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01 2001

Das Öffentlichsein des Intellekts. Nichtstaatliche Öffentlichkeit und Multitude

Paolo Virno

Übersetzt von Klaus Neundlinger

languages
journal
publicum

Gemeinplätze und "General Intellect"

Um den zeitgenössischen Begriff der Multitude besser zu verstehen, ist es angebracht, eine tiefer gehende Reflexion hinsichtlich der Frage anzustellen, worin die essenziellen Ressourcen bestehen, auf die man zählen kann, wenn man Schutz vor der Gefährlichkeit der Welt sucht. Ich schlage vor, diese Ressourcen mittels eines Begriffs auszumachen, der aus der aristotelischen Sprachtheorie, genauer gesagt, aus dessen Rhetorik stammt: mittels des Begriffs der "allgemeinen Gesichtspunkte" (Gemeinplätze), der topoi koinoi.

Wenn wir heute von "Gemeinplätzen" sprechen, verstehen wir darunter meist stereotype Aussagen ohne tiefere Bedeutung, Banalitäten, tote Metaphern (zum Beispiel: Morgenstund’ hat Gold im Mund), abgedroschene Redewendungen. Dennoch war dies nicht die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks "Gemeinplatz". Bei Aristoteles (Rhetorik, I, 2, 1358a) sind die topoi koinoi logische und sprachliche Formen von sehr allgemeinem Wert, man könnte sogar sagen, das Skelett einer jeden Rede, das, was jeden besonderen Ausdruck ermöglicht und vorweg ordnet. Sie sind Gemein-plätze, weil niemand ohne sie auskommt, weder die raffinierte RednerIn noch der (oder die) Betrunkene, der mühsam hervorgebrachte Worte lallt, weder Geschäftsmann/frau noch PolitikerIn. Aristoteles führt drei davon an: die Beziehung des Mehr und Weniger, die Gegenüberstellung des Gegenteiligen und die Kategorie der Wechselseitigkeit (Reziprozität) ("Wenn ich ihr Bruder bin, dann ist sie meine Schwester").

Wie jedes wirkliche Knochengerüst erscheinen diese drei Kategorien nie als solche. Sie sind der Handlungsfaden im "Leben des Geistes", ein dennoch unsichtbarer, nicht erscheinender Handlungsfaden. Was aber gibt sich dann in unseren Reden zu erkennen, was an ihnen wird sichtbar? Die "spezifischen Gesichtspunkte", die topoi idioi, wie sie von Aristoteles genannt werden. Dabei handelt es sich um Redewendungen - Metaphern, geistvolle Äußerungen, Allokutionen usw. - die nur in einem jeweils bestimmten Bereich des gemeinschaftlichen Lebens eine passende Verwendung finden. "Spezifische Gesichtspunkte" sind Rede- und Denkweisen, die etwa in Parteilokalen, in der Kirche, im Hörsaal oder unter den Fans von Inter Mailand zum Einsatz kommen. Sowohl das städtische Leben als auch der Ethos (gemeinsame Gewohnheiten) artikulieren sich über "spezifische Gesichtspunkte", die untereinander sehr verschieden und oft sogar miteinander unvereinbar sind. Ein bestimmter Ausdruck funktioniert einmal und ein anderes Mal nicht, ein Argumentationstyp dient dazu, diese Gesprächspartner zu überzeugen, aber nicht jene, usw.

Die Transformation hingegen, der wir uns heutzutage gegenüber sehen, kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die "spezifischen Gesichtspunkte" der Rede und der Argumentation sind im Verschwinden bzw. in Auflösung begriffen, während die "allgemeinen Gesichtspunkte", die generischen, jede Rede zusammenhaltenden sprachlich-logischen Formen, unmittelbar sichtbar werden. Das bedeutet, dass wir uns, um uns in der Welt zu orientieren und uns vor ihren Gefahren zu schützen, nicht auf Denk- und Redeweisen verlassen können, die in dem einen oder anderen besonderen Zusammenhang ihre Nische gefunden haben. Der Fußballfanclub, die religiöse Gemeinschaft, die Parteisektion, der Arbeitsplatz, all diese "Plätze"[1] wird es zwar weiterhin geben, keiner davon ist jedoch von einer solchen Beschaffen- oder Bestimmtheit, dass er uns als "Windrose" dienen könnte, als Orientierungsmuster oder verlässlicher Kompass, als Zusammenspiel spezifischer Gewohnheiten, Rede- und Denkweisen. Überall und zu jeder Gelegenheit sprechen und denken wir auf dieselbe Art und Weise, aufgrund sprachlich-logischer Konstrukte, die ebenso grundlegend wie allgemein sind. Was dabei verschwindet, ist eine ethisch-rhetorische Topographie. Was hingegen in den Vordergrund rückt, sind die Gemeinplätze, diese mageren Prinzipien des "Lebens des Geistes": die Beziehung des Mehr und Weniger, die Gegenüberstellung der Gegenteile, das Verhältnis der Wechselseitigkeit usw. Nur diese bieten ein Kriterium für die Orientierung und infolgedessen einigermaßen Schutz vor dem Lauf der Dinge.

Nicht mehr unsichtbar, sondern sogar ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, sind die Gemeinplätze, die "Unheil abwehrende Kraft" der zeitgenössischen Multitude. Sie tauchen an der Oberfläche auf wie eine Kiste voller unmittelbar einsetzbarer Werkzeuge. Was sind die Gemeinplätze also anderes als der Grundkern des "Lebens des Geistes", das Epizentrum jenes sprachbegabten Tieres, das der Mensch nun einmal darstellt?

Man könnte demnach behaupten, das "Leben des Geistes" werde in sich selbst öffentlich. Man greift auf allgemeinste Kategorien zurück, um sich durch verschiedenste, jeweils anders bestimmte Situationen hindurchzumanövrieren, und verfügt dennoch über keine speziellen, bestimmten Sektoren zuzurechnenden, ethisch-kommunikativen Codes mehr. Das Sich-nicht-zu-Hause-Fühlen und die vorrangige Verwendung von "Gemeinplätzen" gehen Hand in Hand. Der Intellekt als solcher, der reine Intellekt, wird dort zur konkreten Orientierungshilfe, wo die substanziellen Gemeinschaften verschwinden und man immer mehr der Welt in ihrer Gesamtheit ausgesetzt ist. Der Intellekt stellt sich auch in seinen verfeinerten Funktionen als etwas Gemein(sam)es und Sichtbares dar. Die "Gemeinplätze" sind kein nicht erscheinender Hintergrund mehr, sie werden nicht mehr vom Gewühl der "spezifischen Gesichtspunkte" verdeckt. Sie sind eine allgemein zugängliche Quelle, aus der die "Vielen" in jeglicher Situation etwas schöpfen können. Das "Leben des Geistes" ist das Eine, das der Seinsweise der Multitude untersteht. Um es noch einmal und noch deutlicher zu sagen: Das In-den-Vordergrund-Rücken des Verstandes als solchen, die Tatsache, dass die allgemeinsten und abstraktesten sprachlichen Strukturen zu Instrumenten werden, die das eigene Verhalten auszurichten erlauben, stellt meines Erachtens eine der Hauptbedingungen, die die zeitgenössische Multitude bestimmen, dar.

Ich habe eben begonnen, den "öffentlichen Intellekt" zu erläutern. Der Ausdruck "öffentlicher Intellekt" jedoch steht im Widerspruch zu einer langen Tradition, laut der das Denken eine abseitige und einsame Tätigkeit darstellt, die einen von Seinesgleichen trennt, eine innerliche Tätigkeit ohne sichtbare Erscheinungsweisen, die der Sorge um gemeinschaftliche Angelegenheiten äußerlich ist. Eine Ausnahme hinsichtlich dieser langen Tradition, gemäß der das "Leben des Geistes" sich dem Öffentlichen entzieht, stellen meiner Meinung nach bloß einige Seiten von Marx dar, die den Verstand als etwas Äußerliches und Kollektives, als öffentliches Gut setzen. Im "Fragment über Maschinen",[2] einem Text aus den Grundrissen, schreibt Marx über den General Intellect. Er benutzt den englischen Ausdruck, um diesem Begriff Kraft zu verleihen, so als wolle er ihn hervorheben. Der Begriff General Intellect kann sich aus verschiedenen Zusammenhängen herleiten. Vielleicht handelt es sich dabei um eine polemische Antwort auf die volonté generale von Rousseau (Nicht der Wille, sondern der Intellekt verbindet laut Marx die ProduzentInnen); oder vielleicht ist der General Intellect die materialistische Wiederaufnahme des aristotelischen Begriffs nous poietikos (der poietische, schaffende Verstand). An dieser Stelle geht es uns aber nicht um philologische Studien. Wichtig ist der äußerliche, soziale, kollektive Charakter, der der intellektuellen Tätigkeit zukommt, sobald diese laut Marx die wahre Antriebskraft der Produktion von Reichtum wird.

Mit Ausnahme dieser paar Seiten von Marx, ich wiederhole es, sind dem Intellekt immer die Eigenschaften der Reserviertheit und des Entzugs gegenüber der Öffentlichkeit zugeschrieben worden. In einer der Jugendschriften von Aristoteles[3] wird das Leben des Denkers (der Denkerin) mit dem des (der) Fremden verglichen. Der Denker (die Denkerin) muss sich seiner (ihrer) Gemeinschaft entfremden, er (sie) muss sich vom Rauschen der Multitude entfernen, dem Lärm der agorá einen Dämpfer aufsetzen. Im öffentlichen Leben, in der politisch-sozialen Gemeinschaft, fühlen sich weder der Denker (die Denkerin) noch der (die) Fremde im engeren Sinn heimisch. Dies ist ein geeigneter Ausgangspunkt, um die Bedingungen der zeitgenössischen Multitude genauer zu bestimmen, vorausgesetzt, wir ziehen aus der Analogie zwischen dem (der) Fremden und dem Denker (der Denkerin) andere Schlüsse.

Das Fremdsein, also das Sich-nicht-heimisch-Fühlen, stellt heute die unausweichliche und gemeinsame Lage der Vielen dar. Daher müssen diejenigen, die sich nicht heimisch fühlen, auf die Gemeinplätze, d. h. auf die allgemeinsten Kategorien des sprachlichen Intellekts zurückgreifen, um sich zu orientieren und zu schützen. In diesem Sinn sind die Fremden immer DenkerInnen. Wie man sehen kann, habe ich den Vergleich in umgekehrter Richtung angestellt: Nicht der Denker (die Denkerin) wird gegenüber seiner (ihrer) ursprünglichen Gemeinschaft zum (zur) Fremden, sondern die Fremden, die Multitude der "Heimatlosen", erlangen gezwungenermaßen den Status von DenkerInnen. Die "Heimatlosen" können sich nur als DenkerInnen verhalten. Nicht, weil sie etwas von Biologie oder höherer Mathematik verstünden, sondern weil sie auf die grundlegendsten Kategorien des abstrakten Intellekts zurückgreifen, um den Zufällen des Lebens zu begegnen und sich gegenüber der Kontingenz und dem Unvorhergesehenen zu schützen.

Bei Aristoteles ist der Denker (die Denkerin) zwar ein Fremder (eine Fremde), aber nur vorläufig: Sobald er (sie) die Metaphysik vollendet hat, kann er (sie) sich wieder mit den allgemeinen Angelegenheiten auseinander setzen. In gleicher Weise ist der (die) Fremde im strengen Sinn, zum Beispiel der Spartaner, der nach Athen gekommen ist, nur befristet fremd. Früher oder später wird er in seine Heimat zurückkehren. Für die zeitgenössische Multitude hingegen ist das Gefühl des "Nicht-zu-Hause-Seins" ein ständiger, irreversibler Zustand. Das Nichtvorhandensein einer substanziellen Gemeinschaft und der damit verbundenen "spezifischen Gesichtspunkte" führt dazu, dass das Leben des (der) Fremden, das Sich-nicht-heimisch-Fühlen und der bios xenikós unausweichliche und dauerhafte Erfahrungen sind. Die Multitude der "Heimatlosen" vertraut sich dem Intellekt, den Gemeinplätzen an: Sie ist auf ihre Weise eine Multitude von DenkerInnen (auch wenn diese nur die Grundschule besucht und nie im Leben ein Buch gelesen haben sollten).

Eine Bemerkung am Rande: Oft wird auf abfällige Weise vom Albern-Kindlichen an den Verhaltensweisen im urbanen Leben gesprochen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass diese Geringschätzung nicht von besonderem Tiefsinn zeugt, scheint es uns dennoch der Mühe wert zu sein, sich die Frage zu stellen, ob in der Verbindung von städtischem Leben und Kindheit nicht ein Kern an Wahrheit verborgen liegt. Vielleicht ist die Kindheit ja die ontogenetische Matrix einer jeden späteren Suche nach Schutz vor den Ein- und Auswirkungen der uns umgebenden Welt. Sie stellt ein Beispiel für die Notwendigkeit dar, eine konstitutive Unentschiedenheit, eine ursprüngliche Unsicherheit zu überwinden (Unentschiedenheit und Unsicherheit, die manchmal dem Gefühl der Scham weichen, einem Gefühl, das den Tierjungen, die von Beginn an wissen, wie sie sich verhalten sollen, fremd ist). Das Kind findet in der Wiederholung Schutz (noch einmal dasselbe Märchen, dasselbe Spiel, dieselbe Geste). Die Wiederholung muss als Schutzstrategie gegenüber der schockhaften Einwirkung des Neuen und Unvorhergesehenen verstanden werden. Das damit verbundene Problem muss folgendermaßen formuliert werden: Kann es nicht sein, dass sich die Erfahrung der Kindheit über die in den großen städtischen Agglomerationen vorherrschenden Verhaltensweisen in die Erfahrung des Erwachsenseins übertragen hat (Verhaltensweisen, die von Benjamin, Simmel und vielen anderen beschrieben wurden)? Die kindliche Erfahrung der Wiederholung setzt sich im Erwachsenenalter fort, da sie die grundlegende Form des Schutzes dort konstituiert, wo feste Gewohnheiten, substanzielle Gemeinschaften, ein Ethos fehlen. In den traditionellen Gesellschaften (wenn man so will, in der Erfahrung des "Volkes") wurde die dem Kind so wichtige Wiederholung durch komplexere und artikuliertere Formen des Schutzes ersetzt: den Ethos, d. h. die Bräuche und Gewohnheiten, die das die substanziellen Gemeinschaften zusammenhaltende Geflecht bilden. In den Zeiten der Multitude kommt es nicht mehr zu dieser Art der Ersetzung. Die Wiederholung, weit davon entfernt, von anderen Formen abgelöst zu werden, besteht weiter. Walter Benjamin hat diesbezüglich den entscheidenden Punkt erkannt: Er hat der Kindheit große Aufmerksamkeit geschenkt, dem kindlichen Spiel, der Leidenschaft, die das Kind für die Wiederholung hegt. Zugleich hat er in der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks den Bereich ausgemacht, in dem sich neue Formen der Wahrnehmung herausbildeten.[4] Es ist also davon auszugehen, dass zwischen diesen beiden Aspekten ein Zusammenhang besteht. In der technischen Reproduzierbarkeit lebt die kindliche Instanz des "Noch einmal" in potenzierter Form wieder auf, es kommt zu einem Wiederauftauchen des Bedürfnisses nach Wiederholung als Schutz. Das Öffentlichsein des Geistes, das Sichtbarwerden der "Gemeinplätze", der General Intellect offenbaren sich auch als versichernde Wiederholung. Es stimmt, die heutige Multitude hat etwas Infantiles, dieses Etwas ist aber außerordentlich ernst.

 

Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit

Wir sagten, die Multitude sei durch das "Sich-nicht-heimisch-Fühlen" bestimmt, sowie durch ihre Vertrautheit mit den "Gemeinplätzen", mit dem abstrakten Intellekt. Es muss nun hinzugefügt werden, dass die Dialektik zwischen Furcht und Schutz in eben dieser Vertrautheit mit dem abstrakten Intellekt verwurzelt ist. Der öffentliche und allgemeine Charakter des "Lebens des Geistes" nimmt demnach ambivalente Züge an: Er enthält in sich auch negative Möglichkeiten, Furcht erregende Figuren. Der öffentliche Intellekt ist die einheitliche Wurzel, aus der sowohl schreckliche Formen des Schutzes als auch solche Formen, die imstande sind, wirkliches Wohlergehen zu erzeugen (insofern sie uns, wie gesagt, vor den ersteren bewahren), entstehen können. Der öffentliche Intellekt, aus dem die Multitude schöpft, ist Ausgangspunkt für höchst gegensätzliche Entwicklungen. Das In-den-Vordergrund-Rücken der grundlegenden Fähigkeiten menschlichen Daseins (Denken, Sprache, Selbstreflexion, Lernfähigkeit) kann einen beunruhigenden und bedrückenden Aspekt annehmen, oder aber es kann daraus eine neue Form der Öffentlichkeit entstehen, eine nichtstaatliche Öffentlichkeit, die sich fernab von den Mythen und Riten der Souveränität konstituiert.

Sehr verkürzt dargestellt, lässt sich meine These folgendermaßen umschreiben: Wenn sich das Öffentlichsein des Intellekts nicht einer Öffentlichkeit unterstellt, einem politischen Raum, innerhalb dessen die Vielen sich um die gemeinschaftlichen Angelegenheiten kümmern können, zeitigt dieses Öffentlichsein schreckliche Effekte. Ein Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit, darin besteht die negative Seite - das Schlimme, wenn man so will - in der Erfahrung der Multitude. Freud zeigt in seinem Aufsatz über das Unheimliche,[5] wie die veräußerte Macht des Denkens beängstigende Gestalten annehmen kann. Er führt aus, dass die Kranken, für die Gedanken eine äußere, praktische, unmittelbar wirksame Macht haben, fürchteten, von den anderen beeinflusst und überwältigt zu werden. Dabei handelt es sich übrigens um dieselbe Situation, zu der es in einer spiritistischen Sitzung kommt, in deren Verlauf die TeilnehmerInnen sich zusammendrängen, als ob sie miteinander verschmelzen wollten, sodass sich jeder individuelle Zug auflöst. Der von Freud erforschte Glaube an die "Allmacht der Gedanken" und die Grenzsituation der spiritistischen Sitzung exemplifizieren bestens, was ein Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit sein kann, was ein "allgemeiner Intellekt", ein General Intellect, der sich nicht in einem öffentlichen Raum artikuliert, darstellt.

Wenn der General Intellect oder "öffentliche Intellekt" nicht zur Republik, zur Öffentlichkeit, zur politischen Gemeinschaft wird, vervielfältigt er ungebremst Formen der Unterdrückung. Um diesen Punkt zu klären, ist es nötig, einen Blick auf die zeitgenössische Produktionsordnung zu werfen. Dass alle an den sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten in gleicher Weise teilhaben, ist das konstitutive Element des postfordistischen Produktionsprozesses. Alle ArbeiterInnen treten als SprecherInnen/DenkerInnen in den Produktionsprozess ein. Das hat wohlgemerkt nichts mit "Professionalität" oder mit antikem "Handwerk" zu tun: Sprechen und Denken sind allgemeine Fähigkeiten des menschlichen Wesens, das Gegenteil jeglicher Form der Spezialisierung. Diese ursprüngliche Teilhabe[6] charakterisiert einerseits die "Vielen" als "Viele", die Multitude, andererseits stellt sie die eigentliche Grundlage der heutigen Produktionsordnung dar. Die Teilhabe als technische Voraussetzung widersetzt sich der Arbeitsteilung, sie zersetzt sie und läuft ihr zuwider. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Tätigkeiten nicht mehr unter-, auf-, eingeteilt usw. wären; es bedeutet vielmehr, dass die Segmentierung der einzelnen Tätigkeiten nicht mehr nach objektiven, "technischen" Kriterien vorgenommen wird, sondern ausgesprochen arbiträr, reversibel und ständig in Veränderung begriffen ist. Was für das Kapital wirklich zählt, ist die ursprüngliche Teilhabe an den sprachlich-kognitiven Fertigkeiten, da eben diese das schnelle Reagieren auf die Innovation, die Anpassungsfähigkeit usw. garantiert. Es ist nun offensichtlich, dass diese Teilhabe an allgemeinen kognitiven und linguistischen Fertigkeiten innerhalb des realen Produktionsprozesses nicht zur Öffentlichkeit noch zur politischen Gemeinschaft oder zu einem konstitutionellen Prinzip wird. Was geschieht demnach wirklich?

Das Öffentlichsein des Intellekts, die Tatsache, dass alle an ihm Anteil haben, wirft zwar einerseits jede strenge Arbeitsteilung über den Haufen, fördert aber andererseits die persönliche Abhängigkeit. "General Intellect", Ende der Arbeitsteilung, persönliche Abhängigkeit: diese drei Aspekte hängen zusammen. Das Öffentlichsein des Verstandes geht, wenn es sich nicht in einer Öffentlichkeit artikuliert, in eine unkontrollierte Ausbreitung von Hierarchien über, die ebenso willkürlich wie robust sind. Die Abhängigkeit ist im doppelten Sinn eine persönliche: In der Arbeit ist man von dieser oder jener Person abhängig, nicht von Regeln, die eine anonyme Verfügungsgewalt ausüben. Darüber hinaus wird die eigene Person in ihrer Gesamtheit unterworfen, in ihren grundlegenden kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten. Hierarchien, die sich rasch ausbreiten, minutiös funktionieren und auf die einzelne Person abgestimmt sind: So sehen die negativen Konsequenzen des Öffentlichseins bzw. der Teilhabe am Intellekt aus. Die Multitude, betonen wir es noch einmal, ist eine ambivalente Seinsweise.

 

Welches Eine für die Vielen? 

Aus dem bisher Argumentierten geht klar hervor, dass sich die Multitude des Einen als des Universellen, Gemeinsamen der Teilhabe nicht entledigt, sondern dieses neu bestimmt. Das Eine der Multitude hat nichts mehr mit dem Einen, das sich durch den Staat konstituiert, oder das mit dem "Volk" in eins fällt, zu tun.

Das Volk ist das Resultat einer zentripetalen Bewegung: von den atomisierten Individuen hin zur Einheit des "politischen Körpers", zur Souveränität. Das Eine ist das äußerste Ende dieser zentripetalen Bewegung. Die Multitude hingegen ist das Resultat einer zentrifugalen Bewegung: vom Einen zu den Vielen. Aber um welches Eine handelt es sich, von dem aus die Vielen sich differenzieren und als solche fortbestehen? Es kann natürlich nicht der Staat sein, also muss es sich um eine andere Form der Einheit bzw. Universalität handeln.

Die Einheit, von der die Multitude ausgeht, konstituiert sich durch die "Gemeinplätze" des Geistes, durch die sprachlich-kognitiven Vermögen, die der menschlichen Spezies gemein sind, durch den General Intellect. Es handelt sich um eine Einheit bzw. Universalität, die sich sichtlich von der staatlichen unterscheidet. Es sei noch einmal deutlich unterstrichen: Die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten der Spezies rücken nicht deshalb in den Vordergrund, weil jemand das so beschließen würde, sondern aus schierer Notwendigkeit, weil sie eine Form des Schutzes in einer Gesellschaft darstellen, die über keine substanziellen Gemeinschaften mehr verfügt (und daher auch über keine "spezifischen Gesichtspunkte").

Das Eine der Multitude ist also nicht das Eine des "Volkes". Die Multitude geht nicht in einer volonté generale auf, und zwar aus einem einfachen Grund: weil sie schon über einen General Intellect verfügt. Der öffentliche Intellekt, der im Postfordismus als schlichte produktive Ressource erscheint, kann jedoch ein alternatives "konstitutionelles Prinzip" bilden, er lässt eine nichtstaatliche Öffentlichkeit durchscheinen. Für die Vielen als Viele gibt das Öffentlichsein des Intellekts entweder einen beständigen Hintergrund oder einen Stützpunkt ab: im Guten und im Schlechten.

Es besteht sicherlich ein beträchtlicher Unterschied zwischen der zeitgenössischen und der von den politischen Philosophen des 17. Jahrhunderts erforschten Multitude. An den Ursprüngen der Moderne fällt der Begriff der Vielen mit den BürgerInnen der Kommunalrepubliken, die schon vor dem Entstehen der großen Nationalstaaten existierten, zusammen. Jene Vielen beriefen sich auf das Recht zum Widerstand, das ius resistentiae. Dieses Recht ist nicht gleichbedeutend mit dem Notwehrrecht, es ist feiner und komplizierter. Das "Widerstandsrecht" besteht darin, dass die Vorrechte eines (einer) Einzelnen, einer lokalen Gemeinschaft, oder eines Standes gegen die Zentralmacht geltend gemacht werden, indem bereits bestehende Lebensformen verteidigt und bereits verwurzelte Gewohnheiten geschützt werden. Es geht also darum, für etwas Positives zu kämpfen: eine konservative (im guten, noblen Sinn des Worts) Gewalt. Vielleicht ist das ius resistentiae, also das Recht, etwas zu schützen, das bereits existiert und wert ist, weiterhin zu bestehen, das, was die multitudo des 16. Jahrhunderts und die postfordistische Multitude am ehesten vereint. Auch für diese handelt es sich sicher nicht darum, die "Macht zu übernehmen", einen neuen Staat aufzubauen und ein neues politisches Entscheidungsmonopol zu schaffen, sondern darum, die Erfahrungen in ihrer Vielfalt, Formen nicht-repräsentativer Demokratie, nicht-staatliche Bräuche und Gewohnheiten zu verteidigen. Was den Rest betrifft, so ist es nicht schwierig, die Unterschiede auszumachen. Die heutige Multitude hat als Voraussetzung ein "Eines", das nicht weniger universell, sondern im Gegenteil viel universeller als der Staat ist: den öffentlichen Verstand, die Sprache, die "Gemeinplätze" (man denke ans Web …). Zudem trägt die zeitgenössische Multitude die Geschichte des Kapitalismus in sich, sie ist aufs Engste mit den tragischen Erfahrungen der ArbeiterInnenklasse verbunden.

Dennoch muss man mit Analogien vorsichtig umgehen, um keine voreiligen Schlüsse aus dem Vergleich zwischen dem Alten und dem Allerneuesten zu ziehen. Es geht in diesem Sinn darum, das Profil der historisch ursprünglichen Charakterzüge der zeitgenössischen Multitude nachzuzeichnen und sich gleichzeitig davor zu hüten, sie als eine schlichte Neuauflage von etwas, was schon einmal da war, zu betrachten. Dazu ein Beispiel: Typisch für die postfordistische Multitude ist das Vorantreiben des Zusammenbruchs der politischen Repräsentation; nicht als anarchische Geste, sondern als überlegte und realistische Suche nach neuen politischen Formen. Sicher, schon Hobbes warnte vor der Tendenz der Multitude, sich irreguläre politische Organismen zu schaffen: "Unregelmäßige Vereinigungen sind ihrer Natur nach nur Bündnisse oder bisweilen bloße Volksansammlungen, ohne zu einem besonderen Zweck vereint zu sein, und kommen nicht durch gegenseitige Verpflichtung, sondern allein durch die Ähnlichkeit von Willen und Neigung zustande."[7] Es ist aber offensichtlich, dass die nicht-repräsentative Demokratie, die auf dem General Intellect gründet, eine völlig andere Tragweite hat: Nicht das Vorübergehende, das Marginale, oder die Überbleibsel vergangener Lebensformen überwiegen in ihr, sondern vielmehr die konkrete Aneignung und Neuformulierung des Wissens und Könnens, das heute in den administrativen Staatsapparaten begraben ist.

Wenn man von der "Multitude" spricht, nimmt man es mit einem komplexen Problem auf: Man hat es mit einem Begriff ohne Geschichte, ohne Vokabular zu tun, während der Begriff "Volk" einen vollständig kodifizierten Term darstellt, mit dem wir über zusammenhängende Ausdrücke und alle Arten von Abschattungen verfügen. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, dass sich in der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts der Begriff "Volk" gegenüber der "Multitude" durchsetzte. Das "Volk" konnte also auf ein angemessenes Vokabular zurückgreifen. In Bezug auf die "Multitude" müssen wir hingegen gegen den absoluten Mangel an Kodifizierung ankämpfen, dagegen, dass wir über kein exaktes begriffliches Vokabular verfügen. Wir sind dennoch geneigt, diesen Mangel als eine Herausforderung für PhilosophInnen und SoziologInnen zu betrachten, vor allem im Hinblick auf die Feldforschung. Es geht demnach darum, einerseits am konkreten Material zu arbeiten und es detailliert zu analysieren, andererseits aber auch theoretische Kategorien daraus abzuleiten. Eine doppelte Bewegung: von den Dingen zu den Wörtern, von den Wörtern zu den Dingen, das verlangt uns die postfordistische Multitude ab. Und dabei handelt es sich, noch einmal, um eine spannende Aufgabe.

Es ist wohl wahr, dass "Volk" und "Multitude" zwei Kategorien sind, die mehr zum politischen Denken als zur Soziologie gehören (Sie verweisen in der Tat auf alternative politische Existenzformen). Meiner Meinung nach ist der Begriff "Multitude" jedoch außerordentlich fruchtbar, wenn es darum geht, die Seinsweisen der abhängigen postfordistischen Arbeit zu verstehen und einzuordnen, bestimmte Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick rätselhaft erscheinen mögen. Ich werde an anderem Ort genauer ausführen, wie ausgerechnet eine Kategorie des politischen Denkens, die seinerzeit in der theoretischen Debatte unterging, heute als wertvolles Instrument der Analyse der lebendigen Arbeit im Postfordismus wieder auftaucht. Wir können davon ausgehen, dass die Multitude ein vielseitig verwendbarer Begriff ist: Einerseits erzählt sie von der sozialen Produktion, die auf dem Wissen und der Sprache gründet, andererseits von der Krise der Staatsform. Und vielleicht besteht zwischen diesen beiden Dingen ein handfester Zusammenhang. Carl Schmitt, der sicherlich das Wesen der Staatsform erkannt und als einer der größten politischen Theoretiker des letzten Jahrhunderts zu gelten hat, schrieb in den 60er Jahren eine bittere Bemerkung, deren Sinn auf die Aussage: "Die Multitude kehrt zurück, das Volk geht unter" hinausläuft: "Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. (...) Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung (...), wird entthront."[8] Dieses Entscheidungsmonopol wird dem Staat jedoch nur unter der Voraussetzung entzogen, dass er ein für alle Male darauf verzichtet, Monopol zu sein, wenn also die Multitude ihren zentrifugalen Charakter geltend machen kann.

Abschließend möchte ich, soweit es möglich ist, einem Missverständnis zuvorkommen, das weit verbreitet ist, nämlich der Ansicht, das Auftauchen der Multitude falle mit dem Ende der ArbeiterInnenklasse zusammen. Im Universum der "Vielen" gebe es keinen Platz mehr für die "blue collars", die einen einheitlichen "Körper" formen und für das Kaleidoskop an "Differenzen" wenig Verständnis aufbringen würden. Eine solche Dummheit wird natürlich nur von Leuten vertreten, die auf grobe Vereinfachungen und Effekthascherei angewiesen sind. Die ArbeiterInnenklasse wird weder bei Marx noch bei irgendeinem anderen ernsthaften Denker (oder Denkerin) mit einer bestimmten Bekleidung oder gewissen Gebräuchen und Gewohnheiten usw. identifiziert. "ArbeiterInnenklasse" ist ein theoretischer Begriff, kein Erinnerungsfoto. Er verweist auf das Subjekt, das den absoluten und den relativen Mehrwert produziert. Die zeitgenössische ArbeiterInnenklasse, die abhängige lebendige Arbeit und ihre sprachlich-kognitive Kooperation weisen nun die Züge der Multitude und nicht mehr die des "Volks" auf. Folglich fühlt sich diese Klasse auch nicht mehr berufen, "staatstragend" zu handeln. Der Begriff "Multitude" schwächt den Begriff der ArbeiterInnenklasse nicht in seiner Homogenität, weil Letzterer nicht per definitionem an den des "Volks" gebunden war. Insofern die ArbeiterInnenklasse nicht mehr in der Seinsweise des "Volkes" auftritt, sondern in jener der Multitude, ändert sich vieles: Mentalitäten, Organisationsformen, die Art und Weise, in der Konflikte ausgetragen werden. Alles verkompliziert sich. Wie einfach es doch wäre, uns vorzusagen, dass dort, wo früher die ArbeiterInnenklasse war, nun die Multitude ist … (Wer aber Einfachheit um jeden Preis nötig hat, greift vielleicht besser zu einer Flasche Rotwein).

Es gibt übrigens auch bei Marx Stellen, in denen die ArbeiterInnenklasse die Erscheinungsform des "Volks" ablegt und jene der "Multitude" annimmt. Dazu nur ein Beispiel: Man denke an jene Seiten des letzten Kapitels im ersten Band des Kapitals, auf denen Marx die Lage der ArbeiterInnenklasse in den Vereinigten Staaten analysiert.[9] Dort finden sich großartige Passagen über den amerikanischen Westen, über den Exodus und die individuelle Initiative seitens der "Vielen". Die durch Epidemien, Hunger, wirtschaftliche Krisen aus ihren Ländern vertriebenen europäischen ArbeiterInnen finden Arbeit an der Ostküste der USA. Sie bleiben dort wohlgemerkt nur einige Jahre. Dann ziehen sie, die Fabriken hinter sich lassend, weiter nach Westen, in Richtung der unbesiedelten Gebiete. Die Lohnarbeit stellt sich nicht als lebenslange Bürde, sondern als Zeit des Übergangs dar. Wenn auch nur für zwanzig Jahre, hatten die LohnarbeiterInnen damals die Möglichkeit, Unordnung in die eisernen Gesetzmäßigkeiten des Marktes zu bringen. Indem sie sich aus der eigenen Ausgangslage befreiten, sorgten sie für einen relativen Mangel an Arbeitskraft und infolgedessen für höhere Löhne. Marx zeichnet mit der Beschreibung dieser Situation das äußerst lebendige Bild einer ArbeiterInnenklasse, die zugleich Multitude ist.


Der Text ist ein Ausschnitt aus Grammatica della Moltitudine, das in deutscher Übersetzung Ende 2005 im Verlag Turia + Kant erscheinen ist.


[1] So wie man die topoi koinoi mit "Gemeinplätze" übersetzt, könnte man die topoi idioi "besondere Plätze" nennen. Der Autor verwendet daher die Begriffe luoghi comuni und luoghi speciali. (Anm. d. Übers.)

[2] K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz 1974, S. 590-608.

[3] Protreptikon, B 43.

[4] W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990.

[5] S. Freud: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer 1963.

[6] … im Sinne eines gemeinsamen Verfügens, Anm. d. Übers.

[7] T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, 8. Aufl., S. 181.

[8] C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien (7. Aufl., 5. Nachdruck der Ausgabe von 1963), Berlin: Duncker & Humblot 2002, S. 10.

[9] K. Marx: Das Kapital. Erster Band. MEW Band 23. Berlin: Dietz 1986 (16. Auflage), Kapitel XXV, "Die moderne Kolonisationstheorie", S. 792 - 802.