06 2003
Ein Riss im Empire?
Die Multituden angesichts des Krieges
Die Anti-Kriegsdemonstrationen
am 15. Februar beweisen es: die Selbstorganisation freier
Singularitäten ist auf planetarischer Ebene möglich.
Und das war ein Ereignis, trotz allem was danach folgte.
In einem manifestartigen Text, der direkt nach diesen
Demonstrationen geschrieben wurde, verwendete ich die
Sprache von Negri und Hardt, um auszudrücken, dass die
Multituden einen Riss im Empire erzeugen könnten. In
einem Kontext, in dem die Aristokratie (die großen transnationalen
Unternehmen) durch eine Serie finanzieller Desaster
geschwächt wurden, wo die Monarchie (das politische
und militärische Kommando über die Erde) in ernsthaften
Meinungsverschiedenheiten auseinanderfiel, wollte ich
die demokratische Aktion der Plebs ermutigen, gegen
die Verachtung der amerikanischen, britischen, spanischen
und italienischen Regierenden. Es war ein Moment, der
die politischen Bühnen der Welt vervielfacht und die
traditionellen Mechanismen der Repräsentation überwältigt
hatte.
Diese Überwältigung durch die
Multituden hatte den überraschenden Charakter, den jedes
reale Ereignis hat. Es kam dennoch nicht unerwartet.
Wir hatten gerade eine neue Schwelle auf dem Weg zur
Konstitution eines netzförmigen Widerstands überschritten,
der mit den Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung
sichtbar wurde. Und jetzt kann man sehen, wieviel Schwellen
noch übrigbleiben. Nach dem Krieg in Irak glaube ich
immer noch, dass die Multituden einen Riss im Empire
erzeugen können.
Aber dieser Riss muss hergestellt
werden, in Europa und auf der ganzen Welt. Wie kann
man die Gelegenheit der Verweigerung ergreifen, die
während des Krieges offenbar wurde? Wie kann man noch
viel weiter gehen? Im folgenden werde ich die Bedeutung
dieser Wörter Multituden,
Riss und Empire untersuchen, in der Hoffnung, dass diese Arbeit an Begriffen
dafür nützlich ist, die Bewegungen gegen den Krieg zu
erweitern.
Die Mulitude ist eine Figur der politischen Philosophie. Aber sie ist untrennbar von den aktuellen Wegen der Multituden, da sie ein Ensemble von Singularitäten bilden, das durch produktive Aktivität entsteht. Was neu ist, ist die Überschneidung von Denken und Produktion. Arbeit – die einfache Tätigkeit, einen Lebensunterhalt zu verdienen – ist nicht länger ein Gegenstand der Politik, sondern ihr Ausgangspunkt, ihre Sprache oder ihr ureigenes Prinzip.
Es ist bekannt, dass
die Arbeit heute sprachliche Kreativität umfasst, den
Ausdruck von Affekten, spontane Zusammenarbeit. Dies
sind die Quellen der Innovation, die für den kognitiven
Kapitalismus unentbehrlich sind. Aber kein Chef kann
Kreativität, Expressivität und Kooperation befehlen
– diese Dinge können keinem disziplinären Regime untergeordnet
werden.
Im Gegenteil, eine gewisse Form
der Ungehorsamkeit muss aktiv gefördert werden, im ureigenen
Interesse der Produktivität. Und die Möglichkeiten
der Zusammenarbeit müssen ausgedehnt werden, so dass
nun jeder die geografischen, kulturellen und ökonomischen
Distanzen überwinden kann, die die Teilnehmer einer
zeitgenössischen Arbeitsgruppe trennen.
Die moderne Managementtechnik besteht darin, ein flexibles
Rahmenwerk für produktive Beziehungen zu errichten.
Der paradigmatische Rahmen für die zeitgenössische Arbeit
ist offensichtlich das Internet. Der Vorteil solcher
Netzwerksysteme ist für zeitgenössische Manager der,
dass sie die Individuen isolieren, die sie miteinander
verbinden. Aber die Verbindungen
durch optische Fasern sind real, ebenso wie die
Zusammenarbeit, die sie fördern. Und die Errichtung
eines solchen produktiven Rahmens überrumpelte die Netzwerker,
weil sie soviel Freiheit ermöglichte. Nun sehen wir,
dass diese Freiheit durch fortgeschrittene Techniken
der Überwachung mit einer erhöhten individualisierten
Kontrolle der Angestellten verbunden ist. Alles was
innerhalb des produktiven Rahmenwerks passiert, wird
auch überwacht, und die Ideen, Ausdrücke und kollektiven
Verhaltensweisen, die sich als schädlich für das Geschäft
erweisen, werden unterdrückt.
Zwischen Ungehorsamkeit und Überwachung,
Kreativität und Kontrolle existiert einer der internen
Widersprüche des neuen Produktionsregimes. Die Tatsache,
dass es das Denken zum Arbeiten bringt, garantiert
die Ausdehnung des Widerspruchs auch jenseits der Grenzen
der Angestellten-Tätigkeit. Wie Andre Gorz in seinem
kürzlich erschienenen Buch L'immateriel
schreibt: "Umso mehr die Arbeit nach Talent, Virtuosität,
der Produktion des Selbst verlangt..., desto mehr werden
diese Fähigkeiten über ihre begrenzte Anwendung auf
jede determinierte Aufgabe hinausweisen." Daher
wird der Arbeiter "seine Würde in der freien Ausübung
seiner Fähigkeiten verorten, außerhalb des Arbeitskontextes:
Journalisten, die Bücher schreiben, Werbedesigner, die
Kunstwerke schaffen, Computerprogrammierer, die ihre
Virtuosität als Hacker demonstrieren und als Entwickler
freier Software, usw."
Man könnte sich durch das Bild
von "Werbedesignern, die Kunstwerke schaffen"
zum Lachen verleitet fühlen. Die Ergebnisse waren zumindest
ambivalent. Wir haben einen Überfluss an kollektivem
Narzissmus gesehen, eine simplifizierende Idealisierung
von Ausdrucksfähigkeit und Interaktivität – besonders
in der Welt der Museen und Zeitschriften, wo "Werbedesigner,
die Kunstwerke schaffen" während der ganzen Neunziger
einen Boom erlebten. Aber seither scheint sich einiges
verändert zu haben.
Die immaterielle Arbeiterin, die während der Arbeit
denkt, spricht und schafft, und diese Arbeitsform schließlich
hinter sich lässt, um eine Form kreativen Ausdrucks
zu praktizieren, spürt sehr schnell die Zerbrechlichkeit
dieser Position. Nichts hilft ihr zu überleben, obwohl
sie genau das tut, was sie bis dahin ständig zu tun
ermutigt wurde.
Wenn sie über ihr eigenes Schcksal
nachdenkt, kann sie allen möglichen Arten von Leuten
begegnen, die durch dieselbe Auswirkung des Widerspruchs
marginalisiert werden und dann auch vielen anderen,
die niemals ganz ins produktive System integriert waren.
Wenn man einen Vergleich zwischen ihrer eigenen Situation
und der von anderen zieht, erlangt man ein größeres
Verständnis gegenwärtiger sozialer Beziehungen, mit
ihren Hierarchien von Ein- und Ausschluss, die sich
über den ganzen Erdball erstrecken. Eine persönliche
Erfahrung der Marginalisierung, prekärer Arbeitsbedingungen
kann alle möglichen Formen der Solidarität ermutigen,
egal ob nah oder fern. Dieser Moment der Politisierung
impliziert zumindest ein partielles Verlassen des produktiven
Rahmens, der vom kapitalistischen Management aufgezwungen
wird. Was dann interessant wird, ist weiterhin, das
Denken zum Arbeiten zu bringen. Mit dem Unterschied,
dass die Arbeit autonom geworden ist: sie besteht im
Weben alternativer Netzwerke, im Hinblick auf Solidaritäten
und sich widersprechende Ausdrucksformen.
An diesem Punkt kann das Konzept
der Multitude doppelt nützlich für die Multituden werden:
als ontologisches Konzept und als ein Konzept der Klasse.
Als ontologisches Konzept indiziert die Multitude eine
Ebene der Immanenz, auf der menschliche Singularitäten
ihr zerbrechliches Potential entdecken – das heißt,
die Möglichkeit, ihre Individuation durch die Zusammenarbeit
mit anderen zu entwickeln. Und als Klassenkonzept verweist
die Multitude auf alles, was dieser Entwicklung im Weg
steht. Dieses Hindernis ist das Empire: d.h. die Gesamtsumme
von Kontrolltechniken, die durch die Unternehmen und
Staaten geschmiedet werden.
Diese Kontrolltechniken wirken
sich auf unsere Körper als Biomacht
aus: als Fähigkeit, die kreative Macht zusammenarbeitender
Singularitäten zu managen, zu kanalisieren und parasitisch
auszubeuten. Heute nimmt Biomacht zunehmend die explizit
repressiven Formen der Überwachung und der Polizei an.
Nicht nur werden Arbeiter in der Arbeit überwacht; sondern
die gesamte Bevölkerung wird überwacht, während sie
sich durch ein offenes System von Transport, Tausch
und Kommunikation bewegt. Und die Überwachung wird
notwendig von der Polizei begleitet. Für die Mengen
der Bewegungen gegen die kapitalistische Globalisierung
hat die imperiale Macht die perfekt standardisierte
Maske des "Robocop" angenommen, die die Repressionen
in Seattle, Nizza, Göteborg oder Genua usw. durchführten.
Aber durch das Visier des Robocop sehen wir außer ihren
Augen auch eine organisierte Mutation, die den imperialen
Staat entstehen lässt.
Ich beziehe mich hier auf das
Buch von Rob Jessop
The Future of the Capitalist State. Jessop analysiert
den paradimatischen Wechsel vom Keynesianischen nationalen
Wohlfahrtsstaat zu einem postnationalen Schumpeterianischen
"workfare"-(Arbeits-)Staat. Was bedeuten diese
Worte? Der zeitgenössische Staat kümmert sich nicht
länger um die "tatsächliche Forderung" der
Arbeiter oder um irgendeine Art Keynesianischer Sozialversicherung;
er ist beschäftigt mit ermutigender unternehmerischer
Innovation, welche für Schumpeter eine wichtige Quelle
des Mehrwerts darstellte. Aber diese Art der Innovation,
die für den Wettbewerb notwendig ist, wird von einem
ziemlich kleinen Teil der Bevölkerung geleistet, die
durch einen starken Drang zum Ausstieg gekennzeichnet
ist. Sie tendieren dazu, die Zwänge des Produktivsystems
zu verlassen. Aber sobald die Menschen zu arbeiten aufhören,
ist das Problem des Staates nicht mehr die Wohlfahrt,
sondern im Gegenteil, wie er sie wieder zur Arbeit zwingen
kann, in die untergeordnetsten und am meisten ausgebeuteten
Positionen, etwa durch Zwangsprogramme, die Tony Blair
"workfare" nennt. Der Staat übernimmt die
Rolle eines kollektiven Managers für die flexible Arbeitskraft
– eine dringend notwendige Rolle unter dem transnationalen
Regime des netzwerkförmigen Wettbewerbs. Er wird daher
postnational und passt sich an die erweiterten Rahmenwerke
kapitalistischer Produktivität an. Dennoch ist diese
imperiale Form des Staates, ebenso wie die Wirtschaft,
die sie bedient, weder stabil noch überhaupt funktionabel.
Sie ist durchsetzt mit grotesken Widersprüchen, in denen
die technische und organisatorische Organisation, die
neue treibende Kraft der kapitalistischen Wirtschaft
zur politischen Rationalität eines unbeschränkten Krieges
führt.
Hier liegt meiner Meinung nach
eine der größten Ironien der Gegenwart. Die Multituden
sind inkommensurabel, wie Toni Negri niemals aufgehört
hat zu erklären; ihr immaterieller Ausdruck und die
Innovationen in der Zusammenarbeit sind nicht reduzierbar
auf das Maß der Arbeitszeit und daher auf einen Stundenlohn.
Diese Disproportioniertheit der Multituden kann aus
verschiedenen Perspektiven verstanden werden.. Einerseits
übersetzt sie das enorme kreative Potential des wissenschaftlichen
Wissens, vor allem wenn es sich in der Form der Technologie
akkumuliert: und wie sollen wir die "Produktivität"
des Fingers bemessen, der eine Maschine aktiviert? Andererseits
bringt sie die Indeterminiertheit der ästhetischen Erfahrung
in den Mittelpunkt der sozialen Beziehungen: und wie
sollen wir den "Wert" verschiedener Ausdrucksformen
beurteilen? Daher wird die Arbeit von den Löhnen abgekoppelt
und tendiert dazu, autonom zu werden. Aber durch die
ganzen Neunziger hindurch funktionierte diese Abkoppelung,
diese Abwesenheit jeglichen funktionierenden Maßstabs
zugunsten der Finanzspekulation und ermutigte die übertriebensten
Bewertungen mancher Sektoren, vor allem von denen, in
denen Hochtechnologie zum Medium menschlichen Ausdrucks
wird. Hier liegt die Ironie. Der Krach der new economy
im Frühjahr 2000 wurde von einer generellen Verlangsamung
auf der ganzen Welt begleitet, die den "roaring
nineties" ein Ende bereitete.
Kurz danach, angesichts einer
unvermeidlichen Rezession und der intensiven Kritik
über die Bedingungen seiner Wahl nahm G. W. Bush den
Terrorismus des 11. September und den Ausnahmezustand,
den dieser rechtfertigte, als ein ideales Mittel um
seine wacklige Präsidentschaft zu konsolidieren – und
allgemeiner gesagt, um die disziplinäre Vision amerikanischer
Neokonservativer zu realisieren. Denn es ist der Krieg
und ohne Zweifel allein der Krieg, der dem Staat erlaubt,
seine Disziplin einer autonomen ArbeiterInnenschaft
aufzuzwingen, nachdem sie von den unhaltbaren Versprechungen
eines widersprüchlichen Produktionssystems mobilisiert
und enttäuscht wurde.
Daher kommen wir zur Frage: Was
tun? Sobald die USA den Kriegspfad gegen die Irakis
und ihr Öl einschlugen, reagierten die Multituden,
überwältigten alle Begrenzungen des politischen Konsenses
und infiltrierten alle Netzwerke.
In Europa war die Mobilisierung
besonders stark: weil sich die Leute an die 30er Jahre
erinnern und den Ausnahmezustand erkennen, den Versuch,
eine neue Disziplinierung durchzusetzen. In Großbritannien
gab es die größte Demonstration der Geschichte; Italien
und Spanien wurden durch wiederholte Mobilisierungen
und direkte Aktionen erschüttert, und Frankreich, Deutschland
und Belgien übersetzten die öffentliche Meinung in politische
Opposition innerhalb der Foren von UNO, NATO und der
Europäischen Union. Diese Uneinigkeit im Herz des politischen
und militärischen Kommandos sind neu: sie markieren
einen ersten Schritt, eine zerbrechliche Chance, die
ergriffen werden muss. Aber kann man wirklich von einem
Riss im Empire sprechen?
Schauen wir zuerst
die Realität an: Seit den frühen 1990ern wurde die Europäische
Union zunehmend zum Zerrspiegel der USA, das bedeutet:
ein regionaler Freihandelsblock, der nach den Regeln
des imperialen Wettbewerbs konstruiert war. Diese neoliberale
Wende kann sich in soziale Abkommen kleiden, aber im
Moment gelten diese sehr wenig. Und das Risiko, das
mit jedem Anfall des europäischen Chauvinismus auftaucht,
ob er nun pazifistisch ist oder von antiamerikanischen
Untertönen begleitet, ist, dass unter dessen Deckmantel
Länder wie Frankreich, Deutschland oder Belgien ein
falsches sozialdemokratisches Zentrum errichten werden,
das um einen Kern geschützter Industrien, vor allem
Rüstung errichtet wird, während man in Wirklichkeit
von der Ausbeutung der Peripherien lebt, ob interner
oder externer. Die Gefahr ist die, dass die politische
Klasse bekannte hegemoniale Formeln verwenden wird,
um die existierenden Hierarchien der Einschließung/Ausschließung
wiedereinzusetzen, aber im kontinentalen Maßstab. Diese
Hierarchien, die nach dem alten fordistischen Modell
geformt sind, werden mit gezogener Pistole beschützt.
Und daher hielten Frankreich, Deutschland, Belgien und
Luxemburg am 29. April 2003 Treffen ab, um über die
Gründung einer gemeinsamen Armee zu diskutieren. In
der Zeitung Le Monde des gleichen Tages erschien ein Text unter dem Titel: "
Europäische Verteidigung: es ist Zeit, etwas zu unternehmen!"
Die Autoren waren vier Führungskräfte aus der europäischen
Rüstungslobby – unsere bekannten Repräsentanten.
Das Leben findet woanders statt. Die Politik der Mengen
besteht darin, sich den Techniken der Kontrolle zu widersetzen
und ihnen zu entkommen – aber auf eine Weise, die diesen
Exodus selbst linguistisch, kooperativ und affektiv
macht. Was in den netzwerkartigen Demonstrationen so
interessant ist, ist genau das: was Andre Gorz die "freie
Ausübung" der kreativen Vermögen jedes Einzelnen
nennt. Aber diese Selbstorganisierung ist nur ein Vorgeschmack
eines intensiveren Widerstands. Ein wirklicher Riss
im Empire wird eine Verwandlung der spezifischen Formen
der Rückverteilung und des Zwangs erfordern, die durch
den Staat eingeführt werden und die Erschaffung, von
effektiveren Rahmenwerken für die produktive Existenz.
Wir müssen den Schumpeterschen postnationalen "workfare"-Staat
auflösen, der den beschränkten Wettbewerb und den Krieg
aufrechterhält. Und das bedeutet politische Kämpfe auf
der maßvollen Grundlage der repräsentativen Demokratie
auszuüben, ohne zu vergessen, dass die Kraft der Multituden
alle Grenzen überwältigt. Die Herausforderung des 21.
Jahrhunderts, in Europa und anderswo, ist, eine soziale
Infrastruktur zu konstruieren, die das Inkommensurable
erhalten kann – außerhalb jeder Technik der Aneignung
und Kontrolle.
Literatur:
- "We Plebians," veröffentlicht auf nettime
und multitudes-infos, February 19, 2003.
- Toni Negri, "Pour une définition ontologique
de la multitude,"
Multitudes 9, 2002.
- André Gorz,
L'immatériel: connaisssance, valeur et capital,
Paris, Galilée, 2003.
- Paolo Virno,
Grammaire des multitudes, Paris, l'Eclat, 2002.
- Bob Jessop,
The Future of the Capitalist State, Cambridge, Polity
Press, 2002.