04 2007
Nach 1968
Anmerkungen über Singularität und minoritäre Politik
1977 hat Foucault geschrieben: „Denke nicht, dass man traurig sein muss, um militant sein zu können, auch wenn das, wogegen man kämpft, abscheulich ist“[1]. Mit dieser Zurückweisung der Bürokraten der Revolution und der traurigen Leidenschaften der Militanten versuchte Foucault, die positive politische Symptomatik von 1968 zu beschwören. Der Aufbruch der Jahre 1967/68 stellte für ihn mehr dar, als eine zweite freudo-marxistische Konjunktur, er stand für einen Einschnitt im Politischen selbst, in dem eine veränderte Analyse der Macht mit einem veränderten Modell des Aufstands zusammentrat. Theoretisch bestand dieser Einschnitt in der Abkehr von einem Denken der Macht, das um ein Gesetz voranschreitender Verwertung organisiert ist, das den Subjekten selber nicht zu Bewusstsein kommt und durch einen repressiven Staatsapparat garantiert wird. Praktisch bestand er in der Abkehr von der am Primat einer direktiven Partei, der Organisierung einer Klasse und der Zerschlagung des Staatsapparates ausgerichteten Politik, die von einem Aufbau proletarischer Staatsmacht begleitet werden sollte, kurz: Er bestand in einer Abkehr von den strategischen Vorgaben der marxistischen Staatstheorie und vom Primat von Repression und Ideologie im Denken der Macht. Mit 1968 war eine neue Potenzialität des Politischen aufgetaucht, das vom leninistischen Revolutionsmodell Abschied nahm. Diese Potenzialität lag in einem minoritären und molekularen Modell des Bruchs und spitzte sich auf die Frage zu, wie verschiedene Formen des Begehrens, die eine Situation durchqueren, ihre Kräfte entfalten und im Prozess des Umsturzes der gesellschaftlichen Ordnung intensiver werden können. Eine der zentralen Kontroversen um dieses politische Programm bestand deshalb natürlich in der Problematisierung dessen, was Begehren ist, was man darunter versteht und in welchen Verhältnissen es sich befindet. Deleuze, der am intensivsten an der Frage von Minorität und Begehren gearbeitet hat, spricht von a-subjektiven Kräften, die sich jeweils historisch-spezifisch verbinden und die Situation übersteigen, die sie durchqueren. Theoretisch steht er damit vor der Schwierigkeit, eine vorausgesetzte konstituierende Kraft konzeptioniert zu haben, was er gleichzeitig zu korrigieren versucht: Begehren existiere niemals spontan oder natürlich; es sei historisch bestimmt und der Effekt seiner eigenen Verbindungen, womit er sich einem Zirkelschluss zu nähern beginnt.[2]
In den Entwicklungen nach 1968 wurde deutlich, dass in diesem Modell minoritärer Politik das deterritorialisierende, also freisetzende, voranschreitende Element des Kapitalismus überschätzt wurde, das noch im Sinne eines in den Kapitalismus eingelassenen Zusammenbruchs gedacht worden war, und der Vorstellung entsprach, dass dieser eines Tages das von ihm ad infinitum mobilisierte Begehren nicht mehr kommodifizieren und in die Ordnung werde einfügen können. Weiterhin war deutlich geworden, dass es zu einer gefährlichen Vermischung des minoritären Modells mit dem Kadermodell gekommen war, in dessen Disziplin sehr unterschiedliche historische Entwicklungen Eingang genommen haben, zu denen das Drängen des Messianismus und seine Vorstellung eines großen Gegenübers von Herrschenden und Beherrschten genauso zählen wie der Blanquismus des 18. Jahrhunderts[3], der anarchosyndikalistische Wille zur direkten Aktion und das angesichts des Scheiterns der französischen 1848er Revolution und der Pariser Kommune entwickelte Konzept der Diktatur des Proletariats.[4] Diese Vermischung minoritärer Politik mit Disziplin führte zu einer Mobilisierung des gesamten Lebens – tägliche Plena, ununterbrochener Aktivismus, Politisierung jedes Ausdrucks –, wodurch ein enormer Leistungsdruck aufgebaut wurde, der die Abkehr vieler Militanter vom Politischen beschleunigte. Genauso wie die postfordistische Subjektivierungsweise, sein Leben arbeitend in einen Konzern des Sinns und des Stils zu verwandeln, in Erschöpfung und Ermüdung mündet, kann die Forderung, alles als politisch zu verstehen, unabsehbare Überforderungen produzieren, insbesondere wenn sie disziplinierende und moralische Züge annimmt. Gleichzeitig und davon angetrieben, wuchs am der Disziplin gegenüberliegenden Pol die Verbindung minoritärer Politik mit leicht kommerzialisierbaren sub- und popkulturellen Lebensformen. Um diese Übergänge und Schwellen zwischen Widerstands- und Machtformen zu erkennen, muss man problematisieren, wie die unterschiedlichen Strömungen der Linken das Leben politisiert haben, nicht nur seit den 1960ern, sondern bereits durch den Einfluss der Lebensreform-Bewegungen der Jahrhundertwende, durch die Avantgarden mit ihrem Programm, die Trennung zwischen Kunst und Leben niederzureißen, oder, früher noch, durch den vitalistischen und anthropologischen Gehalt in Marx' Denken, wie er im Begriff lebendiger Arbeit als Form gebendem Feuer und konstituierender Macht des menschlichen Gattungswesens auftaucht. In Rancières Arbeiten der letzten zehn Jahre[5] finden sich wichtige Hinweise darauf, dass diese mit beiden Verbindungen des Minoritären einhergehende Ineinssetzung von Politik und Leben im Denken der ästhetischen Erziehung bei Schiller ihren Anfang nahm. Dieser sah nach dem Scheitern der Französischen Revolution die Aufgabe, Menschen zu formen, die fähig sind, in einer freien Gemeinschaft zu leben. Umgehend aufgenommen wurde dieser Gedanke im Programm der deutschen Romantik von Schlegel, Hölderin und Hegel. Rancière analysiert, wie jene ästhetische Vorstellung der sinnlichen Erfüllung einer noch latenten Menschlichkeit eine neue Vorstellung politischer Revolution hervorrief. Anfang des 20. Jahrhunderts wird dies die „kurze, aber entscheidende Begegnung zwischen den Architekten der marxistischen Revolution und den Architekten der neuen Lebensformen“[6] erlauben, die von einer lebendigen und ungespaltenen Erfahrungsweise des Menschen ausgingen, in der das Sein der kommenden Gemeinschaft bereits enthalten ist.
Nach 1968 lösten sich die Praktiken minoritärer Politik Schritt für Schritt von einem Programm radikaler gesellschaftlicher Veränderung und einem im weitesten Sinne kommunistischen Projekt. Heute sind von ihr nur zwei Verfalls- oder Transformationsformen wirksam – alle anderen Verbindungen sind gekappt oder bleiben virtuell –: die Produktion kommerzieller Lebensformen und die Produktion essenzialistischer Gemeinschaften. Dieses erfolgreiche Scheitern eines kämpferischen Zyklus hat im Wechselspiel von erweiterter Verwertung und verfeinerten liberalen Regierungsstrategien stattgefunden. Beide antizipieren freiheitliche und von gesellschaftlichen Normen abweichende Praktiken und beziehen sie positiv mit ein. Étienne Balibar beschreibt in seinem Aufsatz „Drei Begriffe von Politik“[7], dass in dem Gefüge, das kapitalistische Verwertung und biopolitische Strategien miteinander bilden, zwei Extremformen des Identitären hervorgebracht worden sind, die beide nicht lebbar und deshalb extrem gewaltförmig sind. Die eine besteht darin, Subjektivität vollkommen zu fixieren und zu vereindeutigen, die andere, sie vollkommen zu verflüssigen und zu flexibilisieren. Beide Strategien finden heute gleichzeitig statt und bilden ein sich gegenseitig verstärkendes reaktionäres Spannungsfeld.[8]
Warum dieses Scheitern des Minoritären? Warum diese Integration und Transformation minoritärer Militanz nach 1968? Zwei Hinweise kommen aus der poststrukturalistischen Theoriebildung. Bei allen Unterschieden wird in ihr erstens davon ausgegangen, dass das, was kapitalistische Vergesellschaftung genannt wird, nicht auf die Dynamik eines den Verhältnissen inhärenten Widerspruchs zurückzuführen ist. Stattdessen wird Gesellschaftlichkeit als strategische Situation verstanden, in der Praktiken der Verwertung, der Disziplinierung und Mobilisierung der Körper und der Regierung von Bevölkerung und Gütern sich verbinden und auf ein Ausweichen jener Kräfte stoßen, die sie zu unterwerfen, mobilisieren oder verwalten suchen, ein Sich-Entziehen bis hin zu Bewegungen organisierten Widerstandes. Diese Situation steht unendlicher Variation, Erneuerung und Rekombination offen. Zweitens verabschiedete sich der Poststrukturalismus mit der Analyse von Körper- und Regierungspolitiken, die das Leben in einem Bereich von Wert und Nutzen mobilisieren, vom anthropologischen und politischen Erbe Marx', dem Menschen und der Klasse den Inhalt des Eigentlichen zuzuschreiben, der wirklichen Bestimmung des Seins, nämlich der kooperativen und frei assoziierten Praxis. Für Marx existierten die kollektiven Kräfte der Menschheit bereits vergegenständlicht in der falschen Form kapitalistischer Produktion.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in der postmarxistischen Diskussion über das Scheitern von 1968 eine Argumentation etabliert, die minoritäre Politik auf ihr Scheitern reduziert und zum ideologischen Supplement des Kapitalismus erklärt. Indem sie als ideologische Anrufung zu permanenter Selbstrevolutionierung interpretiert wird, erscheint sie als Vervollständigung der Kapitalbewegungen. Lieblingsfigur dieser Gleichsetzung molekularer Politik mit ihren Verfallsformen, wahlweise mit Political Correctness, ethnischem Partikularismus oder der Kommerzialisierung von Lebensstilen, ist das multidifferente Subjekt, das im Rahmen des Bestehenden anerkannt werden will, das seine Partikularität festhält, pflegt und essenzialisiert, und dabei den Akt des Politischen auslöscht, also zum Beispiel die lesbische afroamerikanische Mutter im Rollstuhl, die von der Stütze lebt. Slavoj Žižek bereicherte auf der Kommunismus-Konferenz an der Frankfurter Universität diese Diskussion um den zukünftig denkbaren Fall einer Gemeinde, die erwägt, den nekrophilen Mitgliedern ihrer Kommune die Leichen zum Essen anzubieten, statt sie zu bestatten.[9] Was sind die Voraussetzungen dieser Argumentation? Mit welcher Vorstellung von Singularität arbeitet sie?
Auf der einen Seite weisen Žižek und Badiou zu Recht darauf hin, dass das Kapital als Bewegung der Deterritorialisierung und des sich selbst verwertenden Werts mit dazu beiträgt, dass sich die Subjektivierungsweisen weiter kommodifizieren und in Konsumtions- und kommerzielle Lebensformen überführt werden. Deshalb sind für sie die abstrakte Homogenität des Kapitals und die konkrete Partikularität von kulturalisierten oder ethnisierten Identitäten zwei Seiten einer Medaille; letztere supplementiert erstere, das Partikular-Identitäre das Kapital. Auf der anderen Seite, auch wenn ihr politisches Motto produktiv ist – in Badious Worten „weder monetäre Homogenität noch identitärer Anspruch, weder abstrakte Universalität des Kapitals noch Interessenspartikularität einer Teilmenge“[10] –, wird ein theoretischer Reduktionismus im Denken der Differenz und eine Vernachlässigung gouvernmentaler Strategien in der Gesellschaftsanalyse sichtbar. Universalität und Singularität werden nur im Wechselverhältnis zum Kapital diskutiert, das für sein Fortschreiten die Nicht-Äquivalenz des Identitären benötige. Die Produktion körperlicher Normen samt ihrer Abweichungen, die Verwaltung und Politisierung des Lebens, die Foucault in „Überwachen und Strafen“ und im ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ beschrieben hat, entgehen der Analyse. Und genau diese Frage des Körpers und der Norm war auch einer der Ausgangspunkte minoritärer Politik, die nicht fröhliche Anerkennung und identitäre Bestätigung einforderte, sondern das Aufbrechen der in den Körpern verankerten Normen in und mit den Körpern selber.
Die Polemik gegen das Minoritäre, die Žižek und Badiou an immer neuen Beispielen „schwarzer Homosexueller, behinderter Serben, pädophiler Katholiken, gemäßigter Islamisten, verheirateter Priester“ und weiterer Möglichkeiten „für merkantile Investitionen, wenn Frauen, Homosexuelle, Behinderte, Araber als fordernde Gemeinschaft und kulturelle Singularitäten auftreten“[11], vorgebracht haben, zeigt, wie auch sie die freisetzende Dynamik des Kapitals überbetonen, während sie die neokonservative Verfestigung familiärer und religiöser Werte unterthematisieren. Man kann annehmen, dass bei Žižek und Badiou diese Überbetonung fallbezogen ist, also mit der Diskussion von Minorität zu tun hat, und zwei Gründe hat: zum einen ein linker Konservatismus und der damit verbundene Ekel vor Kommodifizierung und Differenz, zum anderen die bereits genannte und der marxistischen Theorie geschuldete Beschränkung ihrer Analyse von Universalität und Singularität auf das Verhältnis zur Tauschabstraktion. Auch da, wo sie beide Entwicklungen, De- und Reterritorialisierung und deren gegenseitige Stabilisierung zeigen, auf der einen Seite also mehr zur Ware gewordene Differenz, auf der anderen mehr neokonservative Differenzphobie – Badiou analysiert das im ersten Kapitel des Paulus-Buches[12] –, bleibt die ursprüngliche Konzeption minoritärer Differenz ungenannt: „[Man] verlangt […] entweder das genetische Recht auf Anerkennung dieses oder jenes besonderen sexuellen Verhaltens als Konstitutiv einer minoritären Identität oder symmetrisch dazu ganz simpel die Rückkehr zu kulturell etablierten archaischen Vorstellungen wie der strikten Konjugalität, der Einschließung der Frauen etc. Beides kann sich perfekt miteinander verbinden, wie man an den Forderungen der Homosexuellen sieht, die das Recht beanspruchen, in die großen Traditionen der Ehe und der Familie zurückzukehren oder mit päpstlichem Segen die abgelegte Soutane des Priesters anzulegen.“[13] Übersprungen wird, was in den 1970er Jahren in Italien und Frankreich einen militanten Ausdruck fand und eine radikale Alternative zu Badious eigener maoistischer Haltung, die Verbindung differenter Positionen im Sinne einer anti-kapitalistischen und anti-normativen Politik, die Differenz immer als Differenz der Differenz und als Werden denkt, niemals als Norm oder Identität. Badiou dagegen arbeitet im „Paulus“ mit der Gegenüberstellung einer falschen und einer richtigen Alternative, entweder Kommunitarismus der Gruppe oder universale Singularität.
Schauen wir uns kurz einige Argumente in Badious Buch über Paulus an, das er 1997 verfasste, 20 Jahre nachdem Foucault in der Einleitung zur amerikanischen Ausgabe des „Anti-Ödipus“ seine Programmatik minoritärer Politik veröffentlichte. Für Badiou kann sich politische Emanzipation nur universal artikulieren. Das Eine, das Universale, wird für alle und ohne Ausnahme bereitgehalten; es schreibt in die Subjekte keinerlei Unterschiede ein.[14] Das ist das Unerhörte des Universalen, das Paulus in seinem Brief an die Galater ausspricht: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib (Gal 3, 28)!“[15] Weiterhin ist Paulus für Badiou die Figur eines Militanten, an dem die Verbindung zwischen der Idee des Umsturzes und seiner subjektiven Materialisierung zutage tritt. Das heißt, er ist ein Vorgänger Lenins. Wie dieser in den April-Thesen gegen das evolutive Zeitverständnis der II. Internationale auf der sofortigen Möglichkeit einer Revolution in Russland bestanden hat, bezeugt Paulus die plötzliche Zufälligkeit eines Ereignisses, das unbegründet auftaucht und erst in dem Moment realitätsmächtig und wahr wird, wenn ihm von einem Subjekt unbedingte Treue gehalten wird, hier: die Auferstehung Jesu. Und genau in diesem Moment überschreitet sich das Subjekt genauso, wie das Ereignis die Verhältnisse übersteigt, aus denen es hervorgegangen ist. Das heißt, für Badiou wird das Ereignis des Politischen, die Möglichkeit des Umsturzes, durch nichts Partikulares gestützt, es ist unerbittlich von jeglicher gesellschaftlicher Geschichtlichkeit und Differenz abgezogen. Mit dieser Verbindung von absoluter Universalisierung und gleichzeitiger Subjektivierung des Ereignisses unterscheidet sich Badious Position von einer ganzen Reihe anderer postmarxistischer Positionen des Ereignisses, die sich mit der Universalisierung des Partikularen und mit Beliebigkeit beschäftigen. Zu nennen wären sowohl Laclaus Überlegungen, der davon ausgeht, dass eine antagonistische Partikularität jeweils vorläufig an die Stelle einer abwesenden und leeren Universalität politischer Gemeinschaft tritt, die Laclau für notwendig unbegründbar hält. Dabei verkörpert das Partikulare vorübergehend in einer über das eigene Interesse hinausgehenden Forderung die Universalität grundlegender Veränderung.[16] Weiterhin unterscheidet sich Badious Konzeption von Deleuzes Vorstellung präindividueller Singularität, auf die ich zurückkommen werde, und von Agambens Vorstellung beliebiger Singularität. In der Essaysammlung „Die kommende Gemeinschaft“ beschreibt Agamben beliebige Singularität als Einzigartigkeit, die weder an der Qualität einer Eigenschaft hängt noch an einer qualitätslosen Allgemeinheit, sondern an der Sache mit all ihren Prädikaten, ihrem So-Sein als solchem, genauso beliebig wie liebenswert.[17]
Das Besondere der Badiouschen Position ist, dass wir auf der einen Seite auf eine subtraktive Ontologie stoßen, die von Seiendem ohne Verweis auf dessen Identität und Eigenschaften spricht und in der es keinen Grund und keine Substanz gibt. Die unendliche Mannigfaltigkeit des Seins gehört sich nicht selbst an, sondern überschreitet sich; und es ist die Zufälligkeit eines Ereignisses, die das Auftauchen einer solchen sich selbst übersteigenden Mannigfaltigkeit ermöglicht. Auf der anderen Seite materialisiert sich das Ereignis in einem Subjekt, das dieses bezeugt. So stabilisiert Badiou sein subtraktives Denken mit der Rückkehr zu einem Subjekt, das allein und heroisch sich bekennt, treu bleibt, liebt. Damit läuft sein politisches Denken auf die Produktion militanter Subjektivität hinaus, die ungefähr folgender ethischer Maxime folgt: „Entscheide Dich für das Unentscheidbare, indem Du einem kontingenten Ereignis treu bleibst.“ Diese Idee des Politischen scheint mir von zwei Elementen bedroht, von der Religiosität und heroischen Einsamkeit einer absolut transgressiven Kämpfer-Subjektivierung und der sofortigen Universalisierung der Differenz, die als Bestehende nichts als falsche Besonderung, Aus- und Abgrenzung ist.
Deleuze und Guattari hingegen haben mit der Bedeutung politischer Subjektivität gebrochen und stärken ein Denken der Differenzen, die als Kräfte gedacht, keinem Subjekt oder Objekt zuschreibbar sind und identitäre Befestigungen aufbrechen. Diese Kräfte sind präindividuell, sie konstituieren Dinge und Subjekte, sie bilden ein Gefüge singulärer Punkte, aus dem potenziell das Ereignis hervorgeht. Deshalb ist die Frage des Politischen für sie die Frage, wie sich Differenzen verketten und in welcher Dimensionalität (molar, molekular). Die Intensitäten, die im reinen Funktionieren dieses Gefüges bestehen, sind jeweils individueller und spezifischer als ein Subjekt. Deleuze und Guattari haben versucht, dies als unpersönliche Affektivität eines vorindividuellen Sinnlichen zu beschreiben, eine Konzeption, die sie im Rückgriff auf Duns Scotus’ mittelalterliche Idee der Diesheit, der Haecceitas, entwickelt haben.[18] Eine Diesheit ist ein Modus der Individuation, der individueller ist als ein Subjekt oder ein Ding. Minoritär werden, heißt Öffnung auf diese nicht-subjektive Diesheit, womit die Macht des Nicht-Zählbaren gegen das Zählbare aufgebracht wird. Im Gegensatz zu Badiou gehen Deleuze und Guattari davon aus, dass dieses Nicht-Zählbar-Werden, dieses Minoritär-Werden, das der Repräsentation und Reintegration entgegensteht, in konkreten Kämpfen und mit konkreten partikularen Forderungen stattfindet.[19] Universelle Gestalt finden diese Differenzen nicht in einem Einen, sondern in einer gegenseitigen Verbindung entlang einer anti-normativen und anti-kapitalitischen Politik, wodurch die Differenzen nicht verschwinden, sondern beliebig werden.[20]
In der Tradition Spinozas konzeptualisieren Deleuze und Guattari die präindividuellen Kräfte des Begehrens als Langsamkeit und Schnelligkeit von Affekten. Jede Individuation ist ein Verhältnis von affektiven Geschwindigkeiten. In „Spinoza und wir“ schreibt Deleuze: „Ihr werdet ein Tier oder einen Menschen nicht durch seine Form, seine Organe und Funktionen, auch nicht als Subjekt definieren: ihr werdet sie durch die Affekte, deren sie fähig sind, definieren. Affekt-Fähigkeit mit maximaler und minimaler Schwelle ist ein geläufiger Begriff bei Spinoza.“[21] In diesem strikt oberflächlichen und äußerlichen Denken des Seins als Topologie ist das Sein eine Art ökologisches Milieu für die Entwicklung von Differenzen, die im Sinne Spinozas als Wirk-Kräfte, als Vermögen verstanden werden. Das Problem und die Spannung von Deleuzes politischem Denken zeigen sich in der Frage, wie Kräfteverbindungen eine derartige Dimensionalität gewinnen, dass sie mit kapitalistischer Verwertung und den verwaltungstechnischen Prozeduren der Gesellschaften langfristig brechen, in sie wirklich verändernd eingreifen und ihrer eigenen Transformation in systemstabilisierende Elemente entgegen arbeiten können. Wenn wir uns Deleuzes politischen Texten der späten 1970er und der 1980er Jahre zuwenden, bleibt diese Frage lyrisch unterbestimmt und politisch diffus. In dem Aufsatz „Politiken“, den er mit Claire Parnet geschrieben hat, um einen weiteren Text über minoritäre Politik aus dem Jahre 1977 zu zitieren, wird diese Frage in Formulierungen wie den folgenden beschworen: „[…] die ‚Entstabilisierung’ […] [erfolgt] von Nord nach Süd: ein Bach, ja ‚ein Rinnsal’ gräbt sich ein, das den Organisationsplan durcheinanderbringt und alles wieder von vorn beginnen lässt. Hier ein Korse, da ein Palästinenser, ein Flugzeugentführer, ein sich wehrender Stamm, eine Feministenbewegung, ein ‚Grüner’, ein russischer Dissident – es wird immer eine/n geben, die/der im Süden auftaucht. […] Weder weiß man im Voraus, was als künftige Neigungslinie fungieren, noch kennt man die Form dessen, was dieser einmal den Weg versperren wird.“[22]
Nach der Erfahrung des Scheiterns minoritärer Politik, mit dem ein großer Teil des Dissidenzfeldes 1968 stabilisierend in das Gesellschaftliche Eingang gefunden hat oder in reaktionäre Formen zerfallen ist, geht es nicht darum, die Strategie des Minoritären aufzugeben, sondern ihre Gefahren, von denen ich einige in diesem Text genannt habe, zu diskutieren und die Frage der Organisierung neu zu stellen, die mit der – wenn auch wichtigen – Abkehr von der Parteiform in den linksradikalen Bewegungen vernachlässigt worden ist. Nach dem Bruch mit der Partei dürften Organisationen nicht als Organe von Führung und Vermittlung verstanden werden, nicht in der Gegenüberstellung von Spontaneität und Direktive, Masse und Leitung, sondern, gerade umgekehrt, müssten in der Organisation auch die Kräfte des Kooperativen erkannt werden, die Auseinandersetzung und Konflikt genauso mit sich bringen wie die Entlastung von beständiger Selbstmobilisierung und die Distanz des Politischen zu sich selbst. Auf einer theoretischen Ebene lautet meine Frage, wie das Ereignis des Politischen, in dem sich eine minoritäre Verkettung emanzipatorisch verstärken könnte, gedacht werden kann, und zwar, erstens, ohne dem Ereignis dies als Funktion zuzuschreiben, womit es auf die Vermittlung von Widerstand reduziert wäre; zweitens, ohne dem Politischen selbst eine anthropologische Begründung zu geben, wie die Kraft lebendiger Arbeit oder sinnlicher Menschlichkeit; und drittens, ohne es in der Entscheidungskraft eines kollektiven oder einsamen Subjekts zu verankern, in der Kraft eines kommenden Paulus-Lenin, der, wie Žižek uns belehrt, dafür sorgen würde, dass das Politische sich nicht in der Verantwortungslosigkeit unmöglicher Forderungen auflöse. Denn Lenin ist der Herr, der nicht mehr zögert zu handeln, der für immer das kindliche Privileg des Zurückweichens und des Das habe ich nicht gewollt aufgegeben hat.[23] Auch wenn wir geschichtliche Begleitung brauchen, werden wir nicht die Geister von Necajevs Terrorist, Lenins Kader oder Trotzkis Soldaten rufen.
[1] Michel Foucault:, „Der ‚Anti-Ödipus’ - eine Einführung in eine neue Lebenskunst“, in: Karl Heinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam Leipzig 1990, S. 432.
[2] vgl. die skizzenhaften Erläuterungen zum Primat des Begehrens in Gilles Deleuze, Lust und Begehren, Berlin: Merve 1996, S. 17-30.
[3] Eine komplexe Auseinandersetzung mit Blanqui findet sich bei Frank Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution. Blanqui und das Problem der sozialen Revolution, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1970.
[4] Zu einer dichten und kritischen Auseinandersetzung mit den gewalttätigen Praktiken der marxistischen Linken, ihrer personalen Analyse der Macht als bürgerlicher Herrschaft und der Konzeption der Diktatur des Proletariats vgl. Etienne Balibars Eintrag „Gewalt“ im von Wolfgang-Fritz Haug herausgegebenen Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Berlin, Hamburg: Argument 2001.
[5] vgl. Rancières Ausführungen zu Schillers ästhetischem Denken und dem doppelten Erbe der Avantgarden – politisch-strategische Führung auf der einen, sinnliche Zusammenführung von Politik und Leben auf der anderen Seite – in: Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006, S. 35-49; Ders., „Von der Aktualität des Kommunismus zu seiner Inaktualität“, in: DemoPunk u.a. (Hg.), Indeterminate Kommunismus, Münster: Unrast 2005, S. 28f.
[6] Jacques Rancière 2006, S. 45.
[7] Étienne Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg: Hamburger Edition 2006, S. 13-49.
[8] vgl. ibid., S. 41.
[9] 2003 fand an der Universität Frankfurt unter dem Titel „Indeterminate! Communism“ eine Konferenz zur Aktualität des Kommunismus statt, organisiert von DemoPunk (Frankfurt) and Kritik & Praxis (Berlin).
[10] Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München: sequenzia 2002, S. 27.
[11] Ibid., S. 22.
[12] vgl. ibid, S. 25-27.
[13] Ibid., S. 26.
[14] vgl. ibid, S. 142f.
[15] ibid, S. 20.
[16] vgl. z.B. Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien: Turia + Kant 2002, S. 45-65.
[17] Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003, S. 10.
[18] vgl. zum Begriff der Haecceitas zum Beispiel Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 354-361; zum Begriff der Minorität vgl. den entsprechenden Abschnitt über Minderheit im gleichen Buch, S. 650-655.
[19] Ibid., S. 652.
[20] Ibid., S. 652.
[21] Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin: Merve 1988, S. 161.
[22] Gilles Deleuze / Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 142-144.
[23] Slavoj Žižek , Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 329-333.