03 2004
Krisenalltag im Empire
Nach 
                          Wellen der Euphorie und der Kritik in den "Roaring 
                          Nineties" rutscht der Diskurs über die Neue Selbständigkeit 
                          in der aktuellen Wirtschaftskrise zunehmend in Depression 
                          ab. 
                          Die 90er 
                          waren eine zwiespältige Zeit für KünstlerInnen: Während 
                          die Verdienstchancen im traditionellen Kunstmarkt eher 
                          flau waren, gab es in der Wirtschaftswelt einen massiven 
                          Kreativitäts-Hype. Dieser Boom brachte einerseits Chance 
                          auf Einkommen in den ausufernden Design- und Netzbereichen. 
                          Andererseits wurde ein Lebensmodell, das bislang KünstlerInnen 
                          von der Welt der Angestellten unterschied, zum Leitbild 
                          für die Arbeitswelt der New Economy: formale Selbständigkeit 
                          und Selbstverantwortlichkeit, ungeregelte Arbeit und 
                          Einkommen, Verschwimmen von Arbeit und Freizeit, Vordringen 
                          kreativer Komponenten in der Tätigkeit, Projektorientierung. 
                          
                          Der Anstieg 
                          der – in Bezug auf das im Fordismus als typisch geltende 
                          Angestellten-Normalarbeitsverhältnis – als "atypisch" 
                          bezeichneten Arbeitsverhältnisse war zwar nichts vollkommen 
                          Neues. Doch dass flexibilisiertes Arbeiten nun nicht 
                          mehr nur Frauen und MigrantInnen in untergeordneten 
                          Diensten, sondern zunehmend auch Vertreter der männlichen, 
                          inländischen, gebildeten Schichten traf, machte das 
                          Phänomen zu einem Thema, dem hohe publizistische Aufmerksamkeit 
                          zuteil wurde.  
                          Ihre augenfälligste 
                          Dynamik entwickelte die neue Selbständigkeit in Segmenten 
                          der Kreativität und Kommunikation, wo die Teilnahme 
                          an Diskursen über die eigene Identität und Rolle im 
                          weiteren Sinn zum Job gehört. Dies mag die Tatsache 
                          erklären, dass sich um die neue Arbeitswelt der New 
                          Economy eine beachtliche Literatur gruppierte. 
                          
                          Die Literatur 
                          zum Phänomen der "neuen Selbständigen" ließe 
                          sich in vier Gruppen einteilen, die alle ihre Höhepunkte 
                          in verschiedenen Diskursphasen kannten: Beginnend mit 
                          den euphorischen IdeologInnen, wurden diese schnell 
                          mit KritikerInnen konfrontiert. Auf diese folgten jene, 
                          die dem Phänomen eine kritische Wendung gaben. Den vorläufigen 
                          Abschluss bildet eine die aktuelle Krise begleitende 
                          Depressionsliteratur. Doch beginnen wir der Reihe nach. 
                           
Euphorische Ideologie
In 
                          Deutschland hat die "Kommission für Zukunftsfragen" 
                          der Freistaaten Bayern und Sachsen, deren Mitglied u.a. 
                          der Soziologe Ulrich Beck war, 1997 eine viel diskutierte 
                          Vision zur Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems in Deutschland 
                          verkündet: Das Leitbild des Arbeitnehmers sei aus dem 
                          Bewusstsein zu verabschieden. Vielmehr sei das Leitbild 
                          der Zukunft "der Mensch als Unternehmer seiner 
                          Arbeitskraft und Daseinsvorsorge". Mit euphorischer 
                          Begleitrhetorik wird das autarke, selbstverantwortliche 
                          Individuum beschworen, das als Ergebnis des radikalen 
                          Rückzugs des Staates aus der Gestaltung sozialer und 
                          regulatorischer Rahmenbedingungen des privaten Wirtschaftens 
                          entstehen soll. Mit der in dem Arbeitsmarkt-Reformplan 
                          der Hartz-Kommission vorgeschlagenen "Ich AG" 
                          hat es diese Vision in Deutschland zuletzt rasant nahe 
                          an die reale Umsetzung geschafft. 
                          Im Kernland 
                          der New Economy jenseits des Atlantiks tönte es in den 
                          90er Jahren ähnlich: Den Höhepunkt bildet Daniel Pinks 
                          "Free Agent nation: How America's new independent 
                          workers are transforming the way we live" (2001). 
                          Pink malt die Vision einer Nation der FreiberuflerInnen, 
                          bei denen die Flucht aus der Knechtschaft der großen 
                          Unternehmen mit Selbstverwirklichung, Freiheit und Maximierung 
                          des Einkommens verbunden ist.  
Kritik
Es 
                          bedarf keiner großen Anstrengung, um dieses Bild zu 
                          kritisieren. Die kritischen Analysen des FreelancerInnen-Daseins 
                          stellen den optimistischen Visionen empirische Evidenz 
                          entgegen, um sie als Ideologie zu entlarven. Ein Blick 
                          auf die sozialen Verhältnisse lässt von den Verheißungen 
                          der euphorischen Literatur meist wenig übrig. Die zentralen 
                          Studien für Österreich kommen aus einem gewerkschaftsnahen 
                          Umfeld:  Eva 
                          Angerler/Claudia Kral-Bast: "Typische Atypische" 
                          (1998), Fiftitu%: "(A)typisch Frau – zwischen allen 
                          Stühlen" (2002), Gerhard Gstöttner-Hofer et al.: 
                          "Was ist morgen noch normal" (1997), "Kurswechsel" 
                          2/2000: "Leitbild Unternehmer", Emmerich Talos: 
                          "Atypische Beschäftigung" (1999). 
                          Die Ergebnisse: 
                          FreelancerInnen haben ihren Status meist nicht selbst 
                          gewählt, sie sind oft von wenigen großen AuftraggeberInnen 
                          abhängig, die wirtschaftliche Lage ist eher prekär als 
                          selbstbestimmt, die Vielfalt der Tätigkeiten (von eigentlichem 
                          Arbeitsinhalt über Buchhaltung zu manuellen Diensten) 
                          führt zu Dauerüberforderung, das Arbeiten zu Hause zu 
                          Entgrenzung der Arbeitsstunden, das Verschwimmen von 
                          Arbeit und Freizeit zu Kolonisierung der letzten Freiräume 
                          mit Arbeit und Verwertungsdenken. Die angebliche neue 
                          Freiheit ist weitgehend ein Ergebnis der Flexibilisierungsstrategien 
                          der UnternehmerInnenschaft, denen die Individuen auf 
                          dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind.  
                          Neben diesen 
                          Analysen der tatsächlichen ökonomischen Lage entsteht 
                          auch eine Literatur, die sich kritisch mit den gesellschaftspolitischen 
                          Konsequenzen der neuen Verhältnisse auseinandersetzt. 
                          In diesen Studien werden in Hinblick auf Gesellschaftlichkeit 
                          negative Konsequenzen des Dauerdrucks prophezeit, der 
                          durch die permanente Unsicherheit und den Zwang, sich 
                          beständig nach Verwertungsmöglichkeiten umzusehen, verursacht 
                          wird.  
                          Richard 
                          Sennett schreibt in "Der flexible Mensch" 
                          (1998) eine Geschichte des Verfalls: Das Ende der dauerhaften 
                          Anstellung unterminiert Werte wie Vertrauen und Gemeinschaftsgeist. 
                          Arbeit als Identitätsstifterin fällt aus, deshalb verlagert 
                          sich das Zusammengehörigkeitsgefühl auf lokale und/oder 
                          nationale Gemeinschaften, Nationalismus ist somit die 
                          zunehmende Reaktion auf die ökonomische Unsicherheit, 
                          so Sennett. 
                          Auch Sergio 
                          Bologna führt den zunehmenden Lokalpatriotismus der 
                          Lega Nord auf die Renaissance des KleinunternehmerInnentums 
                          zurück, die in Norditalien die von Arbeitskämpfen heimgesuchten 
                          Fabriken der 70er Jahre abgelöst hat. Nachdem die neuen 
                          Selbständigen formal keinen Chef mehr haben, gegen den 
                          sie sich wehren können, wird der Sozial- und Steuerstaat 
                          zum Hauptfeind, so Bologna (Zusammenfassung in "Kurswechsel" 
                          2/2000). 
                          Brian Holmes 
                          schließt daran aus einer anderen Richtung an, indem 
                          er Deleuzes "Kontrollgesellschaft"-These den 
                          Analysen des "autoritären Charakters" von 
                          Adorno / Horkheimer gegenüberstellt und daraus eine 
                          Analyse des "flexiblen Charakters" macht, 
                          der im Postfordismus den für den Fordismus typischen 
                          autoritären Charakter abgelöst habe (Artikel gepostet 
                          auf der *nettime*-Mailinglist am 5. 1. 2002). Dieser 
                          ist nun im Gegensatz zur autoritären Persönlichkeit 
                          nicht von seinen Wünschen, sondern von der politischen 
                          Gesellschaft entfremdet, eine neue Form der sozialen 
                          Kontrolle. Auch Paolo Virno hat dessen Anfälligkeit 
                          für Zynismus unter politischen Gesichtspunkten analysiert. 
                          
                          In *Der 
                          neue Geist des Kapitalismus* (2003) untersuchen Luc 
                          Boltanski und Eve Chiapello massenhaft Managementliteratur 
                          der 90er Jahre. Darin finden sie auffallend viele Anklänge 
                          an die Freiheitsversprechen der 60er Jahre. Die Forderungen 
                          nach Autonomie, Kreativität und Selbstbestimmung, die 
                          die "künstlerische" Kritik der 68er gegenüber 
                          dem ökonomischen Establishment in Anschlag gebracht 
                          hatte, finden sie dort affirmiert, allerdings pro-kapitalistisch 
                          gewendet, in neue Anforderungen von Seiten der Unternehmen 
                          an ihre MitarbeiterInnen und AuftragnehmerInnen transformiert. 
                          Dadurch werden neue Potenziale und Persönlichkeitsaspekte 
                          erschlossen und im Dienste der ökonomischen Verwertung 
                          mobilisiert, die dem Kapital bislang verschlossen geblieben 
                          waren (weil dem Bereich Freizeit zugeordnet). Ausbeutung 
                          finde heute nicht mehr durch Anstellung, sondern durch 
                          Dominanz von Netzwerken statt. Die Forderung nach mehr 
                          Autonomie sei vereinnahmt, nun fehle eine "soziale" 
                          Kritik, die in diesem Umfeld Verteilungsprobleme thematisiere, 
                          so Boltanski und Chiapello.   
Kritische Wendungen
Doch 
                          was folgt daraus? Während viele KritikerInnen die Flexibilisierung 
                          der Arbeitsverhältnisse vor dem Hintergrund einer postulierten 
                          Verantwortung von Staat und Kapital für die ökonomische 
                          Sicherheit der arbeitenden Menschen kritisieren, betont 
                          etwa Nikolas Rose (in *Kurswechsel* 2/2000), dass das 
                          "unternehmerische Selbst" eine weitgehend 
                          unhintergehbare zeitgenössische Vorstellung sei, hinter 
                          die es kein Zurück mehr gebe, und den Ausgangspunkt 
                          aller politischer Richtungsvorstellungen bilden müsse. 
                          Auf Basis dieser Diagnose gab es analytische Versuche, 
                          den neuen Verhältnissen eine kritische Wendung zu geben. 
                          
                          Einen verhaltenen 
                          Versuch in diese Richtung unternimmt Richard Florida, 
                          der aus dem "Aufstieg der kreativen Klasse" 
                          mit ihren Freiheitsbedürfnissen ein Plädoyer für gesellschaftspolitischen 
                          Liberalismus in der Stadtpolitik macht (*The rise of 
                          the creative class*, 2002). Das "kreative Ethos" 
                          bedürfe eines Umfelds von Toleranz, kultureller Vielfalt 
                          und Ereignisfülle. Eine permissive Gesellschaftspolitik 
                          und ein gewisses Ausmaß an sozialer Sicherheit sei somit 
                          vonnöten, um die Ansiedlung und das Gedeihen jener "kreativen 
                          Klasse" zu fördern, die zunehmend die Hauptquelle 
                          wirtschaftlicher Prosperität darstellt, so Florida. 
                          
                          Werden 
                          die Bedürfnisse der kreativen FreelancerInnen bei Florida 
                          zum Argument für Sozialliberalismus, lautet der Einsatz 
                          bei anderen AutorInnen gar Kommunismus. Maurizio Lazzarato 
                          sieht in der "immateriellen Arbeit" die Hauptquelle 
                          von Mehrwert in einer Zeit, in der die Produktion von 
                          Bedeutung (über Werbung, Design und Kommunikation) die 
                          Produktion von materiellen Gütern zunehmend dominiere 
                          (*Umherschweifende Produzenten*, 1998). Die mit dieser 
                          Produktionsarbeit befassten immateriellen ArbeiterInnen, 
                          deren Arbeitsinhalt die Modellierung von gesellschaftlichen 
                          Meinungen, Stimmungen, Lebenshaltungen sei, seien dadurch 
                          unmittelbar politisch tätig. Das Ökonomische und das 
                          Politische verschwimmen. Kreativität wird zur Masseneigenschaft, 
                          und damit auch die Besonderheiten und Probleme, das 
                          Kreative in eine Ware zu verwandeln. Die in der New 
                          Economy verstärkt auftauchenden Probleme, einen Preis 
                          für kreative Produkte zu finden und durchzusetzen, werden 
                          epidemisch, transformieren die gesellschaftlichen Verhältnisse 
                          und verlangen zumindest nach einem allgemeinen Grundeinkommen. 
                          
                          Diesen 
                          Gedanken nimmt Antonio Negri in seinen Arbeiten mit 
                          Michael Hardt auf. Die immaterielle Arbeit mit ihren 
                          immanenten Eigenschaften – Autonomie, Kreativität und 
                          Selbstorganisation in Gruppen – sei im Grunde eine Verwirklichung 
                          kommunistischer Vergesellschaftungsformen, der das kapitalistische 
                          Kommando nur noch äußerlich sei. Zwar habe der Kapitalismus 
                          alle Lebensbereiche durchdrungen, aber nur um den Preis, 
                          dass er auch die widerständigen, kreativen Fähigkeiten 
                          der "Multitude" ins Herz seiner Funktionsweise 
                          aufgenommen habe und dadurch dieser die Gelegenheit 
                          gegeben habe, sich seiner zu entledigen.  
                          Die kapitalistischen 
                          Versprechen der Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung 
                          durch neue Arbeitsformen werden hier nicht nur ernst 
                          genommen, sondern radikalisiert und gegen die Verhältnisse 
                          selbst gewendet. 
                          Im Jahr 
                          2000, als die New Economy ihren Höhepunkt erreichte, 
                          und die kapitalistische Globalisierung im Rahmen von 
                          Demonstrationen und Protesten gegen Treffen ihrer Eliten 
                          von wachsender Massenkritik begleitet wurde, stellte 
                          Hardt / Negris *Empire* eine Reihe von Entwicklungen 
                          in einen Zusammenhang und verband sie mit einer kritischen 
                          Perspektive: Globalisierung der Ökonomie und der Elitenpolitik, 
                          New Economy und neue Arbeitsverhältnisse, Migration 
                          und Widerstand etc. 
                          Dass "Empire" 
                          vor allem in den kreativen Segmenten des New Economy-Proletariats 
                          Furore machte, hat natürlich auch damit zu tun, dass 
                          das Buch im Gegensatz zu vielen Analysen die Hoffnungen 
                          auf Revolution nicht ganz woanders (in der IndustriearbeiterInnenschaft, 
                          im globalen Süden etc.) verortet, sondern genau bei 
                          den Lesenden selbst. Dies wurde bei "Empire" 
                          von KritikerInnen als Liebdienerei bei Eliten kritisiert 
                          (vgl. MALMOE 11), während es bei den VertreterInnen 
                          der kreativen Klasse allerorts für Begeisterung sorgte. 
                          Jene erfuhren etwas über sich selbst und wurden zum 
                          Inbegriff der Zeitgenossenschaft erklärt – im Gegensatz 
                          zu den Lifestyle-Magazinen aber nicht als bloße Coolness- 
                          und Shopping-Avantgarde, sondern als AkteurInnen gesellschaftlicher 
                          Emanzipation.  
                          Dass nach 
                          dem 11. September 2001 die Rezeptionseuphorie zusehends 
                          abflachte, hat mit zwei externen Entwicklungen zu tun: 
                          Zum einen verblasste die Plausibilität der weltpolitischen 
                          These vom "Empire" angesichts des Schwenks 
                          der US-amerikanischen Außenpolitik und des verstärkten 
                          Aufbrechens von Konkurrenz unter den großen AkteurInnen 
                          der Weltpolitik. Zum anderen platzte die New Economy-Blase. 
                          Börsen- und Konjunkturflaute begruben die Hoffnungen 
                          auf eine anhaltende rasante Expansion in den Kernbereichen 
                          der immateriellen Arbeit und zerstörten bis auf weiteres 
                          die Aussicht auf eine Transformation gesellschaftlicher 
                          Verhältnisse durch die neue Wirtschaftsweise.  
                           
Depression und Bekenntnis
Die 
                          lang anhaltende Phase der Prosperität in den "Roaring 
                          Nineties" (so der Titel von zwei wirtschaftlichen 
                          Rückblicken auf diese Jahre, von Joseph Stiglitz und 
                          Alan Krueger / Robert Solow) wurde zur Dekadenwende 
                          abgelöst von einer ebenso ausdauernden Krisenperiode. 
                          Es ist kein Zufall, dass zu Beginn des neuen Jahrtausends 
                          die einschlägige Literatur zunehmend von Erfahrungsberichten 
                          dominiert wird, in denen jede Verklärung der Verhältnisse 
                          einer Sichtweise Platz macht, die zusehends vom Zynismus 
                          in die Depression gleitet. 
                          In *Les 
                          intellos précaires* (2001) zeichnen Anne und Marine 
                          Rambach das Bild einer Generation, die nach dem Universitätsabschluss 
                          statt der früher üblichen stabilen Karrieren nur die 
                          Scheinselbständigkeit erwartet – im Journalismus, im 
                          Kulturbetrieb, bei Film und Fernsehen, im Forschungswesen 
                          und anderen Kreativbranchen. Ihr Leben ist vom Auseinanderklaffen 
                          zwischen ihrem hohen sozialen Status und ihrer miserablen 
                          materiellen Ausstattung gekennzeichnet. Die neoliberalen 
                          Verheißungen scheinen nach einer gewissen Zeit gegen 
                          die Realität wenig ausrichten zu können. In Gesprächen 
                          mit Betroffenen erfahren die Autorinnen von Depressionen, 
                          Zukunfts- und Versagensängsten, Gefühlen der Erniedrigung 
                          als ständigem Wegbegleiter im Alltag. 
                          Die Aufmerksamkeit, 
                          die dem in Frankreich bislang Verschwiegenen im Gefolge 
                          dieses Buches entgegenbracht wurde, erhielt noch eine 
                          Verstärkung im Zuge der jüngsten Streiks der Intermittents, 
                          der freien KulturarbeiterInnen, die sich mit Einschränkungen 
                          ihrer Arbeitslosenunterstützung konfrontiert sahen. 
                          Die anschließende Diskussion um die Verbreitung von 
                          Scheinselbständigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen 
                          für die gesamte Ökonomie insbesondere im Kreativbereich, 
                          hat nicht zuletzt eine Welle von Erfahrungs- und Bekenntnisliteratur 
                          hervorgebracht – Bücher wie Daniel Martinez' *Carnets 
                          d'un intérimaire* (2003), der über die Erniedrigungen 
                          des PraktikantInnenwesens berichtet, und Abdel Mabroukis 
                          *Génération précaire* (2003). 
                          Annette 
                          Weisser und Ingo Vetter haben in ihren, die Form von 
                          Selbsterfahrungs-Workshops parodierenden und gleichzeitig 
                          aufnehmenden Veranstaltungen im Kunstkontext neue Selbständige 
                          zusammengebracht, um gemeinsam über ihre Erfahrungen 
                          zu sprechen und Möglichkeiten auszuloten, sich gegen 
                          die unzumutbaren Verhältnisse zu organisieren. Die in 
                          einem Video und Katalog (*NameGame*, 2003) dokumentierten 
                          Ergebnisse lassen einen hohen Reflexionsgrad, die Allgemeinheit 
                          von Problemen und die praktischen Schwierigkeiten für 
                          politische Selbstorganisation (Zeitmangel, Interessenkonflikte) 
                          zutage treten. 
                          In Graz 
                          sind Vetter/Weisser auf die Soziologin Elisabeth Katschnig-Fasch 
                          gestoßen, die soeben die Ergebnisse eines Forschungsprojekts 
                          in Buchform veröffentlicht hat, das mit einem Bourdieuschen 
                          Ansatz dem alltäglichen Leiden an den Verhältnissen 
                          des flexibilisierten Arbeitsmarkts nachgeht (*Das ganz 
                          alltägliche Elend*, 2003). In einem Gespräch mit Vetter/Weisser 
                          berichtet Katschnig-Fasch von der Überraschung, dass 
                          es – obwohl doch zurzeit eines der größten Tabus – kaum 
                          Schwierigkeiten gab, Leute zu finden, die über ihr eigenes 
                          Elend sprechen wollten, ja vielfach sogar Dankbarkeit 
                          bestand, endlich einmal darüber sprechen zu können. 
                          Die Prekarisierten leiden an Sinn- und Orientierungsverlust, 
                          Mangel an Anerkennung und reagieren vielfach mit Schuldgefühlen, 
                          so die Erkenntnis der Forschungsgruppe. Auch die durchaus 
                          geschlechtsspefizische Betroffenheit tritt zutage.  
                          
                          In seinem 
                          Buch *Minusvisionen*, einem Sammelband mit Interviews 
                          von gescheiterten Start-up-GründerInnen, zeichnet Ingo 
                          Niermann (2003) das Bild der New Economy als Absorptionsmaschine 
                          für Träume. Die bei Niermann zu Wort kommenden JungunternehmerInnen, 
                          die mit Galerien, Fastfood-Ketten, Modelabels und Online-Plattformen 
                          scheiterten, werden weitgehend als SpielerInnen präsentiert, 
                          die Gelegenheiten, die die New Economy mit ihren Finanzierungsmöglichkeiten 
                          ihnen bot, für sich zu nutzen versuchten. Und die den 
                          Business-Aspekt dabei nie wirklich ernst genommen hatten 
                          bzw. davon überfordert waren, als er sich ihnen schließlich 
                          aufzwang. 
                          *Minusvisionen* 
                          ist die deutsche Variante einer Literatur, die in den 
                          USA in den letzten Jahren boomt – Erfahrungsberichte 
                          von Leuten, die der dot.com-Boom unter sich begraben 
                          hat. Mit *Netslaves 2.0* (2003) etwa haben Bill Lessard 
                          und Co. den Nachfolgeband eines sehr erfolgreichen Internet- 
                          und Buchprojekts vorgelegt, das schon früh der Artikulation 
                          von Unmut über unzumutbare Arbeitsbedingungen im Internet-Goldrausch 
                          eine Plattform bot. Hier wird deutlich, dass auch in 
                          den schillernd-profitablen Auslagebereichen der New 
                          Economy, der Netzindustrie, die Arbeitsverhältnisse 
                          alles andere als glamourös sind. 
                          In seiner 
                          Besprechung von Geert Lovinks Rückblick auf die Netzkultur 
                          der 90er Jahre nach dem Ende des dot.com-Booms (*Dark 
                          Fiber*, 2002) spricht Bifo (Franco Berardi), ein Protagonist 
                          aus dem Negri-Umfeld der postoperaistischen Theorie, 
                          von einem Klassenkampf zwischen kognitiven SelbstunternehmerInnen 
                          und den großen Monopolen, der jetzt mit einer Kolonisierung 
                          des Internet durch letztere geendet habe (vgl. MALMOE 
                          8). Die Versprechungen der New Economy seien gescheitert, 
                          das Modell des vollkommen freien Markts habe sich als 
                          praktische und theoretische Lüge erwiesen. Diejenigen 
                          der neuen Selbständigen, die nicht vom militärisch-industriellen 
                          Komplex aufgesogen worden seien, seien jetzt arbeitslos 
                          und desillusioniert. Auf kultureller Ebene sieht Bifo 
                          deshalb die Bedingungen für die Ausbildung eines sozialen 
                          Bewusstseins des "Kognitariats" vorhanden, 
                          alle neoliberalen Illusionen zerstört, die Bahn frei 
                          für einen nichtkommerziellen Prozess der autonomen Selbstorganisation 
                          der kognitiven Arbeit, der Errichtung von vom Kapital 
                          unabhängigen Institutionen. Die Depression als Ausgangspunkt 
                          für einen neuen, emanzipatorischen Anfang? Vorerst gibt 
                          es für einen solchen Optimismus wenig Anhaltspunkte. 
                          Aber zumindest einen nachhaltigen Realismus hat die 
                          anhaltende Krise bei den Betroffenen durchgesetzt. 
                          
                          Dass etwa 
                          das Zentralorgan des österreichischen "Volkskapitalismus", 
                          die Monatszeitschrift *Gewinn* das Jahr 2004 mit einer 
                          Titelgeschichte über "Geld verdienen, ohne angestellt 
                          zu sein" eröffnet, ist dafür ein Zeichen. *Gewinn* 
                          bemerkt, dass sich das Phänomen atypischer Arbeitsverhältnisse 
                          "mittlerweile quer durch alle Berufsgruppen" 
                          zieht, und "hunderttausende betroffen" seien. 
                          Dass dem aber keine einpeitscherische Werbung für die 
                          neue Selbständigkeit folgt, sondern das Phänomen auf 
                          Ausgliederungen der Unternehmen in schlechter Wirtschaftslage 
                          zurückgeführt wird, die unübersichtliche Gesetzeslage 
                          beklagt, auf alle Nachteile hingewiesen und eine Gewerkschafterin 
                          zur Analyse das Wort übergeben wird, ist ein deutlicher 
                          Hinweis darauf, dass die Zeit der großen Euphorie und 
                          Versprechungen offensichtlich vorerst vorbei ist. Die 
                          Realität der Krise lässt auch in den notorischsten Ideologiefabriken 
                          für Beschönigungen wenig Überlebensraum.  
                          
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[aus: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere, o.k books 3/04, Wien, Bozen: Folio 2004]
