06 2003
Die Innenstadt bereisen: form follows fiction
Die Restrukturierung des innerstädtischen Raums nach Maßgabe ökonomischer und administrativer Planung hat sich bereits in den 70er Jahren als ein städtebauliches Problemfeld mit weitreichenden soziokulturellen Implikationen herausgestellt. Die strukturelle Veränderung der Innenstädte vom Lebensraum hin zum Einkaufs- und Erlebnisraum entwickelte zu dieser Zeit Dynamik, als versucht wurde, mit der gebündelten Ansiedlung von Einzelhandel und Gewerbe die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten aus der suburbanen Peripherie zumindest zeitweise zurück in den Innenstadtbereich zu holen. Die damit angestoßene Wandlung der Innenstadt zur unternehmerisch konzeptionierten "City" bedingte neue Nutzungs- und Aneignungsweisen des öffentlichen Raums. Nunmehr soll die City das Profil einer gefahrenfreien urbanen Erlebniswelt nach der Vorstellung des Einzelhandels und seiner Kunden erfüllen (wie etwa Klaus Ronneberger im 1999 erschienenen Buch "Stadt als Beute" ausführt). Es entstehen "korporative Kontrollsysteme", die Fragen der sozialen Inklusion und Exklusion gemäß privatwirtschaftlicher Interessen beurteilen. Die Transformation des öffentlichen Raums in Kontrollraum wird durch die kommunale Politik mitgetragen. Seit einiger Zeit stärkt eine politische Rhetorik diese Tendenz, die Fragen der sozialen Gerechtigkeit in Fragen der inneren Sicherheit umformuliert.
Im Hamburger Wahlkampf von 2001 wurde das angeblich irritierte "subjektive Sicherheitsempfinden" politisch und medial in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Das Bemühen sämtlicher Parteien, die "Ängste der Menschen ernst zu nehmen", führte zur Diagnose einer desolaten Sicherheitslage und hatte die Ablösung des sozialdemokratischen/grünen Senats durch die Koalition der konservativen CDU mit der bürgerlich-populistischen Partei Rechtsstaalicher Offensive zur Folge. Der Vorsitzende der PRO, Ronald B. Schill, treibt seit seinem Amtsantritt als Innensenator kompromisslos den Ausschluss marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen aus dem Innenstadtraum voran und geht gegen bestimmte Formen der kollektiven politischen Artikulation mit einer Unverhältnismäßigkeit vor, die in der gewaltsamen Auflösung einer Schülerdemonstration gegen den Irak-Krieg Ende März einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Die monatelang anhaltenden Proteste, die sich an die Räumung des Bauwagenplatzes Bambule im Herbst 2002 anschlossen, können als Indikator der Wut über die Beschneidung von Grundrechten durch ein maßlos überdimensioniertes Polizeiaufgebot gedeutet werden. Der Fokus der Demonstrationen verschob sich nicht zuletzt deshalb schnell von Vorbehalten gegenüber der rigorosen Verdrängung alternativer Lebensformen aus dem Stadtzentrum hin zum Protest gegen die paranoide Vehemenz der Ordnungspolitik. Während der politische Artikulationsbedarf wuchs, verhängte der Senat in der Vorweihnachtszeit ein Demonstrationsverbot in den innerstädtischen Einkaufsbereichen.
Neben der an Sicherheitsdiskursen orientierten Restrukturierung des öffentlichen Raums treibt der Konkurrenzkampf um Wachstum und Prosperität im Städtevergleich die Stadtplanungspolitik zu aufwändigen Eingriffen in den bestehenden Stadtraum. Um einem diffusen Begriff von "Attraktivität" für bestimmte Zielgruppen (vorwiegend international agierende Investorengruppen und globales Dienstleistungsgewerbe) näher zu kommen, wird auf "weiche" Standortfaktoren gesetzt, die repräsentative Zwecke erfüllen.
In Hamburg formulierte Bürgermeister Klaus von Dohnanyi bereits 1983 das Leitbild des "Unternehmen Hamburg", um Voraussetzungen für die Ansiedlung "zukunftsträchtiger" Branchen zu schaffen. Bereits hier wird explizit die Anpassung der Wohn- und Freizeitsituation an den Geschmack der "Schöpfer der neuen Industrie und Dienstleistungen" gefordert. Dohnanyis Nachfolger Henning Voscherau stellte 1997 die HafenCity, eines der größten Stadtplanungsprojekte Europas, vor. Auf einer Brachfläche im innenstadtnahen Areal des Hamburger Freihafens soll aus der Symbiose von Eventkultur, Dienstleistungsgewerbe, Lifestyle-Einzelhandel und einer New Media Privatuniversität die Modell-Innenstadt des 21. Jahrhunderts entstehen. Die HafenCity - sollte sie nach dem Regierungswechsel, der Krise des Neuen Markts und der gescheiterten Olympiabewerbung Hamburgs noch in geplantem Umfang realisiert werden - wird das bisherige Stadtzentrum um beinahe 50% erweitern.
Ausgehend von einer Kritik am Begriff der Stadt als Repräsentationsraum und der Dominanz der Bedürfnisse von Einzelhandel und Gewerbe über die der Stadtbewohner entwickelte die Gruppe Park Fiction eine alternative Form des widerständischen Urbanismus, die einen qualitativen Bruch mit herkömmlichen Politikmodellen darstellt. Seit 1994 agiert die Initiative zur kollektiven Planung eines Parks im Stadtteil St. Pauli an den Schnittstellen von Kunst, Politik und sozialer Bewegung. Angelehnt an die Philosophie Henri Lefèbvres deutet Park Fiction die Heterogenität der Städte und ihren "schöpferischen Überschuss" als Quelle der revolutionären Veränderung der Gesellschaft. Das Planungskonzept der "kollektiven Wunschproduktion" (Czenki/Schäfer) gesteht dem Bereich des Privaten und des Alltäglichen eine zentrale Stellung zu. Über die Ablehnung institutioneller Stadtplanung hinaus betont Park Fiction die Potenzialität selbstbestimmter und subjektiver Entwürfe einer urbanen Gesellschaft.
Die Definitions- und Handlungsmacht über den städtischen Raum nicht allein der Stadtverwaltung zu überlassen, ist das Thema einer ganzen Reihe künstlerisch-politischer Gruppierungen in Hamburg. Im Sinne von "konstituierenden Praxen" (Czenki/ Schäfer) ist ihnen gemein, nicht in der Negativität des oppositionellen Protests zu verharren, sondern aus der Verbindung von Kunst und Politik nachhaltig alternative Realitäten und Definitionen von Stadt zu entwerfen. Von der realen Wiederaneignung städtischen Raums durch Gruppen wie Ligna und Schwabinggrad Ballett über die Kritik der dominanten Systeme von Wirklichkeitsbeschreibung durch Blinde Passagiere bis zur Etablierung selbstbestimmter, kollektiver Planungsprozesse bei Park Fiction reichen die Beispiele einer kritischen und in ihren Formen experimentellen urbanistischen Praxis in Hamburg.
Ligna, ein Hamburger Radiokollektiv, verfolgt seit 1996 mit seinen Musiksendungen auf dem freien Radiosender FSK (Freies Sender Kombinat) ein partizipatives Radiokonzept. Seit dem letzten Jahr erweitern Ligna den kollektiven Rahmen ihrer Arbeit auf Interventionen in öffentliche oder teilöffentliche Räume wie Hauptbahnhof und Innenstadt, um die dort vorherrschenden "korporativen Kontrollsysteme" zu hinterfragen. Ligna subvertieren mit diesen Interventionen die in diesen Räumen vorherrschenden Ausschlussmechanismen, indem Strategien zur Anwendung kommen, die im jeweiligen Normalisierungskontext als erlaubt gelten. So ist, wie im Beispiel der "Radiodemo", die organisierte Zerstreuung einer Menge von Menschen in der Innenstadt formal keine "Versammlung", der mit dem temporären Demonstrationsverbot begegnet werden könnte.
Ähnlich wie Ligna wählt das Schwabinggrad Ballett für seine Auftritte im öffentlichen Raum Formen, die bestehende Grenzen und Verbote zu akzeptieren vorgeben. Die performative Darstellung - Verkleidung, Instrumente, Musik, Gesang - wird, mit politischem Inhalt gefüllt, als "trojanisches Pferd" eingesetzt, um zeitweilig den eingespielten Umgang mit politischer Artikulation auszuhebeln. Die in Umgehung des innerstädtischen Demonstrationsverbots durchgeführte Parade für den deutschen Einzelhandel beispielsweise konnte sich auf die gesetzlichen Regelungen für Straßenmusik berufen und unbehelligt fast eine Stunde lang mit politischen Slogans bedruckte "20-Euroscheine" verteilen. Diese Erweiterung des klassischen Formenrepertoires der politischen Artikulation ist ein Mittel zur nicht-konfrontativen Ansprache der Hamburger Öffentlichkeit, die im letzten Halbjahr in Zusammenhang mit den Bambule-Protesten fast ausschließlich von (Polizei-)Gewalt dominierte Bilder der politischen Auseinandersetzung vermittelt bekam.
Mit der Ausformung der Stadt als Kontrollraum in einem sehr spezifischen Hamburger Kontext befasst sich die Gruppe Blinde Passagiere. Auf nächtlichen Hafenrundfahrten wird die öffentlich kaum wahrgenommene Problematik des behördlichen Umgangs mit illegalen Einwanderern, die über den Seeweg nach Hamburg gelangen, vor Ort thematisiert. Über diese Informationsstrategie hinaus haben die Aktivisten der Gruppe mit der Besetzung von Frachtern blinden Passagieren die Möglichkeit erkämpft, an Land zu gehen - die Vorbedingung für den Antrag auf Asyl. Die Planungen für die HafenCity haben bereits jetzt einen entscheidenden Einfluss auf die Fluchtbedingungen der Immigranten, indem die Wege zwischen Schiffsanlegern und Hafenpolizeigebäuden verkürzt werden. Die Blinden Passagiere intervenieren in Wirklichkeiten, die Behörden und Polizei zu verschleiern suchen.
Auch explorative Strategien - wie das Projekt "Biologische Forschungsstation Alster" der Galerie für Landschaftskunst in Zusammenarbeit mit dem Künstler Mark Dion - sind darauf ausgelegt, das urbane Gefüge jenseits der gängigen Nutzung zu vermitteln. Die auf einem Boot installierte Forschungsstation legte an zwei exemplarischen Orten des Alsterufers in der Hamburger Innenstadt an, um vor Ort verschiedene Funktionen des Alsterlaufs zu erkunden und das Verständnis von Natur in der Stadt zu diskutieren. Als Labor eingerichtet, ermöglichte die Forschungsstation diversen Nutzergruppen die subjektive Aneignung des Stadtraums mittels künstlerischer, wissenschaftlicher und ökologischer Techniken.
Ein umfassendes Experiment des globalen Austauschs von lokalem Wissen unternimmt in Kürze der Kongress Park Fiction presents: Unlikely Encounters (in Urban Space), initiiert von der Gruppe Park Fiction und situiert am Ort der Entstehung des Projekts, in St. Pauli. Der Kongress wird durch das weit verzweigte Netzwerk von KünstlerInnen, MusikerInnen, sozialen und politischen Gruppierungen getragen, welches bereits seit Jahren Teil der kollektiven Planungsprozesse im Stadtteil ist. In den besetzten Häusern der Hafenstraße, dem Buttclub, der St. Pauli Kirche, dem Golden Pudel Klub, dem GWA Stadtteilkulturzentrum, der Schule und der Roten Flora wird daher ein großer Teil des Kongressprogramms stattfinden.
Die "unwahrscheinliche Begegnung" der lokalen Stadtteilkultur mit der internationalen Besetzung des Kongresses möglich zu machen, ist erklärtes Ziel von Unlikely Encounters. Neben den oben genannten Hamburger Gruppen sind internationale Kollektive eingeladen, deren dezidiert raumaneignende Arbeit als "konstituierende Praxis" verstanden werden kann. In den jeweiligen Herkunftsländern entwickeln sie unter (teilweise extremen) Repressionsbedingungen neue Formen der politischen Organisation und setzen diese mit interdisziplinären Mitteln um.
Sarai aus Delhi/Indien betreiben neben der Ausformulierung ihres urbanistischen Theorieansatzes "Urban Studies" an den Rändern der unkontrolliert wachsenden Metropole Medien- und Versuchslabore, die die BewohnerInnen in der Aneignung des durch Abriss bedrohten Territoriums unterstützen. VertreterInnen aus Maclovio Rojas bei Tijuana/ Mexiko stellen auf dem Kongress ihre Kommune vor, eine selbstorganisierte Stadt, die sich mit Hilfe einer cleveren Vernetzungspolitik mit AktivistInnen und Kunstprojekten gegen den starken Druck der Regierung als autonome Organisationsform behauptet. Ala Plastica aus La Plata/Argentinien arbeiten an der Verbindung ökologischer, sozialer und künstlerischer Verfahren zur Rekonstruktion des öffentlichen Raums in La Plata und zur Intervention in bedrohte Ökosysteme der Region. Cantieri Isola & office for urban transformation aus Mailand/Italien entwickeln ausgehend von einer interdisziplinären Aktionsbasis eine künstlerische Praxis gegen die Zerstörung des Viertels Isola durch ein städtisches Großbauprojekt.
Angesichts der extrem verschiedenen politischen Ausgangsbedingungen erscheint es als eine Grundfrage des Kongresses, wie die spezifischen Praxen trotz der Differenzen zusammenzudenken sind, ohne in unangemessene Relativierung zu verfallen. Beispielsweise kann die konkrete Bedrohung in Maclovio Rojas durch Vertreibung, Verfolgung und Gefängnis keinesfalls mit der politischen Lage in Hamburg auf einer konkreten Ebene parallelisiert werden. Daher ist die in Unlikely Encounters angelegte strukturelle Einbettung der lokalen Ansätze in eine Kritik der globalen Verhältnisse eine Voraussetzung, um in einen produktiven Austausch zu treten. Wenn es gelingt, die Zielscheiben der Hamburger Praxis als Symptome eines Systems zu bestimmen, das in einer sich globalisierenden Gesellschaftsform wurzelt, so sind möglicherweise auch die Widerstände gegen diese Symptome in einem globalen Bezugsrahmen zu verorten.
Die Reflexion der jeweiligen Methoden und Betrachtungen des Urbanen vor dem Hintergrund eines zu erarbeitenden globalen Horizontes verspricht fruchtbare Impulse für die eigene Praxis. Darüber hinaus hat die internationale Vernetzung nicht zu unterschätzende pragmatische Funktionen. Die Strategie, über internationale Aufmerksamkeit konkreten Schutz für die eigene Arbeit zu schaffen, setzen einige der geladenen Gruppen bereits erfolgreich ein. Es ist jedoch auch für die Hamburger Gruppen und das gastgebende Projekt von großer Bedeutung, mit einer überregionalen Öffentlichkeit mobilisierende Momente für den Stadtteil zu erwirken. Die den Kongress umrahmende Ausstellung der Documenta11-Installation von Park Fiction holt bereits die internationale Rezeption im Kunstdiskurs nach St. Pauli, der Kongress selbst wird durch den Methodenaustausch eine dezidiert politische Dimension hinzufügen. Die Auswahl der internationalen Gruppen schließlich konkretisiert die "Realisierungsandrohung", die von Park Fiction ausgeht, auf eine Weise, die hiesiger Stadtpolitik klar machen wird, dass mit der Fertigstellung des Parks die "Fiction" noch lange nicht erfüllt ist.