03 2000
Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts
"Nieder mit einer Kunst, die nichts ist als ein Schönheitspflaster
auf dem widerwärtigen Leben der Reichen.
Nieder mit einer Kunst, die ein funkelnder Stein im trostlosen
und schmutzigen Leben der Armen sein soll.
Nieder mit Kunst, die dazu da ist, einem Leben zu entfliehen,
das es nicht wert ist, gelebt zu werden.
Arbeite fürs Leben und nicht für Paläste, Kathedralen,
Friedhöfe und Museen. Arbeite mitten in allem und mit
jedem."
Alexander Rodtschenko, Slogans, 1920/21
Befasst man sich mit der Kunstgeschichte, so erscheint das
dominante Thema der neunziger Jahre, die Saga vom großen
Umbruch mit seinem Paradigmenwechsel, nicht so sehr als radikale
Kunst Neu, sondern viel mehr als Umfokussierung in
der Bestimmung dessen, was als aktuell und relevant gilt.
Tatsächlich handelte es sich um eine Aktualisierung von
Diskursen und Praktiken, mit denen Künstlerinnen und
Künstler während des gesamten 20. Jahrhunderts beschäftigt
waren.
Am Beginn steht das Projekt Moderne. Es ist dem Geist
der Aufklärung verpflichtet, fortschrittsorientiert,
gerechtigkeitsbewusst, optimistisch. Sein Vor-Schein glüht
im ersten Theaterstück des 20. Jahrhunderts, Cechovs
1900 geschriebenen und im Frühjahr 1901 uraufgeführten
"Drei Schwestern". Selbst diese rudimentär
gebildeten, in ihrem öden russischen Provinznest von
allen intellektuellen Diskursen abgeschnittenen unglücklichen
Gestalten fühlen die Utopie der Jahrhundertwende: In
Zukunft wird es glückliche Menschen geben, denen
nicht mehr vorstellbar sein wird, wie jämmerlich unfrei
sie - die, aus heutiger Sicht, Vor-Modernen - gelebt haben.
Als 1917 die Revolution das Zarenreich in die Sowjetrepublik
verwandelt, sind Künstlerinnen und Künstler dabei
maßgeblich mit dem Entwurf der neuen Gesellschaft befasst.
Lenin selbst thematisiert wiederholt ihre tragende Rolle.
In ihrer zentralen Forderung verfolgen die Konstruktivisten
das selbe Ziel wie die gesamte europäische Avantgarde
nach dem Ersten Weltkrieg: Kunst und Leben zu verbinden, die
indifferente Autonomie der Kunst der bürgerlichen Salons
des 19. Jahrhunderts zu brechen.
Die Stoßrichtung ist in den verschiedenen Ländern
und Bewegungen allerdings immer wieder anders justiert und
mit unterschiedlichen politischen, sozialen, institutionskritischen
oder individualistischen Forderungen verknüpft.
Zur Verdeutlichung: Auch das Projekt der italienischen Futuristen
war ein politisches, doch mit seinem tiefen Elitismus und
Nationalismus dem Faschismus verbunden. Auch die Futuristen
riefen die Kunst ins Leben zurück. Im Futuristischen
Manifest von 1909 steht ein Satz wie von Rodtschenko: "Wir
wollen die Museen zerstören." Doch bei Marinetti
steht auch: "Wir wollen den Krieg preisen, die einzige
Hygiene der Welt, den Militarismus, den Patriotismus."
Das Individuum gibt es hier nur als Mann am Lenkrad, die Massen
werden nur als Statisten im Widerschein der glorreichen Industrialisierung
gezeichnet.
Die Futuristen werden oft als Gegenbeweis ins Treffen geführt,
wenn Kunst als Gesellschaftsintervention grosso modo als linkes
Projekt definiert wird. Die Futuristen allerdings haben sich
nicht mit den faktischen Lebensbedingungen der Menschen befasst.
Umberto Boccioni schreibt 1910 in einem an Marinetti anschließenden
Manifest: "Das Leiden des Menschen interessiert uns im
gleichen Maß wie das Leiden einer elektrischen Glühlampe,
die mit zuckenden Anläufen ein herzbewegendes Farb-Kreischen
ausstößt."
In einer Art Wunschdenken unterstellen wir Kunst als Gesellschaftsintervention
kritische, emanzipatorische, aufklärerische Ansprüche.
Das verortet sie im Zusammenhang traditionell als links bezeichneter
Praxen. Was heisst links? Der italienische Philosoph
Norberto Bobbio hat 1994 einen Essay mit dem Titel "Rechts
und Links" veröffentlicht. Darin erklärt er
die Zwillings-Begriffe auch nach dem Ende des Staatskommunismus
in Europa, in einer Zeit des unangefochtenen Primats ökonomischer
Interessen über politische Weichenstellungen als notwendig.
Bobbio kommt zu dem Schluss, dass es keineswegs obsolet sei,
links mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu assoziieren.
Freilich ist auch in der linken Theorie der Anspruch auf Gesellschaftsgestaltung
durch Kunst nicht unumstritten. In der Philosophie der Frankfurter
Schule gibt es dazu durchaus divergente Anschauungen. Einerseits
scheint klar, dass es kein Außerhalb der ökonomisch-determinierten
Machtstrukturen und kein reines Bewusstsein gibt. In
Zusammenhang mit der autoritätskritischen und prozesshaften
Kunst der Neunziger muss man darauf hinweisen, dass auch Projekte,
Aktionen, Texte und andere nicht-objekthafte Formen längst
einen eigenen Markt bedienen. Ebenso ist die eigene ideologische
Prägung oft der blinde Fleck, der im Prozess der Ideologiekritik
ausgespart bleibt.
Theodor W. Adorno ging davon aus, dass Kunst im Zeitalter
der Massenmedien und der Kulturindustrie zerfällt in
eine den Massen zugängliche, das heisst verständliche,
also populäre Kultur und eine sperrige, verschlüsselte,
sich entziehende Avantgarde, deren Hermetik und Elitismus
er als Reservoir von Widerstand verteidigt. Damit leugnet
er die Möglichkeit einer emanzipatorisch-partizipativen
Kunstpraxis.
Herbert Marcuse dagegen sieht gerade in der Marginalität
und Randständigkeit der Kunst ihren affirmativen Charakter
- als abgegrenzte Zone, in der gesellschaftliche Probleme
und Neurosen folgenlos ausagiert werden können. Also
wieder nichts mit gesellschaftsverändernder Wirksamkeit.
Und Jürgen Habermas spricht von einer "falschen
Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben", womit er
sich mit Marcuses "repressiver Entsublimierung"
trifft, die eine Lockerung gesellschaftlicher Zwänge
zum Zweck besserer ökonomischer und institutioneller
Kontrolle meint.
Dass viele Überlegungen der Frankfurter Schule auf heutige
Verhältnisse nicht mehr passen, hat mit den Veränderungen
von Medien, Machtstrukturen, der Entstehung von immer neu
sich formierenden Teilöffentlichkeiten, von Informations-
und Kommunikationsformen zu tun. Ein Problem etwa, mit dem
linke KünstlerInnen und KulturarbeiterInnen sich heute
auseinandersetzen müssen, ist das der Kulturalisierung
- der Übertragung virulenter Konflikte in Kunstereignisse.
Was bedeuten und bewirken zum Beispiel Veranstaltungen wie
"Filmtag gegen Rassismus" oder "Clubbing gegen
Fremdenfeindlichkeit"?
Norberto Bobbio hält den Begriff der Gleichheit
für zentral in einer heute aktuellen linken Weltanschauung.
Die Verknüpfung von Kunst mit linken Leitideen kann auf
verschiedenen Ebenen stattfinden. Einmal in der Botschaft,
die ein Werk formuliert: berühmte historische Beispiele
sind George Grosz' fratzenhafte Kapitalistenportraits oder
die Arbeiter-Fresken von Diego Rivera. Links ist aber
auch das Bemühen, den Kunstbetrieb weniger elitär
zu machen, wie es etwa die "Art Workers Coalition"
in New York ab 1969 versucht hat, indem sie der weißen
Herrscher-Attitüde des Museum of Modern Art Widerstand
entgegensetzte. Oder eine Zusammenarbeit von KünstlerInnen
mit Nicht-KünstlerInnen.
In den zahllosen Manifesten der russischen Konstruktivisten
wird Gleichheit als Schulterschluss der bildenden Künstler,
der Architekten und Literaten mit den Arbeitern und Bauern
formuliert. Das beschworene Gemeinsame bleibt aber abgesehen
vom sehr großzügig beschriebenen Ziel der kommunistischen
Gesellschaft unklar.
1920 ruft Tatlin das Programm der "Produktivistengruppe"
aus, mit dem er sich gegen den zunehmenden Individualismus
der Konstruktivisten wendet. 1923 muss in der von Wladimir
Majakowski gegründeten Zeitschrift LEF (Linke Kunst Front)
gemahnt werden: "Konstruktivisten! Nehmt euch in acht
davor, zu einer ästhetischen Schule zu verkommen. [...]
Produktionskünstler! Nehmt euch in acht davor, Handwerker
der angewandten Kunst zu werden. Lernt von den Arbeitern,
während ihr sie unterrichtet. Eure Schule ist die Fabrik."
Die populäre Kunstgeschichte hat den russischen Konstruktivismus
auf Malewitschs "Schwarzes Quadrat" und vielleicht
noch Tatlins "Turm"-Entwurf reduziert. Rodtschenko
wird heute als Fotograf vermarktet, und die Arbeiterkleidung
von Warwara Stepanowa in Kunst & Mode-Ausstellungen neben
Elsa Schiaparelli gezeigt. Kaum mehr geläufig ist der
Terminus "Produktionskunst", mit dem für eine
gleichberechtigte Interaktion zwischen Künstlern und
Industriearbeitern eingetreten wurde.
Das Problem, das gegen Ende der neunziger Jahre wieder evident
wird, kann schon zu Beginn der linken Kunst nicht gelöst
werden: Die Gleichheit von Künstlern und Nicht-Künstlern
in von Künstlern erdachten und initiierten Projekten
bleibt Fiktion. Selbst ProduktionskünstlerInnen wie Alexander
Rodtschenko und Warwara Stepanowa, die im Gegensatz zu anderen
Konstruktivisten die Malerei bewusst aufgeben, sehen sich
schließlich als Lehrende und als Grafikdesigner, die
für die statt mit der Bevölkerung arbeiten.
Ihr pädagogischer Idealismus zeigt sich in der von ihnen
und anderen, darunter Majakowski, entwickelten Bildersprache
für Analphabeten, die sowohl für politische Propaganda
wie für Produktwerbung benutzt wird.
In der Gleichstellung von freier und angewandter Kunst sind
die russischen Revolutionskünstler den Kunstschaffenden
der neunziger Jahre verwandt. Mit einem Unterschied: Wenn
eine Künstlerin heute Grafik macht, dann meist als Katalog,
Flyer, Broschüre oder mit anderen Kommunikationsmitteln
innerhalb des Kunstbetriebs. So entspräche dem
Arbeiterklub, den Rodtschenko 1925 eingerichtet hat, heute
der Club für Cultural Worker "Depot - Kunst und
Diskussion" in Wien, dessen Einrichtung 1994 der Künstler
Josef Dabernig gestaltet hat.
In der europäisch/US-amerikanischen Kunstgeschichtsschreibung
wird der Konstruktivismus als formaler -Ismus unter andere
-Ismen eingeordnet. Doch in der Zeitspanne vom Jahrhundertbeginn
bis zur sowjetischen Isolierung unter Stalin (Lenin starb
1924) dominierte noch der rege Austausch politischer Ideen
zwischen russischen und deutschen Künstlern. Von den
Russen beeinflusst war z.B. das Manifest der deutschen "November-Gruppe",
gegründet nach der gescheiterten Revolution im November
1918. Ihre Richtlinien, veröffentlicht 1919, könnten
aus einem Manifest der "Art Workers Coalition" im
New York von 1969 stammen und decken sich ebenso mit aktuellen
Forderungen:
"Wir verlangen Mitsprache und eine aktive Rolle bei:
Allen Architekturprojekten als Sache im allgemeinen Interesse:
in der Stadtplanung, bei neuen Siedlungen, bei den öffentlichen
Gebäuden der Verwaltung, der Industrie, sozialen Einrichtungen,
bei privaten Bauprojekten [...]
Wir verlangen:
Die Reorganisation von Kunstakademien und ihrer Lehrpläne
[...] die Wahl der Lehrer durch Künstlervereinigungen
und die Studierenden [...]
Die Umwandlung von Museen: die Ausmerzung von Vorurteilen
in der Sammlungspolitik, Schluss mit dem Erwerb von Objekten,
die nur Wert für Gelehrte haben [...] Die Umwandlung
der Museen in Kunstzentren für die Bevölkerung [...]
Die Zugänglichkeit von Kunsthallen: weg mit Privilegien
und kapitalistischem Einfluss [...]
Gesetzgebung in Künstler-Angelegenheiten: Rechte für
Künstler als geistige Urheber, der Schutz künstlerischen
Eigentums, die Streichung aller Steuern für Kunstwerke."
Wenig später wurde die "November-Gruppe" von den "Gegnern der November-Gruppe" als falsche Revolutionäre attackiert. Die Widersacher sind heute prominenter: Otto Dix, George Grosz, Raoul Hausmann, Hannah Höch. Damit ist die Dada-Bewegung angesprochen, die freilich unter einem viel weiteren, viel anarchistischeren Politikbegriff gefasst werden muss als der Konstruktivismus, mit dem Dada vor allem die Ablehnung der Bourgeoisie verband.
Die Ausblendung der Ideologie des Konstruktivismus begann
schon in der Zwischenkriegszeit. Ab den späten zwanziger
Jahren galten drei Konzepte als die drei Leitkoordinaten der
Kunst: Abstraktion, Realismus, Surrealismus.
Populäre Kunstgeschichts-Werke sind Bilderbücher.
Da Kunst bis heute zum allergrößten Teil auch
Bilder und Objekte produziert, wird ihr Gehalt nach wie vor
durch die Abbildungs-Konvention verfälscht, Weltanschauung
unterdrückt. In Kunstbüchern sieht man im Kapitel
über die sechziger Jahre Andy Warhols Brillo Boxes und
Roy Lichtensteins Gemälde von Druckvorlagen. Was man
nicht sieht? Zum Beispiel die Nachbarschafts-Projekte, die
Stephen Willats seit Mitte der Sechziger mit BewohnerInnen
englischer Wohnsiedlungen durchgeführt hat, in denen
er mit ihnen gemeinsam ihre Lebensbedingungen untersucht hat.
Die Überlieferungsform des Bilderbuchs ist Begleiterscheinung
eines Kunstsystems, das in seinem Kern über Handelsware
funktioniert. Alle großen Institutionen dieses Systems
brauchen Kunst, die über Einzelobjekte vermittelbar ist:
die Museen, die Kunsthallen, die Auktionshäuser, die
Galerien, die begleitenden Magazine, usw. Sobald Künstlerinnen
und Künstler etwas anderes produzieren als transportable
und abbildbare Objekte oder Installationen, fallen sie aus
der kunstgeschichtlichen Überlieferung und Kanonisierung
heraus. Ihre Sichtbarkeit und damit Breitenwirksamkeit ist
beschränkt.
Erst seit kurzem wird die historische Phase der Konzeptkunst
museal aufbereitet - die Ausstellung "Reconsidering the
Object of Art" über die Zeit von 1965 - 1975 fand
1996 im Museum of Contemporary Art in Los Angeles statt. 1997
entwarf Catherine David eine konzeptuell-politisch gewichtete
documenta. Doch die Vermittlung der Ideengeschichte gelingt
immer nur unzulänglich. Warum kennt man Jeff Koons,
nicht aber Dan Graham, warum ist Anselm Kiefer ein Star, und
von Robert Smithson hat man noch nie gehört?
Es fehlt eine Geschichte von Aktivismus und Partizipation
in der Kunst des 20. Jahrhunderts: eine andere Kunstgeschichte
mit dem Fokus auf partizipatorischen Unternehmungen mit kritisch-emanzipatorischer
Intention. Dabei ist klar, dass die Konstruktivisten und Produktivisten
nur als prä-partizipatorische Kunst verbucht werden können
und dennoch die Grundlage einer solchen Geschichte bilden
müssen.
Warum ist es überhaupt notwendig, die Kunstgeschichte
umzuschreiben? Muss der etablierte Kanon verändert werden?
Die historischen Grundlagen neu beleuchten und kritische künstlerische
Praktiken in die Kunstgeschichte einschreiben: Nur auf dieser
tragfähigen Basis kann man Kunstbegriffe nachhaltig neu
definieren. Ohne dieses Geschichts-Bewusstsein sind immer
wieder Angriffe auf sozial und politisch engagierte Kunst
möglich, die ihre Autorität mit dem Rückgriff
auf eine ästhetisch orientierte Kunstgeschichte legitimieren.
In Österreich erlebten wir im Herbst 1998 eine solche
Attacke des damaligen Rektors der Hochschule für Angewandte
Kunst. Kunst, schrieb Rudolf Burger, "kann nur einzelne
Problemmomente sinnlich pathetisieren und symbolisch oder
allegorisch illustrieren, und zwar immer nur nachträglich".
Alles andere sei Geschwafel. Oder keine Kunst.
Begriffsbestimmungen:
Der Fremdwort-Duden erklärt die Agitation als aufreizende
Werbung für bestimmte politische Anschauungen, die Animation
als Belebung und Anregung, den Aktivismus als Betonung des
zielstrebigen Handelns, die Partizipation als (vorübergehende)
Teilnahme.
Wie die Agitation ist der Aktivismus einem vorab formulierten,
meist politisch definierten Ziel verpflichtet, während
die Partizipation nichts anderes benennt, als dass irgendjemand
an irgendeinem Prozess, einer Handlung, einem Geschäft,
aber auch einem Gewinn oder Verlust im ökonomischen Sinn
beteiligt ist/wird. Partizipative Praktiken in der Kunst werden
grundsätzlich als Folge einer Unzufriedenheit mit dem
Status Quo entwickelt. Womit die KünstlerInnen
unzufrieden sind, daraus folgert der Charakter der angebotenen
Partizipation und das Ausmaß an Selbstbestimmung, das
den Teilnehmenden ermöglicht wird. Partizipation kann
von gleichberechtigten und gleichkompetenten PartnerInnen
ausgehen, kann im Sinn einer Zuwendung soziales Kapital (Wissen,
Fähigkeiten) an wirklich oder vermeintlich Unterprivilegierte
verteilen. Oder animieren: Wobei Animation eine kritische
Bezeichnung für Kunstprojekte in einem entertainment-orientierten
Club-Med-Stil ist, bei denen man in der Freizeitgestaltung
von KünstlerInnen angeleitet wird. Die Festivalisierung
von Kunst in den letzten Jahren hat uns vielfach solche Spektakel
beschert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein partizipativer Kunstbegriff
vor allem in interdisziplinären Kooperationen weiterentwickelt.
Am Black Mountain College in North Carolina, USA, trafen einander
unter anderen der Maler Robert Rauschenberg, der Musiker John
Cage und der Choreograph und Tänzer Merce Cunningham.
Sie entwickelten - zum Teil gemeinsam, zum Teil in ihrer individuellen
Arbeit - Werke mit partizipatorischen Ansätzen. 1952
etwa komponierte Cage "4' 33''", ein Stück,
das nur aus den Geräuschen im Konzertsaal besteht. Im
selben Jahr malte Rauschenberg seine "White Paintings",
deren integraler Bestandteil die Schatten der BetrachterInnen
sind. In beiden Arbeiten wird das Publikum quasi instrumentalisiert
und nicht eigenständig aktiv. Das mag nach heutigen Ansprüchen
an partizipatorische Praxis als ungenügend erscheinen,
als eine historische Vorstufe. Dennoch sind die Beispiele
interessant für eine Fein-Definition. Sowohl "4'
33''" als auch die "White Paintings" existieren
ohne Publikum entweder gar nicht, nicht komplett oder machen
keinen Sinn. Die Frage nach dem Anteil des Publikums in partizipatorischen
Projekten ist seit den frühen Neunzigern auch hierzulande
wieder hoch aktuell. Wann wird das Kunstwerk zum Kunstwerk?
Wenn die Künstlerin Christine Hill ihre Second-Hand-Boutique
eröffnet - wie in Berlin und dann auf der documenta X
-, oder erst wenn jemand dort ein Kleidungsstück kauft?
Immerhin definiert Hill ihre "Volksboutique" nicht
als Installation, sondern als sozialen Kommunikationsraum.
Auch die Veranstaltungen von Fluxus und Happening waren auf Partizipation ausgerichtet, doch die Publikums-Teilnahme verlief in den vom Künstler vorkonzipierten Bahnen. In der Folge bedeutet Partizipation manchmal das Angreifen von Kunstobjekten und das Eingreifen in deren Anordnung. Franz Erhard Walther legt Objekte, oft Textilien mit choreographischen Benutzungsanweisungen auf - damit der Skulpturenauffassung von Franz West verwandt, dessen Passstücke auch erst durch das Hantieren mit ihnen ihren Sinn erfüllen. Dieser Begriff von Partizipation eröffnet nicht unbedingt einen sozialen Raum.
In den sechziger Jahren dynamisiert sich die Emanzipationsbewegung
in der Kunst rasant. In Nordamerika, vor allem in den USA,
beeinflusst das Civil Rights Movement die Kunstszene entscheidend:
die Frauenbewegung, der Anti-Vietnam-Protest, der Kampf für
die Rechte ethnischer Minderheiten, Black Power. Grassroots-Organisationen
entstehen, Bürger und Bürgerinnen organisieren sich.
1969 gründen Künstlerinnen und Künstler anlässlich
eines Konflikts mit dem Museum of Modern Art die "Art
Workers Coalition". Bald organisiert die Koalition Proteste
und Veranstaltungen zur Museumspolitik, zur Repräsentation
von Frauen und Farbigen in der Kunstwelt, gegen die Vernachlässigung
sozial Benachteiligter in der kulturellen Versorgung und nicht
zuletzt gegen den Vietnam-Krieg. Diese Aktionen waren jedoch
nicht als Kunstwerke deklariert. Die Mitglieder - darunter
Nancy Spero und Leon Golub, Carl Andre, Robert Morris und
Lucy Lippard - betrieben daneben ihre individuelle künstlerische
Arbeit. Zur selben Zeit machte Vito Acconci partizipative
Aktionen, die unterschwellig politische Inhalte bargen. Im
Frühjahr 1971 etwa verbrachte er vier Wochen lang jede
Nacht auf einem verlassenen Pier am Hudson und lud öffentlich
dazu ein, ihn zwischen ein und zwei Uhr zu besuchen und sich
von ihm ein Geheimnis verraten zu lassen. Der Besucher wurde
zum Verbündeten, dem der Künstler sich auslieferte.
Eine Folge der Emanzipationsbewegungen war im Kulturbereich
die integrative Arbeit mit weniger privilegierten Gruppen.
Sie sollten ermutigt werden, ihre eigenen Ideen zu formulieren,
ihren eigenen kulturellen Ausdruck zu finden. "Giving
A Voice" ist die dazugehörige Parole. 1978 gründet
der Künstler Stefan Eins im Slum der South Bronx seinen
Kunstraum "Fashion Moda", der zum kulturellen Hochdrucktopf
wurde, in dem Graffitti, Rap, Populärkultur und High
Art miteinander gegart wurden.
Zahlreiche verwandte Projekte und Initiativen ließen
sich nennen: zum Beispiel die Laden-Galerie von "Group
Material" Anfang der Achtziger auf der Lower Eastside
oder Tim Rollins und seine Zusammenarbeit mit farbigen Ghetto-Jugendlichen
unter dem Label "K.O.S." (Kids of Survival).
Mitte der Achtziger hatte der soziale Druck unter den konservativen
Reagonomics und die Tragödie der Aids-Epidemie die US-Kunstszene
politisch re-mobilisiert. Bei "ACT UP", der "Aids
Coalition to Unleash Power", arbeiteten KünstlerInnen,
Cultural Worker und andere AktivistInnen miteinander an Strategien
gegen die Vedrängung der Aids-Krise durch die Regierung
und die zunehmend hysterische Homophobie und Kunstfeindlichkeit
von Politikern. "Art is not enough - Kunst ist nicht
genug" formulierte das Künstler-Aktivisten-Kollektiv
"Gran Fury".
Kunst oder Nicht-Kunst - in der Dringlichkeit des Aktivismus
wurde diese Frage hintangestellt und sollte erst als Konflikt
wiederkehren, als Propagandaposter von Aids-AktivistInnen
in Museen auftauchten.
Die dominante Figur der Kunst-Politik-Partizipations-Debatte
in Deutschland hatte nie einen Zweifel am Kunststatus gelassen.
Bei Joseph Beuys war alles Kunst: seine enigmatischen Objekte
ebenso wie seine Kandidatur für die Grünen, seine
autistisch anmutenden Performances ebenso wie die Gründung
der "Freien Internationalen Hochschule für Kreativität
und interdisziplinäre Forschung" 1974.
Kunst - Kunstbegriffe - politische Praxis: Wann wird was Kunst genannt, und wann wird das von wem akzeptiert? In der New Genre Public Art, wie eine Kunst im öffentlichen Interesse in Zusammenarbeit mit VertreterInnen verschiedener Teilöffentlichkeiten und Interessensgruppen in den USA genannt wird, ist das Beharren auf dem Kunststatus mit einem Durchsetzungsanspruch verknüpft. Das gilt auch in der scheinbar grenzenlos erweiterten Kunstpraxis der Neunziger in Europa, wo von einer karitativen Maßnahme bis zur Party, vom Vortrag zum Interview alles als Kunst definiert werden kann.
Seit Februar 2000, seit dem Antritt der rechten, national-populistischen
Regierung, waren und sind in Österreich Künstlerinnen
und Künstler maßgeblich im Widerstand aktiv. Interessanterweise
ist die Frage nach dem Kunststatus ihrer Projekte und Initiativen
dabei kein Thema.
Muss man feststellen, dass politische Praxis von KünstlerInnen
immer dann als Kunst reklamiert wird, wenn die gesellschaftliche
Wirksamkeit nicht (mehr) die wahre Priorität hat, weil
letztlich nur die Affirmierung des Kunstsystems individuelle
Karrieren zu ermöglichen scheint? Auch innerhalb einer
progressiven Szene hat Geschichtslosigkeit ihre Tücken,
weil Selbstbewußtsein ohne Tradition schwerfällt.
Die anfänglich so genannte re-politisierte Kunst der
Neunziger wurde am Ende der Dekade verschiedentlich und nicht
nur in ausgewiesen konservativem Interesse als bereits verblassender
Trend diffamiert. Auch dagegen richtet sich die geforderte
andere Kunstgeschichte.
Literatur:
Grundlagentexte in:
Charles Harrison & Paul Wood (ed.): "Art in Theory.
An Anthology of Changing Ideas" (Oxford/UK, Cambridge/USA
1992, 1993)
Norberto Bobbio: "Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung" (Berlin 1994)