits strickten sie eifrig an den Ideen vom Übervater weiter, andererseits verurteilten sie ihn als Bourgeois. Ungeachtet psychoanalytischer Aspekte, ist es zur Durchsetzung der eigenen Position unabdingbar, Distinktion gegenüber einer vorangegangenen Generation, wie auch zwischen Positionen innerhalb einer Generation, anzustreben. Distinktion ist ein gewichtiger Faktor im Konkurrenzkampf. Das ist auch im Falle von Duchamp unübersehbar. Nicht in seiner Heimat Frankreich, auch nicht anderswo in Europa, sondern in den USA, in New York im Jahre 1913 bei der legendären Armory-Show, begann sein Aufstieg. Dieses Datum markiert zugleich den Beginn einer sogenannten ´nicht-retinalen Kunst´. Nicht, dass es da nichts mehr zu sehen gäbe. Der Unterschied zu einer ´retinalen Kunst´, d.h. einer traditionellen Auffassung von Kunst, besteht lediglich darin, dass sich ´nicht-retinale Kunst´ nicht mehr in ein lineares Verständnis von Formentwicklung einordnen lässt. Sie ist vorrangig Reflexion über Kunst und ihre Implikationen und appelliert damit mehr an das kognitive Vermögen der Rezipienten.
Was seinen Nachfahren nach 1945 ein besonderer Dorn im Auge war, ist Duchamps Verhältnis zu Gesellschaft ganz allgemein. Egal wie er auch an den Traditionen der Kunst gerüttelt haben mag, Duchamp bleibt einer Kultur privilegierter Klassen verhaftet, praktiziert eine Kunst für Snobs und Dandys, und ist in seiner "Systemkritik" lediglich kunstintern geblieben - so der Tenor der Ankläger. Unbestritten hat sich Duchamp bspw. von dem vermögenden Kunstsammler Walter Arensberg ein Atelier in New York zur Verfügung stellen lassen und alle Vorzüge seines Mäzens genossen. In der Wohnung der Arensberg, in der westlichen 67. Straße am Central Park, hatte er Gelegenheit mit Intellektuellen zusammenzutreffen, mit Personen aus Wissenschaft und Kunst, wie bspw. Francis Picabia, Albert Gleizes, Man Ray, Mina Loy, Edgar Varése, Arthur Davis oder Beatrice Wood. Fraglos eine handfeste Alternative zur bloßen Schufterei mit der Kunst ist es auch, wenn sich etwa die Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven mit Vorliebe ihrer Kleider entledigte, um als Ready-made zu fungieren oder die Dichterin Mina Loy sich zusammen mit Duchamp, Beatrice Wood, Arlene Dressler und Charles Demuth von der Abendgesellschaft verabschiedete, um im nebenanliegenden Atelier von Duchamp dem Gruppensex zu frönen.
Diese Infos verdanke ich Joan Richardson und ihrem Artikel Ein anderer Reality Club. Weitaus aufschlussreicher für das uns vorliegende Thema sind aber noch andere Stellen in ihrem Text. Etwa wo sie den Arensbergschen Zirkel, dem Duchamp angehörte, als einen Personenkreis beschreibt, der den Anspruch vertrat, "das Bild zu verändern, das sich die Menschen von sich selbst innerhalb der Welt machen." Das bedeutete auch, so Richardson weiter, "durch Kunstwerke Zusammenhänge zu schaffen, Welten innerhalb anderer Welten...mittels Kunstwerken zu erkennen...was es bedeutete, in einer unentwegt sich wandelnden Gegenwart an der Grenze des Erfahrbaren zu leben"(Richardson 1990: 239). Im Arensbergschen Kreis wurde nicht nur über avantgardistische Positionen in der Kunst diskutiert, sondern ebenso über damals aktuelle Fragen in den Wissenschaften. Die Gespräche drehten sich um die allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein, über das Komplementaritätsprinzip von Niels Bohr, über Max Plancks Einführung der Quantentheorie oder etwa Robert Goddards Raketenexperimente. Knapp formuliert lässt sich sagen: Der Personenkreis, der sich von 1914 bis 1921 regelmäßig in der Wohnung der Arensberg traf, war fest entschlossen, sich von einem Weltbild zu verabschieden, das im spezifischen Kontext des 17. Jahrhunderts in Europa als kartesianisch-newtonsche Fundament entstand und das erst an der Wende zum 20. Jahrhundert vorrangig durch die Entwicklungen in der Physik unübersehbare Risse erhielt. Walter Arensberg galt übrigens in New York als Vater dessen, was später DADA genannt wurde. Und zwar bevor sich eine Personengruppe aus dem Künstlermilieu 1916 im Züricher Café Voltaire diesen Namen gab. Die DADA-Bewegung ist gleichsam der nächste Evolutionsschritt einer ´Kunst ohne Werk´ nach den Anfängen in der Romantik, also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
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Der Konflikt, den die junge Künstlergeneration in den
60er-Jahren am Beispiel Duchamp entfachte, war zu diesem Zeitpunkt
längst ein wesentliches Diskursaggregat der modernen
Kunst. Das zeigen die vielfältigen Bezugnahmen der Neoavantgarde
nach 1945 auf die Positionen der klassischen Avantgarde im
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dieser Sachverhalt wird
vollends schlüssig, wenn systemtheoretisch verstanden,
Konflikte als operationalisierte, Kommunikation gewordene
Widersprüche definiert werden. "Als soziale Systeme
sind Konflikte autopoietische, sich selbst reproduzierende
Einheiten. Einmal etabliert, ist ihre Fortsetzung zu erwarten
und nicht ihre Beendigung" (Luhmann 1987: 537).
An dieser Stelle möchte ich gleich betonen, dass Kunst nur als ein soziales System im Zusammenhang anderer Systeme in der Gesellschaft verstanden werden kann. Für ein Verständnis der Entwicklungen in der Kunst ist es weiters unabdingbar, diese ebenso im Zusammenhang der soziokulturellen Veränderungen von Kommunikation und -medien zu betrachten. Besondere Aufmerksamkeit muss dabei den dynamisch-komplexen Prozessen von kultureller Produktion, Distribution, Zirkulation, Konsumption und Reproduktion zukommen. Die Selbstreproduktion im Kunstsystem läuft autopoietisch innerhalb einer operativen Grenze, die System/Umwelt-Differenz, die zugleich selbstorganisatorische Geschlossenheit und energetische Offenheit bedeutet. Der zirkuläre Wirkungszusammenhang von System und Umwelt ist füreinander Quelle von Perturbationen (Störungen, Turbulenzen), nach einem der Altmeister des Radikalen Konstruktivismus, Heinz von Foerster, nennt man das: "order from noise principle" (Foerster 1960: 31ff).
Auch wenn die Kunst als eine Ideenevolution verstanden werden kann, ist es für Einsichten in ihre komplexen Zusammenhänge wenig förderlich, die diversen Künstlerheroen mit ihren sogenannten ´formalen und historischen Überschreitungen´ einfach abzufeiern. Systemtheoretisch gesehen, sind es die Perturbationen - also die Störungen, die im Wirkungszusammenhang von System und Umwelt entstehen -, die auf die systemreflexiven Prozesse von Differenzierung und Rekombination variierender, seligierender und stabilisierender Mechanismen Einfluss nehmen. Im Zusammenhang mit den Umweltfaktoren des sozialen Systems, wie den physischen und psychischen Ressourcen, etwa die Handlungsträger usw., kommt es via Rückkopplungsschleifen zu strukturellen Veränderungen im System. Der Begriff Struktur muss in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der Selbstreproduktion her verstanden werden, als autopoietischen Vollzug. Veränderungen in der basalen Struktur des Systems kommen in den Semantiken etwa als Auflösungs- und Rekombinationsvariationen von Medium und Form - eine lose gekoppelte Korrelation - gleichsam seismographisch zum Ausdruck. Das gilt selbstverständlich auch für die sogenannten Innovationen. In Konsequenz dieser Sichtweise, können Veränderungen in der Gesellschaft - auch nicht der Wechsel der Semantiken in der Kunst - auf das Grundelement ´Mensch´ zurückgeführt werden. Denn auf der Ebene des Gesellschaftssystems hat nur die gesamtgesellschaftliche Evolution selbst als soziologisch produktiv Geltung. Die Sozialstrukturen sind sowohl Produkte als auch Bedingungen und bilden den Rahmen für die sozialen Kämpfe in Permanenz, die die Wirklichkeitssphären immer neu formieren.
Die Antwort auf die Frage, woraus denn soziale Systeme bestehen, lautet: "...aus Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung. Kein Moment wäre ohne das andere evolutionsfähig gewesen" (Luhmann 1987: 240). "Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme" (Luhmann 1987: 241). Die Letztelemente, das sind die Kommunikationen, sind keine wie immer geartete Seins-Einheiten und erhalten ihre Einheit auch nicht durch die selektive Zurechnung eines Beobachters, sondern einzig als Bezugsmomente der Verknüpfungsweise durch die Selbstreferentialität des Systems selbst.
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Die Kunst stellt nur ein kulturelles Prinzip neben anderen
dar und steht mit allen Kulturtechniken in Interaktion. Auf
beschreibbare Weise kann die Kunst zum existenziellen Nexus
eines Menschen beitragen, Subjektivität, Intersubjektivität
und die je eigene Vorstellung von Welt mitgenerieren. Sie
steht nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit, vielmehr leistet
sie mit ihren spezifischen Logiken und Verfahrensweisen ihren
Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeitsproduktion.
Unter dem kampfanalytischen, konflikttheoretischen Paradigma Bourdieus, ist die Kunst auch eine Kampfressource im Alltag gesellschaftlicher Machtkämpfe. Sie nützt dabei aber weniger einer Künstlerschaft etwa in Opposition zu hegemonialen Positionen in der Gesellschaft, sondern vielmehr jenem Personenkreis, der schon über ein gewisses Maß an verschiedenen Kapitalsorten (vgl. Bourdieu 1987; Laclau/Mouffe 1991) verfügt, also schon Repräsentant der Hegemonie ist. Denn bei allem Gewicht des ökonomischen Kapitals, kann der Einsatz von kulturellem und symbolischem Kapital in der Konkurrenz um Legitimationsmacht den Ausgang eines Konflikts entscheidend beeinflussen. Unter symbolisches Kapital wird all das subsumiert, was gemeinhin als Prestige, Renommee oder soziale Anerkennung bezeichnet wird. Bourdieu präzisiert das symbolische Kapital als eine mitunter gewaltige Macht, der es gelingt, "Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen" (Bourdieu/Passeron 1973: 12).
Die Kunst können wir auch als einen Verbund von Disziplinen verstehen, die mit ihren spezifischen Verfahrensweisen kulturelle Datenverarbeitung leisten. Diese Disziplinen stehen demnach für bestimmte Aufschreibesysteme; Friedrich Kittler hat diesen Begriff für Speichermedien in den Diskurs eingeführt. So gesehen, können wir die Kunst als Speichermedium ihrer permanent relationierenden Datenbestände definieren. Über die Epochen formierte sich eine "gepflegte Semantik", wie Luhmann es nennt, die sich mittels Differenzierung und Rekombination evolutionärer Funktionen und Mechanismen immer weiter fortschreibt. Luhmann definiert die Semantik der Gesellschaft als "ihren semantischen Apparat, ihren Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln" (Luhmann 1993: 19).
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Keinesfalls im Widerspruch zu dieser Darstellung steht mein
Hinweis, dass es in der Regel die Ideen und Manifestationen
verhältnismäßig weniger Einzelpersonen sind,
an die explizit weitere Kommunikationen anschließen,
oder anders gesagt: die somit weitreichend zum Diskurs beigetragen
haben. Bei der Nennung neoavantgardistischer Protagonisten/innen
einer ´Kunst ohne Werk´ müssen unbedingt
George Maciunas und Henry Flint genannt werden. In einem engeren
Kreis der Fluxus-Szene waren sie Hauptakteure einer marxistisch-gesellschaftskritischen
Fraktion. Im Zusammenhang der Aufführung Originale
von Karlheinz Stockhausen, 1964 in New York, bezogen sie entschieden
Opposition zu einem Großteil der Gruppe, die eher die
Linie von Duchamp vertrat. In dem bekannten Brief vom 1. Februar
1964 an Fluxus-Mitglied Tomas Schmit schrieb Maciunas, dass
die Fluxus-Ziele soziale und nicht ästhetische sind.
Ganz nach dem Vorbild der LEF-Gruppe, die ´Linke Front
der Künste´ in der Sowjetunion der 20-er Jahre,
plädierte Maciunas dafür, dass die Künstler
ihre Fähigkeiten "auf sozial konstruktive Ziele
zu richten" hätten. Etwa im Bereich der angewandten
Künste, wie "industrielles Design, Journalismus,
Architektur, Ingenieurwissenschaft, grafisch-typographische
Künste" usw., "die alle den schönen Künsten
nahe verwandte Bereiche sind und dem schönen Künstler
beste Berufswechselmöglichkeiten bieten" (Maciunas
1965: 36). Ha - das passt doch vollends ins neoliberale Konzept
von Creative Industries. Allerdings verknüpfte Maciunas
seine Empfehlung für die Künstler mit der Hoffnung,
dass diese die kapitalistische Gesellschaft revolutionieren
würden, um dieselbe in ein sozialistisches Paradies zu
verwandeln.
Politisch eher radikaldemokratischen Emanzipationsansprüchen zuzurechnen ist Joseph Beuys, der das Duchampsche Antikunst-Prinzip durch das Konzept von der ´sozialen Plastik´ ersetzte, um seine künstlerische Tätigkeit in den Bereich der praktischen Politik auszudehnen. 1964 schrieb Beuys in der Düsseldofer Aktion, die für das Fernsehen aufgezeichnet wurde, auf eine weiße Tafel den Satz: "Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet." Diese Aktion muss für sein Schaffen programmatisch verstanden werden. 1967 gründete Beuys die Deutsche Studentenpartei, 1971 die Organisation für Direkte Demokratie und 1972 die Freie internationale Universität. Fraglos hat Joseph Beuys als Lehrer und Künstler, der sich übrigens virtuos der Massenmedien zu bedienen wusste, zum kritischen Denken und Handeln vieler seiner Mitmenschen beigetragen. Zugleich errang Beuys noch zu Lebzeiten die höchsten Ränge in den Kunstcharts. Seine Objekte, oft bloß Teile von Aktionen, wurden alsbald wie Reliquien gehandelt und fanden weltweit Eingang in Ausstellungshäuser und Museen.
Heute würde wohl niemand behaupten, dass der Meister einer ´Kunst ohne Werk´ kein Werk hinterlassen hätte. Das künstlerische Schaffen von Beuys ist ein Musterbeispiel für Form als Antiform, für Kunst als Antikunst, für Markt als Antimarkt. Seine Manifestationen, die sich vom Anspruch her jeder Be- und Verwertung entziehen sollten, landeten schließlich doch als aussichtsreiche Kapitalanlage bei namhaften Kunstsammlern. Dennoch oder vielleicht deswegen ist Beuys als Referenzfigur für heutige Vertreter/innen einer ´Kunst ohne Werk´ noch immer hoch im Kurs.
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Das Schicksal der Musealisierung ereilte alle namhaften Bewegungen
einer ´Kunst ohne Werk´: Fluxus, Arte povera,
verschiedenste Formen der Junkart bis hin zur Process- und
Conceptart, nur um einige Strömungen der Neoavantgarde
zu nennen. Selbst das kleinste Erinnerungsstück an eine
Aktion, auch lediglich Dokumente etwa über Happenings
in dieser Ära, gelangten in den Kunstmarkt. Was von alldem
geblieben ist, sind die kunstimmanenten Leistungen, die Entschlossenheit,
die tradierten Konflikte radikal zu Ende zu denken. Effekte
über die Sphäre der Kunst hinaus sind, wenn überhaupt
nachweisbar, eher marginal. Ein reines Phantasma bleibt die
Vorstellung, das Kunstsystem wäre in der Lage, andere
soziale Systeme zu penetrieren. Systemtheoretisch liegt ein
Fall von Penetration erst dann vor, wenn ein System die eigene
Komplexität - und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz und
Selektionszwang - zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung
stellt. Die Kunst kann sich bestenfalls an einer emanzipatorischen
Politik orientieren, deren Ziel es nicht sein kann, selbst
zu einem hegemonialen Block zu werden. Aber dafür fehlen
der Kunst ohnehin alle Mittel.
Bei entsprechend gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen ist aber ein Impakt der Kunst auf die Sphäre des Politischen - aber nicht direkt auf die Politik - durchaus möglich. So geschehen bei den studentischen Revolten in den 60er- und 70er-Jahren, wobei Kunsttheorien und ästhetische Strategien der sogenannten Situationistischen Internationale nachweislich ihren Einfluss hatten. Der Hauptsprecher der SI, Guy Debord, forderte schon 1958 eine kulturelle Revolution. Dazu entwickelte er eine Theorie der situationistischen Aktion, vorrangig um das Elend bestimmter Kulturformen zu beenden, nicht zuletzt eines längst "verfaulten Kadavers, der Kunst." Den Marxistisch-Leninistisch-orientierten Teilen der Protestbewegung blieben die Ideen der SI eher suspekt. Wollten erstere den Kapitalismus abschaffen, begnügten sich Vertreter von situationistischen Ideen damit, die "schöne Verwirrung des Lebens bis zur Vollkommenheit zu treiben" (vgl. Ohrt 1990). In gewisser Weise auch so eine Forderung, die sich ja seitdem gesamtgesellschaftlich eingelöst hat.
Seit der Gründung der SI entfaltete sich zumeist im Zusammenhang von Jugendkulturen ein breites Spektrum zwischen Kunstkultur und Soziokultur. Das heisst, es entstanden Handlungsmuster und künstlerische Artikulationsformen, die zwischen den Kriterien der symbolischen und der sozialen Rentabilität hin und herpendeln. Minimalkonsens aller Unternehmungen ist die Revolte gegen die Kulturelle Grammatik. Per Definition strukturiert diese alle sozialen Räume und ist Ausdruck gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Berühmte Vorläufer mit Anschlussnachweis sind die Surrealisten und Dadaisten. In der langen Reihe mit und nach der SI stehen beispielsweise die Beatniks, man denke an die Cut Ups-Theorie von William. S. Burroughs; die Gruppe Spur/Subversive Aktion; die Kommune 1; die Enragés (die Zornigen), die im Verbund mit der SI die Autoren zahlreicher Parolen, Plakate und Wandzeitungen im Pariser Mai 1968 waren; weiters die Provos; Barbie Liberation Organization (BLO); die Yippies; Indiani Metropolitani, man denke an Radio Alice - ein frühes prominentes Beispiel für einen freien Radiosender jenseits werbewirtschaftlicher Sachzwänge; nicht zu vergessen Agentur Bilwet und die Neoisten. Die Namensreihe müsste der Vollständigkeit halber noch mit vielen weiteren gefüllt werden. Die meisten dieser Unternehmungen wollten mit Kunst nichts mehr zu tun haben und sind dennoch in einem wechselseitigen Verhältnis mit ihr verbunden. Eindeutig stehen sie alle in der Tradition einer ´Kunst ohne Werk´.
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Die Ideenevolution der literarisch-künstlerischen Moderne
korrespondiert nachweislich mit den Entwicklungen in den modernen
geistes-, natur- und technisch-wissenschaftlichen Disziplinen.
Das Korrelationsverhältnis von Semantik und Sozialstruktur
erklärt hinlänglich, dass alle Entwicklungen wiederum
mit gesamtgesellschaftlichen Strukturänderungen verbunden
sind. Auch die sogenannte Kulturrevolution der 60er-Jahre
erweist sich rückblickend als eine Anpassungsbewegung,
die dazu beitrug, den westlichen Gesellschaften nach dem Niedergang
der bürgerlichen Denk- und Lebensformen den Weg in die
Massendemokratie zu ebnen. Nicht ganz falsch ist meiner Meinung
nach auch die Einschätzung, dass die Neoavantgarde nach
1945, gemessen an der klassischen Moderne - mit der sie ja
evolutionär verbunden ist -, weithin Avantgarde in Kitsch
verwandelt ist. Kunstkitsch, der nicht erst seit den 80er-Jahren
die Funktion inne hat, die Kunstkultur etwa mittels zunehmender
Popcodierung mit den pluralistischen Geschmacksorientierungen
der Massendemokratie zu versöhnen.
Egal wie die kunstdiskursive Kritik gegen traditionelle Formen der bildenden Kunst auch lauten mögen, der gewichtigste Grund für die Verwerfung etwa von Tafelbild und Skulptur sind die Veränderungen in unserer Apperzeption im Zusammenhang neuer Standards für medial vermittelte Kommunikation. Die Kunst insgesamt, aber besonders alle ´Kunst ohne Werk´ kann auch nur im Zusammenhang mit der Expansion der Massenmedien verstanden werden. Das gilt schon vor dem Aufkommen der sogenannten Medienkunst seit Ende der 50er-Jahre, die in ihren Anfängen nicht zufällig als "kybernetische Kunst" (vgl. Claus, 1985) bezeichnet wurde. Wie die Geschichte dieser Kunstsparte zeigt, ist der Anspruch des Begründers der Kybernetik, Norbert Wiener, nämlich die Ingenieurs- und Humanwissenschaften in der Kybernetik zu vereinen, von der Medienkunst im Bereich der Kunst - d.h. mit künstlerischen Logiken - etabliert worden. Mit der Verwendung der Videotechnik, schon in der Fluxusbewegung, bis zu den dynamisch-komplexen Netzprojekten im Internet heute, lässt sich Wieners Anspruch als eine wesentliche Leitorientierung der Medienkunst erkennen. Mit den steigenden Ansprüchen von sogenannten Beobachter-Anordnungen in der Kunst, rückten insgesamt immer mehr die Verbindungen zwischen verschiedenen Aktoren in den Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung. Die explizit Kommunikations-orientierten Arbeiten formierten und formieren sich im Rahmen soziotechnischer Ensembles von Menschen und Telemaschinen in einer kybernetisch-medialen Welt.
Seit den 90er-Jahren gibt es in den jungen Szenen der Kunstkultur wieder vermehrt die Tendenz, das Kunstobjekt - das in den 80er-Jahren als Pastiche und Textform seinen bislang letzten Höhepunkt hatte - durch vielfältige Spielarten von Dienstleistung abzulösen. Auch wenn diese Praktiken gegen die Instrumentalisierung der Kunst als Repräsentationskultur ins Treffen geführt werden, ist gerade da die strukturelle Determination und Koppelung der Kunst an die gesamtgesellschaftlichen Prozesse unübersehbar. Einerseits steht dieser Trend analog zur neoliberalen Wirtschaftspolitik, wenn etwa die Produktion in die Billiglohnländer ausgelagert wird und vermehrt in den Dienstleistungssektor investiert wird. Andererseits sind viele dieser Kunstpraktiken eindeutig als Kritik am Neoliberalismus zu verstehen, wenn sich etwa Vertreter/innen einer ´Kunst ohne Werk´, wie schon in den 60er- und 70er-Jahren, mit diversen sozialen Bewegungen und ihren Forderungen verbinden. Forderungen demokratiepolitischer Art, die von kapitalismuskritischen, feministischen und multikulturellen/ethnopluralistischen Theorien geprägt sind; angeleitet von Themenkomplexen etwa um die Bedeutungen von Geschlecht, Klasse, Rasse, Ethnie, Nationalität, sexuelle Präferenzen undsoweiter. Diesen Praktiken liegt ein Verständnis von Kunst zugrunde, wie es Judith Butler in Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity ausdrückt: "Das ´Undenkbare´ gehört also vollständig in die Kultur hinein; vollständig ausgeschlossen ist es hingegen von der herrschenden Kultur" (Butler 1991: 121).
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Auch die ´Kunst ohne Werk´ hat sich rückblickend,
wie die moderne Kunst insgesamt, als sehr erfolgreich erwiesen.
Ihre Theorien und Praktiken leben heute in vielfältigen
Ich-Konstrukten weiter fort. Beispielweise in den Sphären
von sogenannten Lebensästheten, die zumeist nur marginal
mit Kunst zu tun haben. Lebensästhetik hat nichts mit
klassisch-ästhetischem Empfinden, mit Geschmack im Sinne
von Stil oder ähnlichem zu tun, sondern steht für
eine Haltung, bei der es grundsätzlich um die geglückte
Einordnung des eigenen Tun ins individuelle ästhetische
Ich-Konstrukt in skalierbaren Lebenswelten geht. Was also
einstmals nur Künstlerkreise und vereinzelte Exzentriker
für sich beanspruchen konnten, findet sich heute in der
gängigsten Sozialisationsausprägung zwischen 18-
und 40-Jährigen. So unterschiedlich sie untereinander
auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen die Vielfalt und
Widersprüchlichkeiten von Einstellungen und Selbstbezügen,
das Denken in Brüchen, unbekümmertes Recycling:
Sample, Mix und Remix. Deterritorialisierte Kommunikation
und dekontextualisierte Information, Kennzeichen aller modernen
literarisch-künstlerischer Avantgarden - denken Sie an
die Montage- und Collagetechniken oder an Cut-Ups, die sich
in der digitalen Kultur als Samples fortsetzen -, das alles
ist für den Lebensästheten, der zugleich Internet-User
ist, heute ganz selbstverständlich geworden.
Ein wesentlicher Schlüsselbegriff zum Verständnis
von Gesellschaftsstruktur und Semantik ist Komplexität.
Deshalb orientiert sich die funktionale Analyse in der Systemtheorie
am Problem der Komplexität statt am Problem der Erhaltung
der Bestände (vgl. Luhmann 1987: 90). Wenn die Entwicklung
der Medien und Formen, wie Niklas Luhmann vorschlägt,
unter dem Aspekt der Komplexitätsbewährung betrachtet
wird, dann ist diese zugleich die Geschichte der erfolgreichen
semantischen Erfindungen. Das gilt selbstverständlich
auch für die Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst
und mithin für eine ´Kunst ohne Werk´. Unter
diesem Aspekt wird verständlich, dass in den letzten
Jahrzehnten ein allgemeiner Methodenwandel der Komplexitätsbewältigung
stattgefunden hat - vom Reduktionismus (Zentralisierung, Hierarchisierung)
zur Abduktion (Dezentralisierung, Zerstreuung und Vernetzung).
Literatur:
Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter,
Frankfurt/Main.
Bourdieu, Pierre; Passeron, J.C. (1973): Grundlagen einer
Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt/M.
Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik
der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M.
Foerster, Heinz von (1960): On Self-Organizing Systems
and Their Environments, in Yovits/Cameron (Hg.), Self-Organizing
Systems, Oxford.
Claus, Jürgen (1985): ChippppKunst: Computer - Holographie
- Kybernetik - Laser, Frankfurt/M., Berlin.
Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und
radikale Demokratie, Zur Dekonstruktion des Marxismus,
Wien.
Lebel, Robert (1972): Marcel Duchamp, Von der Erscheinung
zur Konzeption, Köln.
Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß
einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.
- (1993): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur
Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1. Frankfurt/M.
Maciunas, George (1965): Brief an Tomas Schmit vom 1. Februar
1964, in Jürgen Becker/Wolf Vostell (Hg.), Happenings,
Fluxus, Pop Art, Noveau Réalisme, Hamburg.
Ohrt, Roberto (1990): Phantom Avantgarde, Eine Geschichte
der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst,
Hamburg.
Richardson, Joan (1990): Ein anderer Reality Club,
in John Brockman (Hg.), Neue Realität, München.
Richter, Hans (1978): Dada, Kunst und Antikunst, Köln.
Stachelhaus, Heiner (1989): Joseph Beuys, Leipzig.