03 2004
Leistung ruinieren. Über die Ökonomie von Stress und Sentimentalität hinaus
Der
Kreativitätsstress hat zugenommen. Der Angstschweiß
der Neuen Mitte. Ein psycho-diskursives Symptom der
kapitalistischen United-Colors-G8-Überlebensgesellschaften.
Er tritt am deutlichsten in bestimmten Segmenten der
Großstadtjugend bis 45 auf. Er signalisiert eine Entwicklung
in der Vergesellschaftungsweise, eine sich zuspitzende
Gleichzeitigkeit: die Mobilisierung der Lebensformen
und den Angriff auf sie, dieses tickende Mach-was-aus-dir,
bleib nicht in der Normalität hängen, ja, noch das Trash-Versprechen
Superstar – und im selben Augenblick die Vervielfältigung
der Ausschließungs- und Verwertungsmechanismen: Superarmut,
Superabschiebung, Superkontrolle. Während Teile der
Bevölkerung, Busfahrerinnen, Kellner und Tankstellen-Angestellte,
aufgefordert werden, sich auf der Internetseite der
Polizei einzutragen, um laufend Fahndungsmeldungen der
Bullen per SMS zu bekommen, steigt in Teilen der urbanen
Jugend die Nervosität, ein deviantes Leben hinzubekommen
und trotzdem erfolgreich zu sein. So nehmen am Ende
die Werbefilme zu, in denen man Menschen in Trainingsanzügen
auf verwackelten Bildstrecken in ihren hippen ungeordneten
Alltag folgen kann. Im gleichen Rhythmus vermehren sich
die Symposien, Ausstellungen und Filmfestivals, die
Fragen des Politischen verhandeln, Kritik ausstellen,
das Leben der neuen infamen Menschen repräsentieren,
ohne über die paar Quadratmeter der Institutionen und
ihrer Repräsentationslogiken hinauszureichen. Meist
lassen sie selbst den fiesen Alltag flacher Hierarchien
und verblödeter Arbeitsteilungen in diesen Einrichtungen
intakt.
Das
ist das moderne Leben. Die Normen haben sich verflüssigt
und verhärtet. Zunehmend. Vielleicht sollte man einen
Spleen des 19. Jahrhunderts wieder aufgreifen und Schildkröten
an der Leine führen, um gegenüber der neubürgerlichen
Kreativitätsbetriebsamkeit anzuzeigen, welche Geschwindigkeit
man im eigenen Leben zu erreichen bereit ist. Aber hieße
das nicht, den Zirkel zu schließen?! Noch einmal in
den frühen Spuren abweichender kapitalistischer Subjektivierung
voranzuschreiten, in der allmählich sichtbar wurde,
wie die anti-konventionalistische Freisetzungsbewegung
des Kapitals ein Glücksversprechen vor sich herspült,
das bombastisch zerschellt, wenn es durch die doppelte
Logik von Verwertung und subjektivierender Disziplinierung
hindurchgeht?! Die Flaneure, die um 1840 an glitzernden
Leinen in ihren rosa behandschuhten Händen Schildkröten
in Passagen ausführten, um sich von ihnen das Tempo
vorschreiben zu lassen, bezeugten eine frühe Geste popkultureller
Besonderheit: die Einsamkeit der Schaulust und die aristokratische
Distinktion der letzten Dandies gegenüber der kommenden
Welt der Angestellten. Für Baudelaire verkörperte der
Dandy "einen revolutionären und oppositionellen
Charakter", der täglich seinen Willen unter Beweis
stellt, die "Trivialität zu bekämpfen". Seitdem
ist die Strategie der Coolness, der schönen Leere, die
für den Eindruck der (Waren-)Dinge offen ist, tausendfach
wiederaufgeführt und demokratisiert worden, zersplittert
und erfolgreich gescheitert. Aus der Ferne der Vergangenheit
zeigen sich die Klippen, an denen noch immer das Versprechen
populärkultureller Differenz strandet: Subjektivierungsdruck,
Selbstüberhöhung, antibürgerlicher Exzess, Ficken als
Überschreitungswunsch, Entsozialisierung der Revolte.
Nur
zu einem Punkt eine Anmerkung. Zur Transgression. 1848
tauchte Baudelaire elegant mit gelbem Patronengurt und
neuer Jagdflinte ausgerüstet auf den Pariser Barrikaden
auf und kämpfte für die Republik. Später schreibt er
über die Erfahrung der Revolte den seitdem typischen
entsozialisierten Überschreitungsquatsch: "Ich
sage, ,es lebe die Revolution!’, wie ich sagen würde
,es lebe die Zerstörung! es lebe die Buße! es lebe die
Züchtigung! es lebe der Tod!’ Ich würde nicht nur als
Opfer glücklich sein; auch den Henker zu spielen würde
mir nicht missfallen – um die Revolution von beiden
Seiten zu spüren. Wir haben alle republikanischen Geist
im Blut, wie wir die Syphilis in den Knochen haben."
Die Lust am Verrat und die Leidenschaft der Barrikade
tauchen bei Baudelaire nicht als soziale Möglichkeiten
auf, die mit anderen sozialen Möglichkeiten in einem
Verhältnis stehen – der Verrat mit dem (christlichen)
Dogma der Treue bis in den Tod, mit der Angst, moralisch
zu versagen; der Kick von Knarre und Barrikade mit der
beginnenden strategischen Rationalisierung proletarischer
Politik und dem Lustgewinn von Hass und kollektiver
Gewalt. Baudelaire vergegenständlicht und autonomisiert
seine Nähe zu Verrat, Hass und Tod. Schließlich schreibt
er sie sich selber zu, ein frühes Abfackeln antibürgerlicher
Exzessivität, ein Aufblähen des eigenen Ichs mit einem
gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, das seine Geste
bohemistischer Provokation erst ermöglicht hat. Baudelaire
braucht die "bürgerlichen Faselhänse", den
"öffentlichen Bedientenstand", die "sogenannten
anständigen Leute", denen gegenüber sich sein geschrienes
Ja! zur Zertrümmerung, zum Verbrechen, zur Prostitution
abhebt, seine Provo-Haltung ist negativ fixiert und
ein Genuss zweiter Ordnung, der sich von der Empörung
der anderen ernährt. In manchen leer laufenden Provokationen
Baudelaires, die heute noch in der Anti-PC-Nummer nachklingen,
erkennt Benjamin etwas, das später auch in der rechten
Revolte auftauchen wird, die Überaffirmation von Gewalt
und Zerstörung. Bis morgen auf den Marmorklippen.
Vielleicht
kann man sich zu einem weiteren Aspekt des Problems
Dissidenz-Kapital-Biopolitik vortasten, wenn man sich
Marx zuwendet und seiner Kritik an der Pariser Bohème,
soweit sie in die Klassenkämpfe in Frankreich verstrickt
war. Für Marx mangelte es ihr an strategischer Weitsicht,
an Organisationsfähigkeit des proletarischen Standpunkts.
Was waren sie schon, die AktivistInnen unter den Bohemiens?
Konspirateure, verschworene Verschwörer, die "eine
Revolution aus dem Stegreif" machen wollten, "ohne
die Bedingungen einer Revolution". Marx nervte
ihre schwankende, fast zufällige Tätigkeit, "ihr
regelloses Leben, dessen einzig fixe Stationen die Kneipen
der Weinhändler sind". Dagegen setzte er im "18ten
Brumaire des Louis Bonaparte" den unmöglichen Traum
eines Revolutionärs, der ganz bei sich, ganz bei seiner
Zeit, seiner Aufgabe, seiner Klasse ist, unermüdlich
selbstkritisch, selbstreflexiv, soldatisch – bis der
Moment gekommen ist, "bis die Situation geschaffen
ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse
selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!". Diese Arbeitsteilung
zwischen Bohème und Kampf, zwischen lustig und ernst,
Provokation und Politik reproduziert bis heute die unendlichen
Projektionen zwischen einer Reduktion des Stils und
einer Reduktion der POLITIK-POLITIK, die kein Aussetzen
kennen will, kein Verschieben, kein Verlieren, kein
Es-Lassen, Es-auch-nicht-Wissen, Lieber-einen-saufen-Gehen.
Dafür labern die anderen unendlich weiter von Glamour,
Sexiness, Coolsein, das sie in Verhältnissen aktualisieren,
die unerträglich sind.
Agamben hat in "Homo sacer" weiterverfolgt, was sich bei Baudelaire leise und von ferne an Überschreitungsschwachsinn ankündigte und worüber Benjamin mit den Mitgliedern der Acéphale-Gruppe stritt, zu der Bataille, Leiris, Klossowski, Caillois gehörten, die sich mit der dunklen Aura des geheimen Zusammenschlusses umgaben: die Vorstellung individueller Souveränität, mit der ein extremes Leben geheiligt ist, das sich dem Exzess von sexuellen, von Todes- und Gewalterfahrungen aussetzt. Benjamin drängte die Acéphale-Gruppe – Klossowski hatte schließlich seinen "Kunstwerk"-Aufsatz übersetzt –, die deutsche Erfahrung ernst zu nehmen, den Todeskitsch der Nazis, und vorsichtig mit der Vorstellung einer heiligen Souveränität des Exzesses zu sein: "Ihr arbeitet für den Faschismus". Agamben spricht von einer interessanten Verwechslung: Die Acéphale-Gruppe, und vor allem Bataille, hätten die Verbindung zwischen Souveränität und einem Leben, das einem überschreitenden Extrem ausgesetzt sei, sichtbar gemacht. Irrtümlicherweise hätten sie als radikal-individuell begriffen und ästhetisiert, was den Kern europäischer Bio-Macht ausmache: Jene Mechanismen, mit denen aus mobilisierten Lebensformen ein nacktes Leben ausgeschnitten werde: kranke, irre, kriminelle, fremde Körper – internierbares Material.
Seit 1968 ist die geschlossene Spießerumgebung aufgesprengt, die Baudelaire noch die Kulisse einer kommenden Angestellten-Welt bot. Der militante Aufbruch von 1966/67 hat die Lebensformen vermehrt, Abweichungen durchgesetzt. Das damit verbundene universale Projekt Sozialismus ist aus verschiedenen Gründen ausgefallen. Das so entstandene, nennen wir es mit einem Monstersubstantiv, postfordistische Regime eines imperialen biopolitischen Kapitalismus mobilisiert viele historisch bekannte Verwertungs- und Disziplinierungsmechanismen gleichzeitig.
Und jetzt? Vielleicht fürs erste mehr Liebe zum Melodramatischen entwickeln. Weil es von der Unfähigkeit handelt, in die Katastrophe einzugreifen. Das wäre doch auch einmal eine Leidenschaft, mit der sich die Linke beschäftigen könnte. Ich wende mich also an die Linke: Wie reproduziert sich die Macht in den Praktiken der Befreiung? Spannendes Thema. Das Melodram arbeitet mit dem großen Gefühl des ES-IST-ZU-SPÄT, die Wendung war möglich, aber nun ist die Gelegenheit vorbei, Musik, großes melancholisches Gefühl des Verlusts, der weder Konsequenzen zeitigt noch betrauert wird, sondern verinnerlicht. Immer wieder die Slow-motion-Abfahrt: "If only you could have recognized what was always yours." Obwohl die Wendung möglich gewesen wäre, nahm das Unglück, die gesellschaftliche Trennung, der Unfall, der Tod, die Niederträchtigkeit ihren Lauf. Und gleichzeitig verspricht das Melodram den plötzlichen Umschwung, das Glück, dass mit einem Schlag eine andere Zeit eintreten könnte, ein anderes Schicksal. In diesem Sinne ist das Melodram messianisch. Genauso wie es kapitalistisch ist, indem es das große Versprechen verdealt: Du kannst es schaffen, aber nein, doch nicht. Und dann fließen die Tränen zum Abspann des Melodrams, um sich mit gesellschaftlicher Passivität, mit Leiden, mit Handlungsunfähigkeit zu versöhnen. Sie fließen aber auch aus dem leidenschaftlichen Gefühl, die Verbindung zwischen Alltagsleben und Macht zu spüren. Das ist die Geburt der weinenden Revolutionärin. Hier beginnt Fassbinders Erinnerungsvermögen, der großes Gefühl, Enttäuschung, Verrat und Sozialkritik verschränken wollte. Ein bisschen manisch und repetitiv. Zugegeben. Beginn des Screenings. Tränen. Schluss (Anfang).
[aus: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere, o.k books 3/04, Wien, Bozen: Folio 2004]