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06 2004

Auf der Bühne des Politischen. Die Straße, das Theater und die politische Ästhetik des Erhabenen

Oliver Marchart

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journal
publicum

"Étudiants, l'Odéon est ouvert."

Es ist der 15. Mai 1968, elf Uhr abends. Eine Menge von Studierenden, Künstlern und Künstlerinnen stürmt das Pariser Theater Odéon. Das Publikum der Abendvorstellung hat das Haus gerade verlassen, in das nun die Protestierenden drängen. Sie informieren den Direktor Jean-Louis Barrault - eine Legende des Avantgarde-Theaters und ein Freund Artauds -, dass von nun an die Institution besetzt sei, repräsentiere sie doch eine elitäre und bourgeoise Vorstellung von Kultur und müsse in ein Zentrum der Revolution verwandelt werden. Ein Monat lang wird das Theater zu einem Drehpunkt der Studentenrevolte. Die Aufführungen werden ausgesetzt. Dramatisches, theatrales Handeln, d.h. Schauspielen im engeren Sinn findet im Theaterraum selbst nicht mehr statt; nicht einmal alternative Formen des Theaters werden erprobt. Stattdessen wird das Theater restlos transformiert in einen Raum politischen Handelns. Und zwar in Form der Rede: das Odéon wird in ein Forum, in eine Agora verwandelt. Es wird zu einem öffentlichen Raum, in dem die vierte Wand zwischen "Akteuren" und "Publikum" niedergerissen ist und jedem/r erlaubt wird, frei zu sprechen. "Non-stop", wie Barrault notiert, "7 x 24 = 168 Stunden die Woche".[1] Und in einem Kommuniqué, das vom Comité d'action révolutionnaire, einer Art Zentralkomitee der Besetzung, herausgegeben wurde, hieß es: "Die Aktion richtet sich gegen keine Person und gegen kein Repertoire, sondern gegen eine bürgerliche Kultur und ihre theatrale Repräsentation. Das Odéon hört für einen unbegrenzten Zeitraum auf, ein Theater zu sein. Es wird zu einem Ort des Zusammentreffens zwischen Arbeitern. Eine revolutionäre Permanenz, ein Ort des ununterbrochenen Meetings."[2] Das Theater, das kein Theater mehr war, sollte für einen unbestimmten Zeitraum zum Treffpunkt einer Revolution in Permanenz werden. Was an diesem Treffpunkt unter keinen Umständen unterbrochen werden durfte, war der revolutionäre Redefluss. Das Theater wandelte sich in einen mehr oder weniger strukturierten Raum endloser Deliberation, in eine Tribüne, die jedem/r offenstand, der oder die sie erklimmen wollte.

Michel de Certeau hat, in Bezug auf die Besetzung der Sorbonne und auf den Mai 68 im Allgemeinen, von einer "révolution de la parole" gesprochen, einer Revolution der Rede, in der die Menschen in Form exemplarischen Handelns sich ihr Recht auf Rede nahmen. De Certeau nennt dieses Ereignis "la prise de parole" - die Eroberung der Rede: "Ein Ereignis: Die Eroberung der Rede. Im vergangenen Mai nahm man die Rede wie man 1789 die Bastille genommen hatte. (...) Die Einnahme der Bastille und die Einnahme der Sorbonne, diese beiden Symbole trennt eine entscheidende Differenz, die das Ereignis des 13. Mai 1968 charakterisiert: Heute ist es die gefangene Rede, die befreit wurde."[3]

De Certeau hat einen zentralen Punkt erkannt, der allerdings komplementiert werden muss. Während "die Ereignisse" in der Sorbonne und im Odéon tatsächlich auf die Eroberung der Redemacht zielten, ging es zumindest im Fall des Odéon nicht ausschließlich um das Reden. Denn die Besetzung des Odéon wurde auch zurück auf die Straßen gebracht. Dort kam es zu karnevalistischen Momenten der Transgression, vor allem nachdem Theaterkostüme von Besetzern "konfisziert" worden waren, die sich nun auf den Straßen der Polizei in diesen Kostümen entgegenstellten. Wie sich ein damaliger Beobachter erinnert, "wurde das Kostümlager geplündert, und Dutzende stellten sich dem Tränengas verkleidet als römische Legionäre, Piraten und Prinzessinnen. Das Theater wurde auf die Straße gebracht."[4] Was an diesen Ereignissen beobachtet wurde, ist einerseits das Ausbrechen des Theaters in die Öffentlichkeit des Stadtraums und andererseits, was aus politischer Sicht vielleicht noch bedeutsamer scheint, der Vorgang, der in der Besetzung des Odéons bestand und nicht nur das Theater in die Straße, sondern die Straße ins Theater brachte. Natürlich ist diese Metapher der chiasmatischen Verknüpfung von Theater und Straße, von "literarischer" (im Habermasschen Sinne) und politischer Öffentlichkeit, alles andere als originell. Sie wurde noch nicht einmal 1968 erfunden, sondern gehörte immer schon zum eigentlichen metaphorischen Arsenal von Revolutionen. Ihr liegt die Beobachtung einer gewissen Ähnlichkeit theatralen und politischen Handelns zugrunde, die Annahme einer prinzipiellen Vergleichbarkeit der Bretter, die die Welt bedeuten, mit dem öffentlichen Raum der Politik. Und 1968 wurde diese metaphorische Verschränkung von Bühne und Straße zu einem allgemeinen Slogan, zum quasi-situationistischen mot d'ordre, das die Besetzung des Odéon-Theaters angeleitet hatte.

Tatsächlich waren jene, die zuallererst in der Identifizierung des Zielobjekts und der Planung und Durchführung der Odéon-Besetzung die Hauptrolle gespielt hatten, KünstlerInnen und SchauspielerInnen, unter ihnen der Maler Jean-Jacques Lebel, der zu dieser Zeit in Frankreich das "Happening" zu promoten versuchte, und Julian Beck, der Gründer des Living Theatre. Julian Beck und Judith Malina, so heißt es, "führten die aufständische Menge der rebellischen Studenten, Arbeiter und Schauspieler an, die die Internationale sangen und schwarze anarchistische Flaggen schwenkten." Und mit einem interessanten indirekten Julian Beck-Zitat heißt es weiter:

"Diesem Pulk gelang es, das ehrwürdige Gebäude in etwas zu verwandeln, das Julian einen 'Ort des lebendigen Theaters' nannte, 'in dem jeder zum Schauspieler' werden könne. Die gesamte Theaterbühne wurde zu einer Bühne für 24-stündige Perioden der Konfrontation und Debatte, an der jeder frei teilnehmen konnte. (...) In einer außerordentlich fruchtbaren und intensiven Atmosphäre, die an die Französische Revolution erinnerte, in der Bürger aller Klassen die Macht ergriffen und das Schicksal des Staates in die Hand genommen hatten, sprachen Studenten genauso wie Arbeiter, und andere antworteten. Was im Odéon zu beobachten war, so glaubt Julian, war das 'größte Theater, das ich je gesehen habe'. Wie in Paradise Now war die 'Architektur des Elitismus und Separatismus', waren die 'Barrieren zwischen Kunst und Leben', die das konventionelle Theater nur falsifizierten, zusammengebrochen, und das Ergebnis hatte 'das Theater in die Straßen und die Straßen ins Theater' gebracht."[5]

Selbst wenn also dramatisches oder theatrales Handeln im engeren Sinn aufhörte, sobald das Theater in eine politische Öffentlichkeit verwandelt wurde, so treffen wir doch am Beginn dieser Unternehmung auf eine gewisse avantgardistisch-künstlerische Illusion, was die mögliche harmonische Verschmelzung von Kunst und Leben, Theater und Politik betrifft. Als der Direktor, Jean-Louis Barrault, Beck unter der Menge, die ins Theater strömte, ausmachte, rief er: "Was für ein wundervolles Happening, Julian!"[6] Für Barrault selbst sollte es sich als weniger wundervoll herausstellen, als er einen Monat später von seinem Minister André Malraux gefeuert wurde. Aber auch die Bewegung zeigte während ihrer einmonatigen Lebensspanne zunehmend Zeichen der Desintegration und gab letztlich das Gebäude widerstandslos auf. Dennoch, und ungeachtet Becks Fantasie vom "größten Theater", das er je gesehen hatte, war diese Desintegration eine politische Desintegration, sie war Ergebnis der politischen und nicht der künstlerischen Niederlage der Besetzung: Fraktionskämpfe nahmen überhand, eine Kerngruppe etablierte sich, politische Schismen splitteten die Gruppe auf, ihr wurde vorgehalten, das Projekt hegemonisieren zu wollen, und die letzten Mitglieder des Komitees entschieden schließlich, das Gebäude zu verlassen. Aber die Künstler, unter ihnen Lebel und Beck, hatten bereits das Gebäude nach nur zwei Tagen der Besetzung verlassen - und die politischen Aktivisten hatten es ganz übernommen. Zu keinem Zeitpunkt war irgendeine künstlerischen Aktivität im engeren Sinn in der Odéon-Besetzung zu beobachten. Sobald die Politik das Theater - in Form der Rede - übernommen hatte, war Kunst von keinerlei Interesse mehr.

Im Folgenden wird es mir weniger um den Moment gehen, in dem die Künstler das Gebäude verlassen, als um den Moment, in dem sie zurückkehren. Mit anderen Worten: Selbst wo es nicht der Realität entspricht, besteht, wie wir gesehen haben, eine der Eigentümlichkeiten des öffentlichen Raums in seiner wiederkehrenden Konzeptualisierung als Theatralraum. Die Komplizität zwischen der Öffentlichkeit der Politik und jener des Dramas wurde seit den Zeiten der Französischen Revolution beobachtet, und die Odéon-Besetzung ist ein augenscheinliches Beispiel für die Verwandlung eines tatsächlichen Theaterraums in ein politisches Forum für öffentliche Debatten. Hier wurde Kultur (oder Kunst) in Politik transformiert. Doch das ist nur ein Teil der Story, denn noch kennen wir nicht die eigentliche Quelle, den Grund dieser Politisierung. Ich behaupte, dass dieser deliberativen Öffentlichkeit der Rede - die man auch in Hannah Arendts Öffentlichkeitsmodell antrifft - ein fundamentalerer Konflikt zugrunde liegt, den man im Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe als Antagonismus bezeichnen kann. Dabei handelt es sich um eine Art ontologische Kategorie des Politischen. Ohne Studentenrevolte, ohne Generalstreik und Barrikaden im Quartier Latin keine "Eroberung der Rede" und keine Besetzung des Odéon-Theaters. Antagonismus geht - ontologisch - vor. In dem Moment, in dem Antagonismus erscheint und das Politische die Lage definiert, zieht sich das Künstlerische zurück und die Künstler verlassen das Gebäude. Wenn ich also sage, dass das Folgende mit dem Moment ihrer Rückkehr beschäftigt sein wird, dann beziehe ich mich auf ein seltsames Phänomen, das in der Folge revolutionärer Umstürze regelmäßig beobachtet werden kann: das Phänomen nämlich, dass Öffentlichkeit nach ihrer Politisierung sich in einem zweiten Schritt in einen theatralen Raum zurückverwandelt und der ursprüngliche und gründende Antagonismus öffentlich wieder-aufgeführt wird - wie zum Beispiel in der 1920er Wiederinszenierung der Stürmung des Winterpalais, auf die ich in wenigen Augenblicken zurückkommen werde. Meine Hauptthese wird dabei sein, dass das Politische, obwohl es nicht auf einer theatralen Bühne inszeniert werden kann, da das gründende Ereignis des Antagonismus sich jeder Repräsentation entzieht, nichtsdestotrotz auf einer Bühne inszeniert werden muss, um überhaupt post factum "sichtbar" zu werden. Mit anderen Worten, jede Inszenierung des Politischen kommt zu spät, ist immer eine a posteriori-Inszenierung von etwas, das bereits stattgefunden hat (oder, wer weiß, jederzeit wieder stattfinden könnte). Dieses "etwas" ist die eigentliche Sache und Ursache jeder Öffentlichkeit. Man könnte sagen, eine abwesende Ursache, der politische Repräsentation dann einen Namen zu geben versuchen wird. Die eigentliche Theatralizität des Handelns - seine Rhetorizität, aber auch das melodramatische Pathos, das in unterschiedlichem Ausmaß in allen Formen wirklich politischen Handelns auftritt - ist genau ein Symptom dieser Ursache.

 

Die politische Ästhetik des Erhabenen

Kehren wir kurz, um diese vielleicht noch zu abstrakten Behauptungen argumentativ etwas zu unterfüttern, zum konstitutiven Moment moderner Politik zurück: zur Französischen Revolution. Wenn das, was über die Undarstellbarkeit des radikalen Antagonismus gesagt wurde, zutrifft, dann kann kein Zufall sein, dass die Französische Revolution historisch in Begriffen der Ästhetik des Erhabnen erfahren wurde. Das gesamte metaphorische Arsenal des Erhabenen (das Kant das dynamisch Erhabene nennen würde) - Beschreibungen der Revolution als Sturm, Hurricane, Malstrom, Landrutsch, Vulkanausbruch - kann in den Berichten der "revolutionären Touristen" der Ereignisse von 1789 und danach gefunden werden und dient heute noch als Vokabular, um politische Umbrüche zu beschreiben. All diese Metaphern gehören zum Diskurs des Erhabenen, weil sie innerhalb des Feldes der Repräsentation (also innerhalb des Diskursiven) ein Ereignis indizieren, das genau dieses Feld der Repräsentation durchbricht und disloziert, ein Ereignis, dessen Ursprung uns unverfügbar bleibt und in diesem Sinne jenseits der Repräsentation liegt.

Wenn wir also unter dem "Erhabenen" kein Konzept verstehen, das zu einer bestimmten historischen Ästhetik gehört, sondern allgemeiner die Repräsentation einer Sache, die als solche immer unrepräsentierbar bleiben muss, dann kann uns die politische Diskurstheorie, wie sie von Ernesto Laclau entwickelt wurde, das enge und notwendige Verhältnis zwischen der Rhetorik des Erhabenen, dem Augenblick der Revolution und der eigentlichen Logik politischer Diskurse verstehen helfen. In Laclaus Diskurstheorie hängt die Frage der Repräsentation und Repräsentierbarkeit untrennbar mit dem Konzept des Antagonismus zusammen. Für Laclau kann die Systematizität eines Signifikationssystems - und um Bedeutung zu generieren, muss ein bestimmter Grad an Systematizität gegeben sein - nur gegenüber einem radikalen Außen des Systems etabliert werden, einer Grenze, die Laclau und Mouffe Antagonismus nennen. Am Grund der sozialen (=diskursiven) Systeme liegt eine rein negative Instanz, die in ein und derselben Bewegung die Stabilität des Systems gewährleistet und gefährdet: Wenn die Systematizität des Systems ein direktes Resultat der ausschließenden Grenzen (des Antagonismus ) ist, dann wird das System als solches nur durch diese Ausschließung gegründet. Daraus folgt, dass das System keinen positiven Grund besitzt und sich dementsprechend nicht mit einem positiven Signifikanten selbst bezeichnen kann. Anders gesagt, die Grenze des Systems, obwohl konstitutiv für das System, kann nicht direkt repräsentiert werden (ansonsten wäre sie bereits Teil des Systems der Bezeichnungen) - ihr korrespondiert kein positiver Signifikant. Können die Grenzen des Systems also nicht selbst bezeichnet werden, so können sie sich doch zeigen "als die Unterbrechung oder der Zusammenbruch des Prozesses der Signifikation".[7] Wenn wir also "die Grenzen der Bezeichnung bezeichnen wollen - das Reale im Sinne Lacans, wenn man so will -, steht uns dafür kein direkter Weg offen. Die einzige Möglichkeit besteht in der Subversion des Bezeichnungsprozesses selbst. Durch die Psychoanalyse wissen wir, wie etwas nicht direkt Repräsentierbares - das Unbewusste - als Darstellungsmittel nur die Subversion des Bezeichnungsprozesses finden kann."[8]

In der Politik ist der Name für diese unrepräsentierbare Instanz Antagonismus - ein gründender Moment und Zusammenstoß zwischen inkommensurablen Repräsentationen: "das antagonistische Moment der Kollision zwischen unterschiedlichen Repräsentationen (...) ist selbst unrepräsentierbar. Es ist deshalb reines Ereignis, reine Temporalität."[9] Doch die Tatsache, dass dieses Ereignis nicht repräsentierbar ist, heißt nicht, dass es keine Effekte hätte. Im Gegenteil. Antagonismus wurde als konstitutiver Moment des Sozialen (d.h. jedes Signifikationssystems) definiert. Das impliziert, dass an der Wurzel jeder sozialen Bedeutung und damit Ordnung eine konstitutive Ausschließung liegt - wenn eine Grenze gezogen wird, fällt immer etwas aus dem System heraus -, die im Laufe der Zeit vergessen und naturalisiert wurde. Doch sobald diese naturalisierten und sedimentierten sozialen Verhältnisse wieder von einem Antagonismus reaktiviert werden, wird auch die gründende Ausschließung - und mit ihr die eigentliche Kontingenz des Grundes jedes Systems (die Tatsache, dass die Dinge auch anders liegen könnten) - offensichtlich. Aus diesem Grund spricht Laclau von der revelatorischen Funktion des Antagonismus: "Der Augenblick der ursprünglichen Institution des Sozialen ist der Punkt, an dem Kontingenz enthüllt wird, denn diese Institution ist, wie wir gesehen haben, nur möglich durch die Unterdrückung von Optionen, die gleichermaßen offenstanden. Die ursprüngliche Bedeutung eines Akts zu enthüllen, hieße den Moment seiner radikalen Kontingenz zu enthüllen - mit anderen Worten, ihn wieder dem System der realen historischen Optionen, die verworfen wurden, einzuschreiben".[10] Aus diesem Grund "konstituiert der Moment des Antagonismus, in dem die unentscheidbare Natur der Alternativen und ihre Auflösung durch Machtverhältnisse vollständig sichtbar wird, das Feld des 'Politischen'".[11] Und das ist, wie ich hinzufügen würde, genau der Moment, in dem sich eine öffentliche Sphäre auftut, die all das, was vorher unsichtbar war, sichtbar macht und ans Licht bringt. Öffentlichkeit ist der Name für diesen Ort, an dem Kontingenz durch Antagonismus enthüllt wird.

Wenn wir also zurück auf die Rhetorik des Erhabenen kommen, dann erscheint sie nun als ein diskursives Werkzeug, das uns in die Lage versetzt, über einen Moment sprechen zu können, der als solcher unrepräsentierbar bleibt. Oder wie Slavoj Žižek in unübertreffbarer Kürze ausdrückt: "Das Paradox des Erhabenen (...) besteht in der Umkehrung der Unmöglichkeit von Repräsentation in die Repräsentation von Unmöglichkeit."[12] In der politischen Sphäre wird das besonders augenscheinlich am Fall von Revolutionen. Wenn das, was vom Erhabenen "repräsentiert" wird, unrepräsentierbar ist, dann ist das, was im Fall von Revolutionen "repräsentiert" wird, nicht die eine oder andere spezifische Forderung, sondern das völlig leere Konzept einer neuen Ordnung in Absetzung von der alten, vom Ancien Régime. Eine Revolution im strikten Sinn besitzt keine genaue Verortung im Feld der Repräsentation, denn sie entfaltet sich im antagonistischen Zeitloch zwischen dem Alten und dem Neuen. Und insofern die zukünftige neue Ordnung, auf die die Revolution hindeutet, diametral der existierenden und allzu bekannten alten Ordnung entgegengesetzt ist, kann sie auch keinen positiven Inhalt oder kein Objekt besitzen. Denn sobald wir in der Lage sind, beschreiben zu können, was "das Neue" tatsächlich ist, ist es nicht mehr neu - es ist bereits Teil des bekannten "Alten". In diesem Sinn deutet der Signifikant "Revolution" in das Außen der Signifikation und wird so zu dem, was Laclau einen leeren Signifikanten nennt.

Nun wird der revolutionäre Diskurs mit dieser strukturellen Unmöglichkeit offenbar so umgehen, dass er einen einzigen politischen Raum in zwei einander konfrontierende Felder aufspaltet. Zum Beispiel wurde in der Französischen Revolution die Spaltung der Gesellschaft in eine neue Nation und ein altes Regime zum zentralen Ziel revolutionärer Artikulation. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden etwa Signifikanten, die royalistisch anmuteten oder mit dem Ancien régime assoziiert wurden, ausgelöscht. Ein neuer Kalender wurde eingerichtet. Personennamen, die irgendwie mit dem Ancien régime identifiziert wurden, wurden oft von griechischen oder römischen Namen klassischer Helden ersetzt. Neue Kleiderordnungen wurden eingeführt, etc.[13]

Im Rest meines Textes möchte ich zwei unterschiedlich Möglichkeiten diskutieren, wie sich in einer theatralen Form mit diesem Paradoxon der Revolution, das heißt mit der Unmöglichkeit und gleichzeitigen Notwendigkeit der Repräsentation des Antagonismus umgehen lässt. Ich werde diese Möglichkeiten als den mimetischen und den melodramatischen Aspekt erhabener Repräsentation bezeichnen. Da wir hier mit Theatralizität und Öffentlichkeit beschäftigt sind, werde ich mich auf Beispiele theatraler Wiederinszenierung des gründenden Moments des Antagonismus konzentrieren. Nochmals, solch eine mise-en-scène des Undarstellbaren versucht natürlich das Unmögliche, aber dennoch, wenn wir die historischen Beispiele betrachten, scheint uns ein zwanghaftes Bedürfnis zu begegnen, dieses Unmögliche zu versuchen und das konstitutive Ereignis - den Augenblick außerhalb der linearen Zeit - der kalendarischen Zeit des neuen Regimes wieder einzugliedern und repetitiven Ritualen zu unterwerfen, kurzum: die Öffentlichkeit des Ereignisses durch die Öffentlichkeit der Repräsentation zu ersetzen.

 

Die erneute Stürmung des Winterpalais im Jahre 1920

Das Beispiel, das ich zur Illustration einer mimetischen Wiederaufführung der Revolution heranziehen möchte, ist das Massenspektakel, mit dem 1920 der dritte Jahrestag der Stürmung des Winterpalais begangen wurde. Es wurde inszeniert von Nikolai Evreinoff, dessen Hauptziel als Regisseur es war, ganz wie Julian Beck, Theater mit dem Leben zu verschmelzen. Sein Massenspektakel übertraf alle früheren revolutionären Festivitäten. Es sollte 500 Orchestermusiker, 8000 "Darsteller" und 100.000 "Zuschauer" involvieren, die als "Zuschauer" in gewissem Sinn am Spiel teilnahmen, insofern sie nämlich sich selbst spielten: die revolutionären Massen. Selbst das Winterpalais solle, nach Evreinoff, als gigantischer Schauspieler an dem Schauspiel teilnehmen und seine eigenen inneren Emotionen darstellen. Wie also muss man sich das ganze Spektakel vorstellen? Ich zitiere aus einem zeitgenössischen Artikel aus dem "Theaterkurier" vom 30.November 1920:

"... Gegen Abend legte sich der Regen und die Einwohner Sankt Petersburgs fanden sich ein, vielleicht nicht in der erwarteten Anzahl, aber dennoch, grob geschätzt, zumindest 30.000. Und diese ganze Masse von Menschen, die aus allen Ecken der Stadt herbeigeströmt war, stand mit ihrem Rücken zum Winterpalais, den Bogen des Generalstabsquartiers vor Augen, wo eine riesige Bühne konstruiert worden war, die aus zwei Plattformen bestand - einer weißen und einer roten -, verbunden durch eine Brücke und gefüllt mit Architekturversatzstücken und Szenerie, die Fabriken und Unternehmen auf der roten und einen 'Thronraum' auf der weißen Seite repräsentierten.

Um 10 Uhr wurde eine Kanone abgefeuert und von der an der Alexander-Säule angebrachten Plattform wurde das Signal zum Anfangen gegeben. Die bogenförmige Brücke wurde erleuchtet und acht Trompeter gaben eine Eingangsfanfare. Dann verschwanden sie in die Dunkelheit. In der Stille erklang großartig Litolfs "Robespierre", dargebracht vom Symphonieorchester der politischen Administration des Petersburger Militärdistrikts. Und die Vorstellung begann.

Sie verlief wechselweise auf der weißen Plattform, der roten und auf der Brücke zwischen ihnen. Die Charaktere auf der weißen Plattform waren Kerenski, die provisorische Regierung, Würdenträger und Granden des alten Regimes, das Frauenbatallion, die Junker, Bankleute und Händler, Frontsoldaten, Krüppel und Invaliden, enthusiastische Damen und Herren des versöhnlerischen Typus.

Die rote Plattform war 'unpersönlicher'. Hier regierte die Masse, zuerst eintönig, tölpelig und unorganisiert, aber dann zunehmend aktiv, geordnet und machtvoll. Aufgestachelt von 'Milizen' wurde sie zur Roten Garde, die sich um purpurrote Flaggen scharte.

Die Handlung war auf dem Kampf zwischen den beiden Plattformen aufgebaut. Sie begann mit dem bolschewistischen Juniaufstand und endete mit dem Platz, auf dem das Schicksal der machtlosen Minister entschieden wurde.

Die Brücke zwischen den beiden Welten war die Arena ihrer Zusammenstöße. Hier kämpften die Menschen und töteten, hier triumphierten sie und bliesen zum Rückzug.

Das erste Licht, das auf die Weißen fiel, zeigte ihren Triumph in karikierter Form. Zu den Klängen der Marseillaise, als Polonaise arrangiert, erschien Kerenski vor den erwartungsvollen Damen und Herren. Der Schauspieler, der Kerenski spielte, gekleidet in charakteristisches Khaki, fing die Gesten des Premiers gut ein und konnte die Aufmerksamkeit der Masse besonders gewinnen...

Aber inzwischen ging die Revolution voran... Die rote Plattform wurde, nachdem sie Verluste erlitten hatte, organisierter; Truppen gingen zur Seite der 'Leninisten' über. Und die Minister, die mit ihren Zylinderhüten friedlich an einem Tisch saßen, schaukelten in ihren Stühlen wie kleine chinesische Puppen.

Dann kam der Moment der Flucht, und Fahrzeuge donnerten nahe der Treppen, die von der weißen Plattform auf das hölzerne Pflaster führten.

Dort stürzten sie davon, verfolgt vom Strahl eines Suchscheinwerfers, und die Artillerie brach los. Die Luft hallte von den Schüssen, die von der Aurora abgefeuert wurden, vom Geratter der Maschinengewehre.

Dann verlagerte sich die Handlung auf das Winterpalais. Die Fenster des schlafenden Giganten wurden erleuchtet, und die Umrisse von kämpfenden Menschen wurden sichtbar. Der Angriff endete. Das Palais war genommen. Das Banner der Sieger erschien tiefrot aus der Dunkelheit über dem Palais. Fünf rote Sterne leuchteten auf. Dann stiegen Raketen auf, und wie Diamanten erhellten Sterne den Himmel, und Wasserfälle von Feuerwerk ergossen sich in einem Funkenregen.

Die 'Internationale' erklang, und der Siegeszug begann, erleuchtet von Scheinwerfern und Feuerwerk..."[14]

Nun hat dieses Spektakel auf dem Platz vor dem Winterpalais stattgefunden, aber entstand in irgendeiner Weise ein öffentlicher Raum? - gesetzt wir verstehen öffentlich im strikten politischen Sinn? Wenn ein anderer zeitgenössischer Beobachter hoffte, dass dies der "Beginn eines neuen Weges" sei, der "über den Platz hinaus in das Theater der Zukunft führen wird, das uns zurück zur längst vergessenen griechischen agora führen wird"[15], dann war diese Hoffnung vergeblich, denn wenn die Öffentlichkeit im strikten Sinn eine Öffentlichkeit ist, die vom Ereignis des Antagonismus erzeugt wurde, dann wird eine bloße "Repräsentation" oder Neuaufführung nicht helfen. Der Grund ist, so simpel es klingen mag, dass die Dramatisierung der Erstürmung nicht die Erstürmung selbst ist. Und was noch wichtiger ist: Die Inszenierung eines Antagonismus ist nicht der Antagonismus - denn der Antagonismus selbst ist, wie wir bei Laclau sahen, "uninszenierbar", unrepräsentierbar. Vielmehr begegnen wir hier einer quasi-mimetischen Repräsentation antagonistischen Konflikts, dargestellt durch den Kampf zwischen der roten und der weißen Bühne, sowie einer Öffentlichkeits-Mimikri, d.h. einer Quasi-Öffentlichkeit.

Vielleicht ist der Platz in Evreinoffs Arrangement, der einer Öffentlichkeit im radikalen Sinne des Antagonismus noch am nächsten kommt, die Brücke. Jenes Element, das die beiden einander gegenüberstehenden Kräfte einerseits verbindet und andererseits trennt. Doch als Brücke bleibt sie immer noch im Feld der Repräsentation. Und als Repräsentationsformel kann sie leicht vom Theater auf andere künstlerische Genres übertragen werden. Zum Beispiel in Nikolai Kollis "Der rote Keil spaltet den Weißen Block", einer Skulptur, die anlässlich des ersten Revolutionsjubiläums im Jahr 1918 auf dem Moskauer Revolutionsplatz ausgestellt wurde. Oder auf andere Medien wie etwa Plakate, wie im Fall von El Lissitzkis berühmtem Plakat für die Westfront: "Schlagt die Weißen mit dem Roten Keil". So abstrakt diese Darstellungen sein mögen, sie bleiben doch repräsentational - sie repräsentieren den Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten.

 

Das Melodram

Das klassische dramatische Genre, das einer solchen Antagonisierung im Feld der Repräsentation entspricht, ist das Melodram. Die erhabene Situation der Französischen Revolution brachte eine überbordende Lust an Theatrikalität und Theatralisierung mit sich. Findet man vor der Revolution nur eine Handvoll von Premieren, so wurden zwischen den Jahren 1789 und 1799 mehr als 1500 neue Stücke aufgeführt. Und im Fahrwasser dieser Lust am Theatralen entstand ein neues dramatisches Genre: das Melodram. Warum passt sich das Melodram, als Genre, so perfekt in revolutionäre Situationen ein, dass es auch für die Pariser Commune und für die bolschewistische Revolution wichtig wurde? Es ist offensichtlich, dass es zwischen dem Melodram und revolutionärer Rede eine Analogie gibt. Wie Peter Brooks bemerkt hat: "Zu sagen, das Melodram sei das künstlerische Genre der Revolution, ist nahezu eine Binsenweisheit, denn die revolutionäre öffentliche Rede (...) ist bereits melodramatisch."[16] Doch die deutlichsten Ähnlichkeiten, wie Brooks spezifiziert, sind in der Performativität und im, wie man vielleicht sagen könnte, vereindeutigenden Effekt (in der "Klarheit" und "Frontalität") der revolutionären Rede zu finden. Man denke nur an das berühmteste revolutionäre Melodram, an Sylvain Maréchals Le Jugement dernier des rois. Der Plot ist alles andere als kompliziert: Das Stück versammelt die europäischen Könige auf einer Insel und lässt sie am Ende des Stückes durch einen Vulkanausbruch umkommen. Natürlich ist der Vulkanausbruch eine Metapher für die Revolution als dem dynamisch Erhabenen. Peter Brooks argumentiert nun, dass die Rhetorik des Stücks performativ sei und in der folgenden Formel zusammengefasst werden könne: "Le Jugement dernier des rois sagt effektiv: 'Es geschehe ['be it enacted'], dass keine Könige mehr seien.'"[17] Und er fügt hinzu, das Melodram sei das Genre und die Rede des revolutionären Moralismus, da es "seine moralische Botschaft in klaren, unzweideutigen Worten und Zeichen ausspricht, ausagiert und durchsetzt".[18] Aber diese Klarheit und Unzweideutigkeit ist nicht einfach gegeben, sondern muss produziert werden: Alle Ambivalenzen müssen zu einer manichäischen Unterscheidung zwischen dem "wir" und dem "sie" synthetisiert werden, zwischen den "Freunden des Volkes" und den Konterrevolutionären. Der Mechanismus, über den das erreicht wird, ist exakt der Mechanismus des Melodrams - weshalb, so ist zu schließen, das Melodram das politische Theatergenre par excellence darstellt.

Um diese Behauptung zu untermauern, müssen wir Robert B. Heilman konsultieren, der, um zwischen Tragödie und Melodram unterscheiden zu können, das einflussreiche Konzept der Monopathie (des Monopathos) in die Literaturwissenschaft eingeführt hat: "Unter Monopathie ["monopathy"] verstehe ich die Singularität eines Gefühls, die einem den Sinn von Ganzheit gibt."[19] Das ist typisch für den melodramatischen Charakter: "In der Struktur des Melodrams ist der Mensch wesentlich 'ganz'", was heißt, "dass der grundlegende innere Konflikt abwesend ist" [20], den man im tragischen Menschen finden kann, der zwischen differierenden konfliktuellen Kräften - wie etwa zwischen Pflicht und Leidenschaft, Freiheit und Schicksal - hin und hergerissen ist. Der Unterschied besteht nach Heilman darin, dass in der Tragödie der Konflikt im Menschen lokalisiert ist, während er im Melodram zwischen den Menschen besteht.[21] Oder wie James L. Smith, Heilman kommentierend, den Umstand fasst: "Es ist seine völlige Angewiesenheit auf einen externen Gegner, der letztlich das Melodram von allen anderen seriösen dramatischen Genres unterscheidet." Externe Gegner können zum Beispiel "ein böser Mensch, eine soziale Gruppe, eine feindliche Ideologie, eine Naturkraft, ein Unglück oder Zufall, ein Schicksalsschlag oder eine übelwollende Gottheit" sein.[22] Im Melodram lautet die Frage nicht, welches Sentiment im Zuschauer produziert wird - sei es Mut, Enthusiasmus, Glück, Triumph, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit -, sondern was alleine zählt, ist, dass nur ein einziges Sentiment produziert wird, was ja der Grund dafür ist, dass Heilman von Mono-pathie spricht.

Wenn also im Melodram innere "Zerrissenheit von eine Quasi-Ganzheit" ersetzt wird, und Monopathie in diesem Sinne eine Ordnungsfunktion erfüllt,[23] dann kann diese Vereinheitlichung des inneren Selbst nur gegenüber einem Äußeren, gegenüber einem Anderen etabliert werden. Eine Grenze und, in Laclaus Worten, ein Antagonismus muss errichtet werden, soll eine gewisse Stabilität und Systematizität einkehren. So kommt es auch nicht überraschend, dass Heilmann selbst diese Parallele zieht, wenn er bemerkt, dass das "Melodram Affinität zur Politik, die Tragödie zur Religion" habe.[24] Und weiters:

"Im Wettstreit um öffentliche Macht, der pragmatische Politik ausmacht, erobert man oder wird erobert: Was in der öffentlichen Positionierung jeder Partei, auf der Operations-'Plattform' jedes Herausforderers vor sich geht, ist ein Konflikt zwischen richtig und falsch (...) 'Unsere Seite' gehört zu den 'Guten', und 'deren Seite' ist der 'Makel'; der aristotelische tragische Held ist in zwei Konkurrenten zerbrochen, deren Kampf die öffentliche Form politischer Aktivität, wie wir sie kennen, darstellt. Im Unterschied zum tragischen Helden, ist der politische Held ein Teil des menschlichen Ganzen, der für das Ganze seine Pflicht erfüllt, das heißt, er repräsentiert diese oder jene Kristallisation von Gefühl oder Begehren, die mit 'dem Guten' identifiziert wird, und strebt danach, die Gegenkräfte aus dem Geschäft zu drängen."[25]

Die Pointe daran ist, dass das melodramatische Subjekt ganz klar Akteur ist, das tragische Subjekt aber ein paralysierter Zuschauer seiner eigenen inneren Zerrissenheit. Die Passage von der Zerstreuung zur Homogenität, von der Zerrissenheit zur Ganzheit ist auch eine Passage vom Zuschauer zum Akteur. Solch Produktion eines einzigen Gefühls innerhalb des Zuschauers - mit dem Zweck, ihn oder sie zum Akteur zu machen - liegt genau der Idee von Agit-Prop und jener fast hundert Sub- und Sub-Sub-Genres von Agit-Prop zugrunde, die im Repertoire-Index der UdSSR von 1929 zu finden sind: von Agit-Hygiene, Agit-Groteske und atheistische Satire über Agit-Gerichtsverhandlung bis zu Rote-Armee-Performance-Stücken.[26] All diese Genres sind Erben des klassischen Melodrams, das seinerseits für das russische Revolutionstheater von nicht geringer Bedeutung war. Und wie James L. Smith behauptete, blieb diese politische Rolle des Melodrams bis hin zum Protesttheater der 1960er und 70er Jahre intakt: "Das Protesttheater hat viele Ziele: politisches Bewusstsein zu stimulieren, etablierte Werte in Frage zu stellen, Ungerechtigkeiten offen zu legen, Reformen zu unterstützen, Argumente bezüglich der Wege und Mittel beizubringen und manchmal um direkte Unterstützung für eine blutige Revolution zu werben. Das Resultat mag eine Satire, eine Predigt, ein Cartoon, eine Revue oder ein einfaches Stück-mit-Botschaft sein, doch hinter allen modischen Garnituren ist die eigentliche Form das Melodram."[27]

Warum kann das Melodram das leisten? Bislang wurde eine Reihe von Gründen angeführt: Das Melodram ist agitatorisch und setzt die Leute in Bewegung, indem es sie emotionalisiert. Es ist politisch, da es ein Drama zwischen Akteuren ist und nicht innerhalb eines Akteurs. Die anderen Akteure agieren als Antagonisten des melodramatischen "Helden" und geben seiner/ihrer Identität damit einen Sinn von Einheit oder Ganzheit - selbst wo sie zugleich die Identität bedrohen. Ich möchte abschließend einen letzten Grund anführen, der zu tun hat mit dem Umstand, dass die melodramatische Handlungsform eine Antwort auf das Problem des revolutionären Erhabenen darstellt, also auf das Ereignis des radikalen Bruchs mit der Vergangenheit, des radikalen Antagonismus, der als solcher nicht repräsentiert werden kann.

Wie reagiert also der melodramatische Akteur auf die unmögliche Aufgabe, das Undarstellbare darzustellen? Die Antwort wird nun eben nicht auf der Ebene der Repräsentation gegeben, nicht auf der Ebene der Rede oder verbalen Sprache. Sie wird gegeben auf der somatischen Ebene der Aktion in Form des bekannten Phänomens der Hysterisierung des melodramatischen Körpers. Wie Peter Brooks gezeigt hat, benehmen sich die hysterisierten Körper des Melodrams auf eine Weise, die an das psychoanalytische Konzept des acting out erinnert. Dergestalt agieren sie etwas aus - den Antagonismus, die Revolution, die Neue Ordnung -, das als solches der Repräsentation entkommt.[28] Die Unmöglichkeit, die Erfahrung von etwas zu verbalisieren, das jenseits der Verbalisierung liegt (das revolutionäre Erhabene), führt zur Hysterisierung des Körpers, das heißt zum somatischen Ausagieren, oder besser: zum acting out. (Für Brooks ist das, nebenbei gesagt, auch der Grund für die wichtige Rolle der Pantomime im Melodram.) Und Heilman spricht, bezogen auf solch körperliches Agieren, von einer melodramatischen "Katharsis", die aus der Freisetzung bestimmter Impulse resultiert: "Wo ich den Begriff verwende, würde ich ihm die Bedeutung von 'working off' oder 'working out' oder einfach 'working' geben".[29] Was ist dieses working out anderes als das acting out, das Peter Brooks am Melodram beobachtete?

Um das Phänomen vollständig zu erfassen, kann es hilfreich sein, auf den psychoanalytischen Ursprung des Begriffs acting out zurückzukommen. Analytisch gesprochen bedeutet acting out zuallererst den Versuch, den Rahmen der Analyse (als Form der Übertragung) auf nicht-verbale Weise zu sprengen, zum Beispiel indem man konstant zu spät zur Sitzung erscheint. A forteriori kann es als Wiederholungszwang auf Basis eines unbewussten Phantasmas eine traumatische Erfahrung symptomatisch reflektieren.[30] Im politischen Fall entspräche dem acting out somit die Unfähigkeit, das "traumatische" Ereignis des Antagonismus und des radikalen Bruchs angemessen zu verbalisieren, durchzudenken und durchzuarbeiten. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird Antagonismus als das, was nicht direkt repräsentiert werden kann, dennoch symptomhaft in Form eines melodramatischen acting out reflektiert, das nicht auf dieselbe Weise "bewusst" ist wie die (immer zum Scheitern verurteilten) künstlerischen Repräsentationen des Antagonismus, die ich beschrieben habe. Es handelt sich um keine Repräsentation, sondern um einen somatischen und zwanghaften Effekt, der von einer abwesenden Ursache ausgelöst wurde. Das könnte dann die physische Konvulsion und nahezu Cartoon-hafte Deformation erklären, die revolutionäre Rede (aber auch die revolutionäre journée und ihre karnevalistischen Aspekte) immer begleitet, so dass die "Eroberung der Rede" zugleich vom somatischen Ausagieren von etwas begleitet wird, das eo ipso nicht verbalisiert werden kann und jeder "Rede" entkommt.

Wie ich zu Beginn sagte, zeigt sich das, was nicht direkt signifiziert werden kann, nur durch den eigentlichen Zusammenbruch von Signifikation. Peter Brooks Punkt wäre, dass das hysterische somatische Ausagieren, das so typisch für Melodramen ist, als genau das Symptom eines solchen Zusammenbruchs verstanden werden muss. Unser Punkt ist, dass jedes politische Handeln einen Moment des acting out besitzt, und zwar in dem Ausmaß, in dem es mit dem Antagonismus verknüpft ist als jener Instanz, die als solche nicht darstellbar ist und deshalb nicht verbalisiert werden kann.

Das Argument dieses Abschnitts lässt sich also in der Behauptung zusammenfassen, dass wir zum Antagonismus im strikt ontologischen Sinn keinen Zugang haben; und dennoch bedeutet das nicht, dass die ontologische Kategorie des Antagonismus deshalb schon nutzlos wäre oder radikale Antagonismen nicht existieren würden. Vielleicht ist das theoretische ontologische Konzept des Antagonismus nützlich, weil es uns mit einem Grenzbegriff versorgt, der die Bedingungen der Möglichkeit und Unmöglichkeit "real existierender" Antagonismen und Konflikte-im-Plural absteckt - wie auch jene der Öffentlichkeiten (im Plural). Und das, gerade weil der Antagonismus existiert, nämlich in Form seiner dislokatorischen Effekte in der Realität.

 

Der Sprung

Allerdings möchte ich, um zu einem Ende zu finden, abschließend genau das Gegenteil dessen behaupten, was ich gerade gesagt habe. Es gibt in der Tat eine Möglichkeit, direkten Zugang zum Antagonismus zu finden (wenn auch nur im Ausnahmefall). Auf diese Möglichkeit weist in der Psychoanalyse ein weiteres Konzept hin, das sorgfältig vom Konzept des acting out unterschieden werden muss: das Konzept des "passage à l'acte". Die Differenz besteht darin, wie es Jacques-Alain Miller klar gemacht hat, dass acting out - wie etwa bei Melodramen - immer auf einer Bühne stattfindet, unter den Blicken des Anderen. So können wir, Miller zufolge, nur dann von acting out sprechen, wenn es eine Bühne gibt, auf der das Subjekt vor einem Publikum zu agieren beginnt.[31] Doch im Fall eines passage à l'acte ist das Subjekt nicht mit dem eigenen Agieren oder Handeln konfrontiert, sondern mit dem Akt im radikalen Sinn. Eine Bühne gibt es nicht mehr. Jeder Akt, der diesen Namen verdient, besteht für Miller in der Überschreitung eines Codes, eines Gesetzes, eines symbolischen Ganzen. Das Subjekt riskiert, den Anderen (das Symbolische, bzw. die zum Publikum versammelten anderen) hinter sich zu lassen. Es entkommt jeder Dialektik, jeder Ambivalenz des Denkens, des Wortes, der Sprache und Rede. Es handelt sich beim Akt, wie Miller sagt, um ein dem Anderen entgegengeschleudertes Nein. Das lässt sich tatsächlich nur verwirklichen, indem man von der Bühne springt und das Theater verlässt. Doch da kein Subjekt weit genug springen kann, um gleichsam den Bühnengraben zu überwinden und das andere Ufer der Nicht-Bühne zu erreichen, fällt es in einen Abgrund. Jeder wahre Akt ist eine Überschreitung, aber wahre Überschreitung ist unmöglich (weshalb das Modell sich signifikant von jenem Bachtins oder anderer Freunde der Transgression unterscheidet, die den ersten Teil des Satzes wohl unterschreiben, den zweiten aber empört zurückweisen würden). Sie ist, aus psychoanalytischer Sicht, unmöglich - außer in einem einzigen Fall: im Selbstmord.

Wenn wir das auf das Feld der Politik übertragen, dann taucht natürlich die Frage auf, ob Revolution, wird sie ernst genommen, nicht gerade der Name für solch einen suizidalen Bruch wäre. Es war Saint Just, der sagte, die Republik könne nur durch die totale Zerstörung all dessen konstituiert werden, was gegen sie gerichtet sei. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt stellte sich heraus, dass damit die Revolutionäre selbst mitgemeint waren. In gewissem Ausmaß ist es die suizidale Logik von Revolutionen - verdichtet im Versuch, antagonistisch in reinster Form zu agieren -, die die fortschreitende Selbstauslöschung der französischen Revolutionäre erklärt. Dieser Akt der Überschreitung der symbolischen (alten) Ordnung auf etwas hin, dessen Zugang uns versperrt ist, wurde durch die Idee angetrieben, den Antagonismus in Großbuchstaben auszuagieren, einen totalen Bruch mit der Vergangenheit zu bewerkstelligen und das Alte komplett zu verlassen, um ins Neue einzutreten. Doch ein direktes Ausagieren des Antagonismus und des radikalen Bruchs ist selbstmörderisch. Ein Antagonismus mag in einem hoffnungslosen Repräsentationsversuch auf die Bühne gebracht werden, aber es wird sich nie um "the real thing" handeln; es wird sich immer um eine Art der Sublimierung, Dramatisierung und repräsentationalen Antagonismusversion zweiter Ordnung handeln. In die wirkliche, reale Sache des Antagonismus zu springen, hieße vom Dach in die Tiefe zu springen. (Das entbindet uns aber nicht von der Notwendigkeit, radikalen Antagonismus - oder den radikalen Akt - als Grenzbegriff beizubehalten. Wollte man das Argument nochmals in dekonstruktive Begriffe fassen, könnte man sagen, dass der "passage à l'acte" die Bedingung der Möglichkeit allen Agierens ist - so wie das konstitutive Außen der Signifikation die Bedingung der Möglichkeit von Signifikation ist. Andererseits kann es ein graduales Agieren oder Handeln nur geben, weil ein letztlich erfolgreicher "passage à l'acte" unmöglich ist. Es kann "Aktionen" geben, weil der Akt im ontologisch radikalen Sinn nie glückt - jedenfalls nicht, ohne seine eigenen Möglichkeitsbedingungen damit zugleich zu zerstören.)

Aus diesem Grund muss die Politik genauso wie die Psychoanalyse das Phantasma eines radikalen Bruchs und eines existentiellen Sprungs in das Politische aufgeben und sich mehr oder weniger auf eine Passage hin zu einem immer nur partiell glückenden, notwendigerweise erfolglosen Akt beschränken. Der Name für solch eine Politik müsste nicht Revolution, aber könnte "radikale Demokratie" sein. Nur, wie würde diese Politik sich zum Theater verhalten - bzw. ein radikal-demokratisches Theater zur Politik? Wie Janelle Reinelt es in ihren Notes for a Radical Democratic Theater ausdrückt, würde das einen Theaterraum, eine Theateröffentlichkeit aus "Bürger-Zuschauern" ("citizen-spectators") implizieren, die "zu Inszenierungen des sozialen Imaginären zusammenkommen, um die Affirmation, Anfechtung und Durcharbeitung unterschiedlichster Materialien und diskursiver Praktiken, die der Konstitution einer demokratischen Gesellschaft angemessen sind, zu erfahren." Und es würde eine "wahrhaft radikale Form des Zivilpublikums ['civic spectatorship']" implizieren, Verhandlung und Streit - und "einen fundamentalen Wandel der traditionellen Funktion des Publikums vom Konsumenten zum Akteur."[32] Wenn dieses Theater noch eine Bühne besitzen sollte, dann wird es jene des Politischen sein.


[1] Zitiert in Ingrid Gilcher-Holtey: "Die Phantasie an die Macht". Mai 68 in Frankreich, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S.441.

[2] Zitiert in Paul-Louis Mignon: Jean-Louis Barrault. Le theâtre total, Monaco : Éditions du Rocher 1999, S.286.

[3] Michel de Certeau: La prise de parole et autres écrits politiques, Paris : Éditions du Seuil, 1994, S.40.

[4] Zitiert in Baz Kershaw: The Radical in Performance: Between Brecht and Baudrillard, London und New York: Routledge 1999, S.100.

[5] John Tytell: The Living Theatre. Art, Exile, and Outrage, New York: Grove Press 1995, S.232-3.

[6] Mignon, a.a.O., S.285.

[7] Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz, Wien: Turia + Kant 2002, S.66.

[8] Ibid., S.69.

[9] Ernesto Laclau: New Reflections on the Revolution of Our Times, London und New York: Verso 1990, S.39.

[10] Ibid., S.34.

[11] Ibid., S.35.

[12] Slavoj Žižek: For they know not what they do, London und New York: Verso 1991, S.88.

[13] Lynn Hunt: Politics, Culture, and Class in French Revolution, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1984.

[14] Zit. in Vladimir Tolstoy, Irina Bibikova, Catherine Cook: Street Art of the Revolution. Festivals and Celebrations in Russia 1918-33, London: Thames and Hudson, 1990.

[15] Zit. in Robert Leach: Revolutionary Theatre, London und New York: Routledge 1994, S.49.

[16] Peter Brooks, "Melodrama, Body, Revolution," in J. Bratton, J. Cook, C. Gledhill (Hg.): Melodrama, London: British Film Institute 1994, S.16.

[17] Ibid., S.17

[18] Ibid., S.16

[19] Robert B. Heilman: Tragedy and Melodrama, Seattle und London: Washington University Press, 1968, S.85.

[20] Ibid., S.79.

[21] Ibid., S.81.

[22] James L. Smith: Melodrama, London: Methuen 1973, S.8.

[23] Sh. Heilman, a.a.O., S.86.

[24] Ibid., S.90.

[25] Ibid., S. 91.

[26] Sh. Daniel Gerould: "Melodrama and Revolution", in J. Bratton, J. Cook, C. Gledhill (Hg.): Melodrama, London: British Film Institute 1994.

[27] Smith, a.a.O., S.37.

[28] Andererseits muss die Revolution, damit man sich ihrer versichert, ununterbrochen neu aufgeführt werden.

[29] Heilman, a.a.O., S.84.

[30] Lacan selbst unterscheidet nochmals zwischen Symptom und acting out, eine Differenzierung, die hier aber aus Platzgründen nicht weitergeführt wird.

[31] Jacques-Alain Miller: "Jacques Lacan: Bemerkungen über sein Konzept des Passage à l’acte", in Wo Es War, 7-8, S. 39-49.

[32] Janelle Reinelt: "Notes for a Radical Democratic Theater: Productive Crises and the Challenge of Indeterminacy", in Jeanne Colleran und Jenny S. Spencer (Hg.): Staging Resistance. Essays on Political Theater, Ann Arbor: The University of Michigan Press 1998, S. 286.