Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

04 2002

Ecstasy. Empire. Immanenz

Katja Diefenbach

[1] Ecstasy. Die politische Aktualisierung der Multitude.

20. Juli 2001. Genua. Zweiter Tag der Demonstrationen. Gegen Mittag machen sich vom Leichtathletikstadion Carlini über 15 000 AktivistInnen aus Süd- und Westeuropa zum Training mit den Tute bianche auf. Ein kurzer Rundlauf biopolitischer AktivistInnen, der eine Stunde später von einem CS-Gas-Bombardement der Polizei gestoppt werden wird. Zehn, zwanzig Meter steht alles in weißem Nebel. Biopolitischer Gegenangriff. Dahinter Panzerwagen. Wer keine Gasmaske aufhat, stürmt zurück. Zurück? Da ist nichts. Keine Seitenstraße. Keine Grünfläche. Kein Platz. Links meterhoher Bahndamm. Rechts Hauswand an Hauswand. Dazwischen die zähe Größe Tausender DemonstrantInnen. Tute bianche im Training kurz vor der Massenpanik.

Seit Mitte der 90er Jahre üben die Tute bianche in ihrer theoretischen Praxis die Ingebrauchnahme operaistischer Begriffe: Multitude, reelle Subsumtion der Gesellschaften unter das Kapital, In-Wert-Setzung des gesamten Lebens, der Kommunikation, des Wissens, der Affekte usw. Wenn es stimmt, dass mit den Arbeitskämpfen und sozialen Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre die Fabrik in die Gesellschaft diffundiert und die gesamte Gesellschaft zur Fabrik geworden ist; wenn es stimmt, dass die feministische Perspektive, nicht-bezahlte Arbeit zur gesellschaftlichen Produktivität zu zählen, auf erweitertem Level historisch wahr geworden ist; wenn es stimmt, dass das Kapitalverhältnis sich immer produktiver durch die Körper frisst und das Wissen über die Arbeitsabläufe, die Fähigkeit zu Kooperation und Selbstorganisation, die Affekte und Subkulturen in Wert setzt und die Subjekte drängt, Unternehmer ihrer eigenen marginalisierten und fragmentierten Existenzen zu werden, ist es an der Zeit mitten in dieser Subsumtion einen biopolitischen Aktivismus zu erfinden, der auf der Höhe der Zeit ist. Das heißt, dass die politischen Praktiken die gesamte vernetzte Sozialität, die der Spätkapitalismus hervorbringt, verwertet und kontrolliert, durchlaufen müssen. Das ist die Multitude. Unglaublich kitschig. Aber charmant. So etwas wie kämpferische Heterogenität. Eigentlich könnte man sagen: das wiederentdeckte Patchwork der Minderheiten, das um sein Modernisierungs- und Innovationspotenzial für die Verhältnisse weiß. Das Kämpferische wird produktiv und positiv gefasst. Das ist die Schule des Kapitalismus selber, hinter dessen Lehrplan die Tute bianche und andere AktivistInnen nicht zurückgehen wollen. Die permanent zur Selbstunternehmung mobilisierte Subjektivität (Mach was! Verwirkliche, äußere, beweise dich! Rette dich selbst!) soll weniger zur Negation, zum Bruch, zur Arbeitsverweigerung, zum Nehmt die Gewehre oder zur Sekunde zwischen Wurf und Aufprall, sondern in erster Linie zum Aktivismus dissidenter Selbstorganisation fortschreiten.

In Genua haben sich Tausende europäischer AktivistInnen der Praxis der Tute bianche angeschlossen, weil sie seit Mitte der 90er relativ starke militante Konzepte antikapitalistischer Aktivität entwickelt haben, die nicht ökonomistisch sind, sondern in das ganze soziale Feld intervenieren: autoriduzione beim öffentlichen Verkehr, Aktionen gegen Abschiebeknäste, bei Arbeitskonflikten usw. Dabei wird versucht, die subkulturelle Codierung der 70er-, 80er-Jahre-Militanz und die kleingruppenorientierte Identitätspolitik der Wut zu überwinden, der symmetrischen Konfrontation mit staatlicher Gewalt auszuweichen und ein offenes vermitteltes Konzept begrenzter Provokation zu entwickeln, das auch dann noch interessant ist, wenn es in Genua nicht funktioniert hat. Die Tute bianche artikulieren genauso wie Pink Silver, das Netzwerk der People's Global Action oder die AktivistInnen migrantischer Selbstorganisation ein Versprechen. Das Versprechen des Politischen. Das leise Wiederauftauchen der Optionen. Das Politische der Situation liegt im Asubjektiven. Es sind nicht die einzelnen Subjekte, die schlauer werden. Selbst wenn, würde es nicht ausreichen. Es ist das Zusammentreffen. Die Produktion einer Verkettung. Dieses gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Jenseits der Anstrengung politisch weitermachen zu wollen, sind die Dinge in Bewegung geraten, weg vom Solidaritäts-Internationalismus, weg von einem Antirassismus, der als erneuerte Identitätspolitik für eine autonome Linke funktioniert, weg von den Vorstellungen der Unterstützung und des Fürsprechens, weg von der pathetischen Authentizität des Streetfighters.

In der BRD sind nicht People's Global Action, Pink Silver, Indymedia, The Voice oder die Grenzcamp-Gruppen zu Echokammern für dieses erneuerte Gefühl des Politischen geworden, sondern Attac. Dessen momentane Stärke ist ein Effekt der Situation, ein Ausdruck der diffusen Potenzialität neuer internationalistischer Praktiken. Die Formierung einer außerparlamentarischen Sozialdemokratie verlangsamt diese Situation, besetzt sie mit Linkskeynesianismus, blockiert das Politische mit staatsorientierter Regulierungspolitik und der Konzentration auf die Entschleunigung der Finanzmärkte. Gegenüber der Sedierung des Politischen bei Attac sind die Tute bianche Ecstasy.

 

[2] Empire. Die Möglichkeit der Nicht-Multitude.

Drei Monate später. New York. Bad timing. Seit dem 11.9.2001 wird ein Prozess der Negativ-, der Minus-Politisierung sichtbar, in der sich die gesellschaftlichen Entwicklungen für emanzipatorische Veränderungen hermetisch verschließen. Das wirft ein irres Schlaglicht auf den Optimismus der operaistischen Theorie des Empire. Ihre messianische Analyse der möglichen Zukunft immaterieller ArbeiterInnen und einer migrierenden Multitude springt zu leichtfüßig über das politische Verhältnis postfordistischer Subjekte hinweg, die Schill, FPÖ oder Forza Italia wählen. Sie gewichtet die Transformationsdynamik zu wenig, mit der der Fordismus in den ehemals kolonisierten Staaten in die Krise kam, ohne sich überhaupt etabliert zu haben.

Als ob es reichen würde, die Gewalt des Empire zu benennen, um dann zum Pathos der kommunistischen Vielheit zurückzukommen, jenem glücklichen Erben der Produktivkraft- und Biopolitik-Entwicklung, der das kämpferische Verhältnis in der Deterritorialisierungsbewegung des Kapitals realisiert. Der schöne und vielleicht doch so haltlose Kitsch kämpferischer Größe des Subjekts: "Der Vogelfreie ist ein Engel oder ein schwer zu fassender Dämon. Und hier nach so vielen Versuchen, die Armen zu Proletariern und die Proletarier zu einer Befreiungsarmee zu machen ... taucht in der Postmoderne im blendenden Licht eines neuen Tages wiederum die Menge auf, der 'gemeine Name' für die Armen. Sie kommt nunmehr voll und ganz zum Vorschein, denn in der Postmoderne haben die Unterjochten die Ausgebeuteten absorbiert...." (Hardt / Negri, Empire, 171)

Die Projekte der nachholenden Industrialisierung, der Import-Substitution, der nationalstaatlichen Entwicklungsdiktaturen zum Fordismus transformieren sich wie die realsozialistischen Staaten in Richtung auf ein kapitalistisches Empire. Wie im Norden wird auch in den riesigen informellen Armutsökonomien des Südens, der Schattenwirtschaft und der Heimarbeit, im massenhaften Elend des Selbstunternehmertums auf der Straße nur selten eine proto-kommunistische Multitude sichtbar, die sich die Arbeitsmittel und das Wissen der Kooperation produktiv angeeignet hat. Dafür zeigt sich die materielle Basis für die Verbindung, die neoliberales Selbstunternehmertum der Armen und Reichen mit rassistischen, politisch-religiösen und ethnischen Ideologien eingehen kann.

Am 11. September 2001 wurde die Diskussion über einen neuen Internationalismus vollkommen unerwartet negativ überdeterminiert, und wie, wenn jemand die Tür aufgemacht hätte, wurden die Ausdrucksformen kapitalistischer Globalisierung sichtbar: das Empire und die Möglichkeit der Nicht-Multitude.

 

[3] Immanenz. Die Frage der Verkettung.

Anstatt sich in negativen Analysen der Vergesellschaftung einzuschließen, könnte man versuchen, die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und potenzieller Emanzipation zu denken – diesseits linken Messianismus' und seines Versprechens auf das blendende Licht eines neuen Tages – und dabei noch stärker als Negri und Hardt dialektische und geschichtsphilosophische Perspektiven hinter sich lassen. Der neue Tag kommt nicht, weil er schon angebrochen ist. Denn die Multitude existiert. Sie ist eine immanente Potenzialität, die mehr noch als bei Negri und Hardt als a-subjektive potentielle Differenz zur Macht vorstellbar ist.

Zwischen den großen Segmentblöcken von Rasse, Klasse, Geschlecht und Sex, in denen Macht verortet wird, verlaufen transversale Risse. Folgt man der Spur dieser Risse, werden vielfache Überlagerungen unterschiedlicher Machtverhältnisse und die Familiarität von Begehren und Unterwerfung deutlich, also die Art und Weise, in der ein nicht-subjektiv gedachtes Begehren in einer reterritorialisierenden Rückwendung die sich in ihr aufrichtende Macht begehrt. Am Horizont dieser Perspektive zeichnet sich die Möglichkeit molekularer Gesten ab, die in dieser Reterritorialisierungsbewegung eine minoritäre Intensität produzieren.

Während Ästhetiken der Befreiung zu oft von der Schönheit und Klarheit der Revolte, der Vernunft des neuen Menschen und dem wiedergewonnen Stolz der Subalternen, und dabei von einer Komplizenschaft zwischen herrschender Moral und Militanz erzählen, werden Gesten interessant, die – obwohl sie das Feld des Politischen konstituieren – nicht als 'politischer Widerstand' und 'Bruch mit den Verhältnissen' verdoppelt und repräsentiert werden können. Sie realisieren in den alltäglichen Sedimentierungen von Macht ein Begehren, das in dem Sinne minoritär zu nennen wäre, wie es im 'Was ist, ist geil' nicht aufgeht. Vielleicht kann man diese Momente singuläre Kristallisierungen von Widerständigkeit nennen, die keinem Subjekt gehören, auch wenn sie eine dramatische Markierung in Teilen des Subjektes und das nachträgliche Gefühl einer konsumierten Aktualität – 'Das also bin ich' – hinterlassen.

Es handelt sich um eine Konzeption, die dem Register Subversion/Affirmation und der Logik von Überschreitung und Revolution entgehen will; ein Ausweichen vor dem Konzept der großen Weigerung, der Seele der Revolte, dem Brennpunkt aller Revolutionen, dem reinen Gesetz des Revolutionärs; ein Ausweichen vor den Transgressionsstrategien des Schocks, der Provokation, der Ironie usw., deren Effekte am pessimistischsten mit einem sekundären Transgressionsgewinn beschrieben wären: 'Alles bleibt beim Alten, aber wir haben gut gelacht'; ein Ausweichen vor dem Konzept des politischen Subjekts zugunsten der politischen Situation, in der die Relativität der gesellschaftlichen Macht- und Begehrensformation und die Gleichzeitigkeit des Politischen, Ökonomischen, Psychischen und Sexuellen gedacht wird. Ob es zu einer Veränderung kommt, die nicht in einer Modernisierung des Systems aufgeht, ist eine Frage der Verkettung verschiedener Praktiken. Andersherum gesprochen, wäre es fatal, singuläre Praktiken an einem Widerstandsgradienten negativ zu vermessen, weil er deren Produktivität in der Frage nach Revolution, nach Subversion, nach Anti-Normativität kolonisiert: "Ein Begehren nach Macht, nach Selbstunterdrückung oder Unterdrückung der anderen existiert ebensowenig wie das Begehren nach Revolution. Vielmehr bilden Revolution, Unterdrückung, Macht etc. aktuelle Linien einer gegebenen Verkettung." (Deleuze/Parnet, Dialoge, 143f.) Du brauchst nicht traurig sein, um militant sein zu können. Aber du kannst.